Abschied von der Heimat - Eisenbahnerbeobachtungen zu Auswanderern
Von Eduard Holzer, Wörgl, 1933

Wer als Eisenbahner unmittelbar mit dem reisenden Publikum in Berührung ist, hat genug Gelegenheit, Beobachtungen zu machen, wie Ankommende von den Angehörigen empfangen werden und Abreisende Abschied nehmen.

Anders ist es bei Touristenausflügen, als wenn Leute sich vor langer Reise in Ungewisses Schicksal trennen müssen. Hätten sich in der Kriegszeit die Abschiedstränen in Stein verwandelt, so könnte man aus solchem Kristall ganze Berge aufbauen.

Wieder erlebte ich ein hartes Abschiednehmen am Wörgler Bahnhof. Der frühere Minister Thaler aus der Wildschönau und etwa 70 Landsleute wanderten aus, um im fernen Brasilien in harter Kulturarbeit ein neues Tirol zu schaffen. Es war am 8. September 1933, als sie die Heimat und ihre Angehörigen verließen. Wer sich um die Mitternachtsstunde zur Bahn begab, konnte beobachten, wie unruhig es in der Bahnhofstraße war. Fahrräder, Motorräder und Autos waren in Bewegung, alles, was Beine hatte, Angehörige und Neugierige, versammelte sich am Bahnhof. Es gab fröhliche und weinende Gesichter. Die einen sahen alles pessimistisch, die anderen optimistisch — wer wird dann schließlich enttäuscht sein?

Der fahrplanmäßig um 1.08 Uhr eintreffende Zug Nr. 267, der nur eine Minute Aufenthalt nehmen sollte, musste diesmal eine Ausnahme machen und warten, bis alles untergebracht war. Der hiezu bestimmte Wagen Nr. 30.603 mit dem italienischen Kennzeichen F.S. war dunkel, weil die Beleuchtung nicht funktionierte. Doch war das Gepäck bald verstaut. Die Mitfahrenden nahmen an den Fenstern Platz, soweit Raum vorhanden war. Es gab noch ein herzliches Grüßen, Umarmen und Händedrücken, während ein Quartett aus Wörgl schöne Lieder, wie: „Aus den Bergen muss ich scheiden", und noch anderes zum besten gab. Um 1.29 Uhr gab Fahrdienstleiter Ebner das Zeichen zur Abfahrt. Langsam bewegte sich der Zug in westlicher Richtung und verschwand bald im Dunkel der Nacht.

So vorsichtig und ruhig sich der Zug in Bewegung setzte, so unruhig wurde es unter den Zurückgebliebenen. Alle Hände winkten nochmals zu den letzten Grüßen und Wünschen, und das aufrichtige Leid des Abschieds drang zum Herzen.

Was die Tiroler bewog, im fremden Erdteil eine neue Heimat zu gründen, ist wohl jedem bekannt. Jungfräulicher Urwaldboden lockte sie über das Meer. Uns aber liegt der Wunsch am Herzen, sie mögen ihre Heimat und ihre Berge nicht vergessen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Religion und Heimatliebe beibehalten und kommenden Geschlechtern als Erbgut treu bewahren!

Anmerkung der Schriftleitung [1933]: Der Verfasser vorstehenden Aufsatzes ist einer der treuesten Leser und Abonnenten der „Tiroler Heimatblätter". Er hat es auch übernommen, den Auswanderern unser Blatt regelmäßig zukommen zu lassen, um die Verbindung mit der alten Heimat aufrecht zu erhalten.

Quelle: Eduard Holzer, Abschied von der Heimat, in: Tiroler Heimatblätter, Zeitschrift für Geschichte, Natur- und Volkskunde, 11. Jahrgang, Heft 10, Oktober 1933, S. 361.
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