LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
BAUERNTHEATER
Um aber unser Seebruck nicht ganz zu vergessen, so war es im Wirtshause
doch nicht recht geheuer - es machte sich vielmehr eine Stimmung bemerklich,
als wenn alles am Vorabend großer Ereignisse stünde. Öfter
vernahm man unerklärliche Hammerschläge, die von oben im Hause
kamen, zuweilen sah man eine seidene Schärpe, einen goldpapiernen
Helm, einmal sogar eine hölzerne Hirschkuh vorübertragen. Als
man nach dem Grunde dieser seltsamen Erscheinungen fragte, erhielt man
die Erläuterung: die Bauern von Seebruck würden am nächsten
Abend Theater spielen. Welche Überraschung!
Der erste Anstoß zu diesem Unternehmen scheint von der königlichen
Gendarmerie ausgegangen zu sein. Im Nebenhause des Gasthofes ist nämlich
ein kleines Lager aufgeschlagen, in welchem drei Gendarmen friedlich beisammen
leben. Sie erscheinen in ihren Freistunden auch im Hauptgebäude und
wissen sich durch Dienstwilligkeit und kleine Aushilfen in Haus und Hof
und Stall sehr beliebt zu machen. Einer davon ist "der Kommandant", ein
gebildeter Krieger, welcher im Königreich schon viel herumgefahren
und den Landleuten an Weltkenntnis weit überlegen ist. Dieser zuerst
erfaßte, so scheint es, nach unsers Schillers Vorgang den Gedanken,
die Bühne als Bildungsanstalt zu benützen und so auf die ästhetische
Erziehung der Seebrucker zu wirken. In kurzer Zeit waren auch die nötigen
Talente gewonnen, und es fehlte bald nichts mehr als das Stück. Nun
ging aber in der Gegend schon lange ein Gerücht, daß ein solches
in dem benachbarten Höselwang zu finden sei, und so machten sich
denn etliche von den Seebruckern auf und holten es im Triumph herüber.
Aber auch die hohe Obrigkeit mußte dem Vorhaben ihre Weihe geben,
und da man den Herrn Landrichter von Trostberg zu Seon im Bade wußte,
so zog eine Deputation an diesen Ort und brachte mündlich ihre Bitte
vor. Der gemütliche Landrichter hörte sie lächelnd an,
fragte nur, was etwa der geistliche Herr, des Dorfes Seelenhirt, dazu
sage, und als die angehenden Mimen berichteten, dieser habe das Stück
schon durchgelesen und nichts Anstößiges darin gefunden, so
sprach der kunstliebende Badegast: "Geht nur hin und spielt; wir werden
eurer Vorstellung selbst beiwohnen!"
Wie? Was war das? ruft hier vielleicht ein ergrauter Registratur oder
Kanzleidirigent, der an die siebenunddreißig Bände der Döllingerschen
Verordnungssammlung denkt - welches Benehmen in der Stellung eines königlich
bayerischen Landrichters! Und alles so mündlich wie in der grauesten
Urzeit, in den Tagen der Schachtelhalme und der Ichthyosaurier! Wo bleibt
da schriftliche Instruktion, Protokoll, abweisender Beschluß und
Publikation desselben, Rekurs, Aktenvorlage, Regierungsentschließung,
die durch ihre Weisheit imponiert, Eröffnung derselben, Nullitätsbeschwerde
und Deservitenabstrich! Wo bleibt die Strafe wegen ungebührlicher
Schreibart? Welcher Schlendrian! Ach wie kahl wird nun die Welt, wie unerquicklich
diese Übergangsperiode, bis einmal die Buchstabenschrift wieder in
ihre geheiligten Rechte eingesetzt ist! Und wie leidet einstweilen der
Dienst und das Amt und die Regierung und der Staat und das ganze königliche
Haus!
In der Tat wurden diese Dinge in ändern Landgerichten auch viel gründlicher
behandelt. Die Audorfer, früher für weltliche Stücke die
ersten Histrionen des Hochlands, sie wissen wohl zu erzählen, wie
oft ihnen in den letzten dreißig Jahren ihr "G'spiel" erlaubt und
verboten worden und wieviel Schreiberei darüber ergangen ist, bis
endlich der große Brand von 1857 die Bühne mit der kostbaren
Garderobe und den Dekorationen und den Spielbüchern in Asche legte.
Damals verbrannten nicht allein die Stücke, die sie selbst geschrieben,
sondern auch Johanna von Montfaucon und Otto von Wittelsbach, ja sogar
"Hamlet, Prinz von Denemarkt" und damit die lehrreiche Gelegenheit zu
untersuchen, wie sich der große Brite und sein Meisterwerk in den
Köpfen der Inntaler Bauern malte. Die Bewohner von Kiefersfelden,
in derselben Nachbarschaft, welche, wie ihr ältliches Schauspielhaus
bezeugt, schon Vorjahren die dramatische Muse mit Eifer pflegten, sie
kämpfen jetzt auch wieder um die langentzogene Erlaubnis, obschon
sie aus ihren Leistungen gar keinen Vorteil ziehen, sondern die Überschüsse
aus den Eintrittsgeldern zu einer Stiftung verwenden wollen, auf daß
in der nahegelegenen Ottokapelle alle Jahre für das Seelenheil des
ganzen Landgerichts eine heilige Messe gelesen werde! Die dortigen Liebhaber
sind meistens Arbeiter im Eisenhammer, und es ist wirklich sehenswert,
wie ihre obwohl rußigen Gesichter zu leuchten beginnen, wenn man
mit ihnen vom Theater zu sprechen anfängt und die Hoffnung äußert,
es könnte vielleicht doch noch einmal die Zeit kommen, wo es wieder
erlaubt würde. Eine gewisse Bitterkeit erregt es in den Herzen des
bayerischen Inntals immerhin, daß im Tirolischen, bei Kufstein,
in der Thiersee, in Erl, in Sewi und allenthalben, gespielt werden darf.
Die bayerische Obrigkeit, indem sie den Hirten des Hochlands mit ihrem
Rosenfinger den theatralischen Mund verschließt, beteuert zwar,
es geschehe nur, um sie vor unnützen Ausgaben und den Verführungen
der Leichtfertigkeit zu bewahren, allein ihre Maßregeln haben, wie
dies mitunter bei jeder guten Regierung vorkommt, gerade die entgegengesetzte
Wirkung. "Daß jetzt wir nicht spielen dürfen", sagte jüngst
ganz grämlich der würdige Vorsteher eines bayerischen Grenzdorfes,
"und in Tirol, da schlagen sie überall ihre Theater auf! Da hat man
schon die Zeit nicht, solche Sachen zu verbieten. Wenn die Herren in der
Stadt etwa hoffen, daß sich ihnen zulieb der Bauer sein schönstes
Sonntagspläsier abgewöhnt, da dürfen sie noch lange warten.
Jetzt lauft und fahrt an Sonn- und Feiertagen alles ins Tirol hinein,
zecht mit dem teuern Tirolerwein, lebt in der größten Lustbarkeit
und kommt in der finstern Nacht mit leerem Beutel und paarweis wieder
heim - alles von derowegen, weil unser G'spiel dahier der Sparsamkeit
und den guten Sitten schaden könnte! Hätten wir unser Theater
im Dorf, dann blieben die ledigen Leute daheim, und wir könnten selber
auf sie Obacht geben!" Der Vorsteher meinte dabei, es sei ohnedem längst
ausgemacht, daß die bayerischen Bühnen die bessern Stücke
hätten, und erzählte nebenher zum Beispiel, auf einem tirolischen
Theater hätten sie eine Art Passionsspiel aufgeführt, und da
habe der kohlschwarze Teufel mit dem Judas ein Protokoll auf Stempelbogen
aufgenommen, daß er ihm seine Seele verschreibe (scheint eine feine
Ironie auf unsere Vielschreiberei), und dann, als der Verräter vom
Baum gefallen und ihm der Wanst geborsten, sei ein ganzes Gequirl von
schmackhaften Würstchen - seine Eingeweide vorstellend - herausgequollen,
welche dann die jungen Teufelchen sofort unter furchtbarem Hallo des hingerissenen
Publikums verzehrt. "Das wäre bei uns doch nicht mehr möglich",
sagte der Vorsteher mit einem gewissen bayerischen Geisteshochmut, während
wieder andere in jenen Zügen gerade die liebenswürdigen Reste
mittelalterlichen Volkshumors erblickt haben sollen. Woher dieser unüberwindliche
Hang zum Schauspiel stamme, wollen wir hier nicht untersuchen, aber uns
gleichwohl die Meinung erlauben, daß er, abgesehen von der persönlichen
Freiheit, die in konstitutionellen Staaten doch auch ein bißchen
Achtung verdient, viel mehr Nutzen als Schaden bringt. Es ist ein Trieb
zur Bildung, der gewiß begünstigt werden darf. Für die
Welt lernen die Leutchen zuwenig, für ihr Dörflein, wenn nicht
zuviel, doch mehr, als sie verwenden und erhalten können. Da tritt
nun das Theater helfend ein als lebenslängliche Feiertagsschule;
sie üben sich wieder im Lesen und Schreiben, Singen und Dichten,
und ihr Geist, der sich doch zur Indolenz hinneigt, bleibt in erfrischender
Bewegung. Nachdem also den Seebruckern ihr Gespiel erlaubt war, so ging
"Die Heilige Genofeva" am Sonnabend, dem 3. August, auch wirklich über
die Bretter. Es sollte zunächst eine Vorstellung für das Dorf
und die Badegäste von Seon sein, denn der Zufluß der weiteren
Nachbarschaft wurde erst für den darauffolgenden Sonntag erwartet.
Da jedoch ein starkes Gewitter eingefallen war, so blieben die Seoner
aus; der Saal hatte außer den Gästen des Wirts nur die Dorfleute
aufzunehmen und war wenigstens nicht überfüllt.
Der Text der "Heiligen Genofeva" war also in dem nahen Höselwang
geholt worden, aber nach dem Verfasser hatte man nicht gefragt, und es
wußte ihn niemand zu nennen. Wahrscheinlich ist's ein junger Ackersmann,
der morgens mit dem Pflug zu Felde geht und nur "des Abends auf den Helikon";
denn die Bacherl kommen bei uns nicht bloß unter den Dorfschullehrern
vor, sondern reichen bis unter Bauernknechte herab. Es ist eine Frage,
ob der Dichter auch nur eine wandernde Truppe je spielend gesehen, wie
denn selbst von dem Seebrucker Personal nur ein einziger einmal zu Traunstein
dieses Glück genossen. Auf jene Frage führte übrigens die
sozusagen zyklopische Haltung seines Werks, welches so viele Unbeholfenheiten
und Naivitäten enthält, daß es schon deswegen interessant
ist. Im ganzen liegt das Genofevabüchlein des Verfassers der Ostereier
zugrunde, und wo dasselbe Zwiegespräche oder Monologe enthält,
fährt unser Dichter auch ganz sicher und behaglich dahin, obwohl
er notwendigerweise vielfache Abkürzungen eintreten ließ -
wenn aber das Büchlein die dramatische Form verläßt, so
ist unser Landmann in sichtlicher Verlegenheit und hilft sich bestmöglich
ohne Worte durch. So gleich im Anfang. "Siegfried und Genofeva", heißt
es in der Erzählung, "lebten in der seligsten Eintracht. Eines Abends
spät nach Tische, da man schon das Licht angezündet hatte, saßen
beide vergnügt in dem gewöhnlichen Wohnzimmer. Genofeva sang
und spann, und Siegfried begleitete ihren Gesang mit der Laute." Als Schilderung
dieser glücklichen Häuslichkeit sehen wir nun, nachdem der Vorhang
aufgerollt, die beiden Gatten "im gewöhnlichen Wohnzimmer" an einem
Tischlein sitzen, sie mit dem Spinnrade, ihn mit unterschlagenen Beinen,
doch ohne Laute. Es steht eine Flasche Wein zwischen ihnen, nach dem Etikett
zu schließen: Forster Riesling von Weinwirt J. B. Michel in München.
Der Graf füllt die Gläser, und sie stoßen ohne ein Wörtchen
zu sagen an, messen sich allerdings mit bedeutsamen Blicken. Nach diesem
beginnen sie ein häusliches Duett zu singen, bei dessen Ende schon
der Bote hereintritt, der den Grafen zum Kriegszug gegen die Mohren ladet.
Dieser hat kaum Abschied genommen und die Wohnstube verlassen, als Golo
mit seinen "schändlichen Anträgen" hervorkommt. Das Büchlein
gibt weiter keine Worte an die Hand, und der Dichter muß daher selber
sprechen. Für Golos sündhafte Begierden bringt er auch noch
einen ganz anständigen Satz auf, aber Genofeva findet keinen Ausdruck
mehr für ihre Tugend. Um nicht reden zu müssen, gibt sie ihm
einen stummen Schlag ins Gesicht, ergeht mit einer kurzen Drohung ab,
und damit ist der Knoten geschürzt. Die Pfalzgräfin entschließt
sich nun, unverweilt an ihren Gatten zu schreiben, und beginnt: "Lieber
Siegfried! Obgleich Du mir auf verschiedene Briefe, die ich an Dich gerichtet,
bisher noch keine Antwort gegeben hast", und so weiter. Der Dichter hat
nämlich die späte Bemerkung des Büchleins, daß Golo
alle Briefe der Gräfin an den Grafen, und umgekehrt, unterschlagen
habe, schon hieher verwendet, obschon Siegfried, wenn Genofeva zum Fenster
hinaussehen wollte, sich gewiß noch im Burghof finden müßte.
Jene Zeilen soll nun der getreue Drako besorgender aber vom hereinstürzenden
Golo durchbohrt wird und sie sterbend auf den Boden fallen läßt.
Das Schreiben bleibt nun noch sieben Jahre lang auf dem Boden liegen,
bis es Siegfried bei seiner Ruck- kehr gewahrt, aufhebt und darin einen
neuen Beweis der Unschuld seiner Gattin findet.
Der nächste Akt führt diese im Kerker vor. Sie deutet da auch
beiläufig an, daß sie "in andern Umständen" sei. Ein städtischer
Dramatiker würde nun wohl die Verwirklichung dieses Winks in den
Zwischenakt verlegen, aber der Dichter von Höselwang läßt
seine Heldin einfach hinter die Kulisse treten und nach ein paar Sekunden
mit einer Windelpuppe, die sie eben geboren, wieder hervorkommen. In unserer
Metropole hätte diese Erscheinung wohl ein schallendes Gelächter
hervorgerufen - aber die Landleute von Seebruck waren in so getragener
Stimmung, daß sie niemandem auffiel. Derlei wunderliche Vorkommnisse
wären aber noch mehrere hervorzuheben, doch übergehe ich sie
lieber, um nicht zu lang zu werden. Stehen nun diese Bauernspieler auch
in den meisten Dingen hinter den dramatischen Künstlern der Stadt
zurück, so sind sie ihnen doch darin voraus, daß sie keines
Souffleurs bedürfen, denn ihr Gedächtnis scheint vortrefflich.
Sonst werden ihre Leistungen allerdings nur im Licht eines ersten Versuchs
zu betrachten sein. Die meisten spielten mit ägyptischer Steifheit;
Bertha und Schmerzenreich, der ein Lammfell und eine langhaarige schwarze
Perücke trug, sprachen jenen monotonen Diskant, welcher in den Landschulen
für das Hersagen der bayerischen Geschichte eingeführt ist;
mit Ausdruck und einigem Selbstvertrauen traten eigentlich nur Golo und
der eine der Knechte auf, welche Genofeva morden sollen. Diese selbst
genügte in den Elendsszenen des Kerkers und der Wildnis, war aber
schwach und fast gefühllos gegen das Ende, wo sich die Freude über
die Rettung und die Leidenschaft ihrer Liebe zeigen sollte.
Nach der alten Tradition der geistlichen und der weltlichen Volksbühne
ließ sich übrigens vor jedem Akt ein Chor vernehmen, der mit
spröder Stimme eine Strophe absang, welche den Inhalt des kommenden
Aufzugs ankündigte und besprach. Wer diese Vorworte gedichtet, vergaß
ich leider zu fragen. Während des Gesangs war aber der Vorhang herabgelassen,
so daß sein Schall nur aus dem Verborgenen kam. Die Sänger
und die Sängerinnen hielten es nämlich, wie sie später
erläuterten, für unschicklich, sich mit aufgesperrtem Mund vors
Publikum zu stellen und dieses in ihren dunklen Rachen und geheimnisvollen
Schlund hinunterschauen zu lassen - eine unerklärliche Diskretion,
welche, übel angewendet, fast unsere ganze Oper unmöglich machen
würde. Dagegen fehlte die lustige Person, Hanswurst oder Kasperl,
welche im Bauernspiel der Tiroler nie vermißt wird, an die aber
unser Dichter, bei seiner Abneigung, sich selbst vernehmen zu lassen,
wohl kaum denken konnte.
Die Einrichtung der Bühne bot nichts Auffallendes. Das "gewöhnliche
Wohnzimmer" war einfach gelb getüncht und durch einen gestreiften
Vorhang rückwärts abgeschlossen. Wenn dieser aufgezogen, sah
man in den Wald, der durch frische Tannenbüsche bezeichnet war. Einmal
ging oben auch der Mond über die Bühne - ein ernsthaftes Antlitz
aus Ölpapier, durch eine dahinter verborgene Lampe beleuchtet, welches
an einem Bindfaden langsam vorübergezogen wurde.
Als das Stück zu Ende war, entfernte sich das ländliche Publikum,
ohne zu klatschen und zu jubeln, welches durchaus gegen den Charakter
des Volkes wäre, aber doch mit vollkommener Befriedigung. Wenn man
die einzelnen fragte, wie es ihnen gefallen, gaben sie wie mit einer Stimme
zur Antwort: "Warum soll es uns nicht gefallen haben? Wir haben nie was
solches, nie was Schöneres gesehen!" Ihre innige Teilnahme hatte
auch schon das Schluchzen bezeugt, welches sich bei den rührenden
Stellen sehr vernehmlich erhob.
Der darauffolgende Sonntag war also der eigentliche Spieltag, der auch
mit unermüdlichem Eifer ausgenutzt wurde. Genofeva hatte des Morgens
kaum ihren frommen Gesang auf dem Kirchenchor beendet, als sie auch schon
das weiße Gewand der Pfalzgräfin um sich schlug und die ändern
zur Eile drängte. Nach flüchtigem Mittagessen begann bereits
um elf Uhr die erste Aufführung, die zunächst für die Kinder
des Dorfes und der Umgebung bestimmt war. Hierauf folgte des Nachmittags
die zweite, welche die Herren und Damen von Seon mit ihrem Besuch auszeichneten,
und abends endlich die dritte, bei welcher hauptsächlich die Landleute
der Nachbarschaft vertreten waren. Wir hatten diesen Tag auf einem Ausflug
nach Stein verbracht, erfuhren aber, als wir des Abends zurückgekehrt,
daß alles wieder ganz gut abgelaufen und daß die Zuschauer,
trotz der großen Hitze, die oben im Spielsaal geherrscht, sich doch
sehr zufrieden und vergnügt gezeigt. Der ländliche Teil derselben
blieb auch noch später beisammen und suchte seine Erquickung in Herrn
Isaak Wellkammers großen Gastzimmern, die solchen Andrang kaum ganz
fassen konnten. Die Helden und Heldinnen des Spiels hatten sich an einem
langen Tisch zusammengesetzt und wurden von den ändern nicht ohne
eine gewisse Aufmerksamkeit betrachtet und behandelt. Sie selbst gaben
sich sehr bescheiden, waren zum Teil noch ganz in sich versunken und erwachten
erst allmählich für Gespräch und Unterhaltung. Als die
Mitteilung lebendiger geworden, fing Golo, der Gemeindevorsteher, mit
großem Lobe von den Verdiensten des Kommandanten zu reden an, von
seinen Bemühungen, das Theater in Seebruck aufzubringen, und von
seinen trefflichen Ratschlägen, welche über manche Verlegenheiten
bei der Inszenierung hinweggeholfen hätten. Auch sonst, sprach Golo,
indem er aufstand und die Stimme erhob, auch sonst sei er ein wahrer und
herzlicher Freund der Gemeinde, der, ohne seiner Pflicht zu fehlen, alle
Unannehmlichkeiten und Stänkereien zu vermeiden wisse, daher auch
die allgemeine Achtung verdiene und genieße. Er schloß mit
einem Hoch auf den Gefeierten, welches den lautesten Anklang fand. Hierauf
der Kommandant: Von seinen Bemühungen um das Theater wolle er nicht
sprechen, denn sie seien kaum der Rede wert; aber es scheine ihm eine
gute Stunde gewesen zu sein, als er nach mancherlei Umzügen im Lande
Bayern endlich zu Seebruck einen entsprechenden Wirkungskreis gefunden.
Der Beruf des Instituts, dem er anzugehören die Ehre habe, sei zwar
ein schwieriger, aber unter so braven und redlichen Leuten, wie seine
Seebrucker seien, könne er ein sehr leichter werden und sich sogar,
wie der eben vernommene Trinkspruch beweise, Anerkennung und Zuneigung
erwerben. Je weniger Aufgaben die Gendarmerie zu lösen habe, desto
glücklicher müsse sie sich fühlen. Dieses Glück sei
aber nach seinen Erlebnissen ihm nirgends so sehr zur Seite gestanden
wie in Seebruck, und deswegen erlaube er sich, ein dreifaches Hoch auszubringen
auf diese biedere und ehrenwerte Gemeinde!
Ich gestehe, daß mir das Verhältnis zwischen Gendarmerie und
Volk nie in schönerer Wirklichkeit vor Augen getreten ist als hier.
Übrigens, sagte ich mir selbst, kann man sich in der Tat nicht mehr
über mangelnden Fortschritt im Bauernstand beklagen, wenn jetzt die
Gemeindevorsteher schon frisch und keck Toasts auf die Gendarmeriekommandanten
ausbringen, während doch selbst höhere Staatsbeamte ihre Festreden
noch abzulesen pflegen. Goethe gibt im Wilhelm Meister bekanntlich den
Rat, daß jeder Mensch, um sich über dem Gemeinen zu erhalten,
wenn es möglich zu machen, alle Tage wenigstens einige vernünftige
Worte sprechen soll, und dieses Hausmittelchen schienen mir jedenfalls
die beiden Redner im Dorfe Seebruck besser angewendet zu haben, als es
vielleicht an manchem größern Ort und Landgerichtssitz zu geschehen
pflegt.
Nachdem ich nun aber bemerkt, daß da jedermann spreche, ergriff
ich auch das Wort und hob hervor, wie sehr wir landliebenden Stadtleute
überrascht gewesen, hier ein so ernstes Streben zu finden, einen
so festen Vorsatz, dem deutschen Drama eine Stätte am schönen
Chiemsee zu gründen. Ihr harmonisches Zusammenspiel habe uns überzeugt,
daß ihnen die Worte des Dichters der Genofeva keine unverständlichen
Laute geblieben. Das Theater sei übrigens, wie schon unser Lieblingsdichter
dargetan, nicht ein leerer Zeitvertreib, sondern eine Stiftung, das Herz
des Menschen zu bilden, und daher wohl berufen, Hand in Hand mit der Kirche
zu gehen. Andererseits sei es auch eine Fortsetzung der Schule, indem
es die Kenntnisse, die sie dort errungen, zu erhalten und auszubilden
allen Anlaß gebe, so daß sie fortschreitend allmählich
mit dem Besten und Schönsten, was unsere Literatur erzeugt, sich
bekannt machen würden. Einem solchen Beginnen müsse jeder Freund
des Vaterlandes zustimmen, und zum Wahrzeichen unserer Zustimmung sei
hiemit ein Hoch gebracht auf die Schaubühne von Seebruck!
Nicht ohne gehörigen Beifall ließ ich mich wieder nieder, jedoch
fast zweifelnd, ob ich der Goetheschen Anforderung wohl ebenso gut wie
meine Vorredner entsprochen haben möchte. Nur dessen war ich sicher,
daß ich meinen Spruch in einem ganz angenehmen, nach den besten
Elementarbüchern orthoepisch gebauten Hochdeutsch abgehalten und
nicht etwa, wie der sonst für die bayerische Muse sehr eingenommene
Unbekannte neulich in einem Wiener Blatt andeuten wollte, in den ungezähmten
Lauten des Isarwinkels oder der Holledau. Hat uns - nämlich einen
gelehrten Allgäuer, der sich selbst verteidigen mag, und mich -,
hat uns der sonderbare Verehrer weiter nicht erschreckt, indem er jenem
eine "rauhe oberschwäbische Mundart" und mir gar ein "mastiges bojoarisches
Idiom" beilegte, während ich doch wegen meiner feinen Sprechweise
im Zillertal schon vor achtzehn Jahren für einen Mecklenburger gehalten
worden bin! Abgesehen davon, hat man sich seit Einführung der Trinkberedsamkeit
durch diebeständig wiederholten Toasts bald auf "das einige Deutschland"
bald "auf Deutschlands Zukunft" gerade in den schmelzenden Tonarten der
Muttersprache dermaßen eingeübt, daß man von Buxtehude
bis an den Meraner Küechelberg bei volkstümlichen Zweckessen
und ändern günstigen Gelegenheiten, wenn keine bessern Sprecher
vorhanden sind, allenthalben als Not- und Hilfsredner auftreten könnte,
ohne durch jene bedauerlichen Makel sich und dem engern Vaterland einen
Schimpf zuzuziehen.