LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
MÜNCHNER, PREUßEN, SACHSEN usw.
Am Miesenbach
In Partenkirchen
In Reichenhall
Wenn man nämlich die Städte und Flecken am Gebirge, vielmehr
die Sommerfrischorte betrachtet, so zeigt sich, daß schon viele
an andere Nationen übergegangen sind. Reichenhall gehört der
Welt im allgemeinen, Tölz und Partenkirchen sind preußisch
geworden, andre kleine Orte sind von ändern kleineren Stämmen,
den Hannoveranern, Mecklenburgern, Sachsen eingenommen, Tegernsee ist
paritätisch, bayerisch, den Münchnern alleinig Untertan, sind
nur noch Starnberg und Miesbach. Da ist die Gesellschaft zwar noch ungemischt,
nur aus vaterländischen Bestandteilen zusammengesetzt, aber man weiß
schon, was ich davon halte. Neben einem Norddeutschen, zumal wenn er Land
und Leute studieren will, können wir einen halben Tag lang sitzen,
ehe er uns anredet; der Münchner fragt aber beim ersten Blick schon
unwillkürlich: Wie kommen Sie daher?, oder: Was gibt's Neues in der
Stadt? - auf welch letztere Frage ich aber die "Neuesten Nachrichten"
anzupreisen pflege, welche in der Regel viel besser unterrichtet sind
als ich. Auch haben diese neugierigen Mitbürger sämtlich so
bekannte Gesichter, und die Lieben, denen wir in der Stadt das ganze Jahr
hindurch mit allen Listen auszuweichen strebten, die laufen einem hier
ganz warm wie eine neugebackene Semmel und freundlich wie ein Gartenhäschen
in die Hände, freuen sich ungeheuer, uns zu sehen, gehen gleich mit
spazieren, wohin man will, und erörtern mit gereizter Teilnahme,
warum, wie im letzten Regierungsblatt zu lesen, der Aktuar Mayer von Schöllkrippen
nicht nach Immenstadt, wo doch seine Schwester an den Grenzkontrolleur
verheiratet, sondern nach Mitterfels versetzt worden ist, wo er gar niemand
kennt.
Am Miesenbach
Wie niedlich und schön es am Miesenbach ist, will ich eigentlich
gar nicht näher ausführen. Die schnöde Welt weiß
noch lange nicht, wo dieser Bach sein Rinnsal hat, und ich mag's auch
heute nicht verraten. Es ist immerhin ein Wunsch des zarten Gemüts,
daß noch ein grüner Winkel gedacht werden könne, wo sie
nicht alle hinlaufen mit Plaid und Krinoline, sondern nur diejenigen,
>die noch etwas haben, was die ändern nicht verstehen^ Bei dem Schweigen,
das ich mir auferlegt, will ich auch nicht veröffentlichen, wie sich
die stille kleine Herberge im Wiesengrund nennt, wo man mit wackerm Abendimbiß,
Trunk und trefflichem Lager noch um vierzig Kreuzer über Nacht bleiben
kann. "Frau Wirtin", sagte ich ändern Morgens, "ihr habt die himmlische
Gabe der Billigkeit, und bei euch ist alles so proper und reinlich. Ihr
solltet hier noch einen Gaden anbauen lassen mit fünfundzwanzig Gemächern,
auf daß die Fremden kämen und ihr ein schönes Geld löstet."
"Ach, mein lieber Herr", entgegnete die Wirtin, viel stoischer als ich,
"was kümmert uns dieses lästige Landfahrervolk, das in der tiefen
Nacht daherkommt, nach dem Bartscherer verlangt und seinen Tee haben will
und ein Moorschlammbad, und um drei Uhr in der Früh seine frisch
gebratenen Hühner und zu allen unrechten Zeiten das Unrechte und
nur Zuckerwasser trinkt, beständig spöttelt, und dann doch um
alles knickt und schachert!" -
In diesen Worten liegt die Stärke und die Schwäche des oberbayerischen
Wirtshauswesens. Wer die Landessitte einhält und nur das Herkömmliche
zu den herkömmlichen Zeiten begehrt, ist gern gesehen und meistens
befriedigend verpflegt - wer den Gastgeber und seine Gattin aus der Ordnung
bringt und belästigt, den vermißt man gerne, und wenn er noch
so gut bezahlt. >Wenn er noch so gut bezahlte - ist aber fast ein ironischer
Beisatz, denn die Erfahrung lehrt, daß gerade nordische Geheimräte,
pommerische Dichterinnen, Abkömmlinge alter Raubritter aus der Mark
und anderes ungefüges Volk oft ebenso groß in seinen Prätentionen
als verschwindend klein in seiner Erkenntlichkeit ist. In diesem Betreff
ist mir auch aus der Umgebung von Tölz mancherlei Material angemeldet,
was ich seinerzeit schon verarbeiten will. Damit soll aber keineswegs
gesagt sein, daß sich unter den Fremdlingen aus Norddeutschland
nicht auch sehr liebenswürdige Leute und Familien finden, eine Anerkennung,
welche in diesem Buche immer als stillschweigend wiederholt zu gelten
hat, wenn wir uns hin und wieder über unsere Gäste eine gutmütige
Heiterkeit erlauben. Unsere Absicht ist niemals sie zu verletzen, sondern
nur ihnen mit Sanftmut zu zeigen, daß sie ebensogut ihre Schwächen
haben wie wir.
In Partenkirchen
Sind auch manche Abgeschmackte und Hochnäsige darunter, die unsere
Gemütlichkeit keineswegs erhöht haben, so vernimmt man doch
wieder sehr lobende Urteile über die Herren und Frauen aus Norddeutschland,
über ihre zierlichen Manieren, über ihre gute Art, sich in dies
und jenes zu schicken, auch über ihre Dankbarkeit gegen alle, welche
sich um sie angenommen. Namentlich in Partenkirchen hörte ich viel
Angenehmes über sie erzählen. Man erinnert sich gern an die
Dagewesenen und freut sich, wenn sie wiederkommen.
In Reichenhall
Im Kaffeegärtchen des Mauthäusels gerät der Wanderer, der
von den Alpenweiden oder vom Froschsee und dem Miesenbach herabkommt,
zum erstenmal wieder in Berührung mit der Kultur der deutschen Vornehmheit.
Er sieht wieder deutsche Frauen, welche Fichtes Reden an unsere Nation
gelesen, deutsche Frauen mit dem ungarischen Hütchen, der afrikanischen
Zuavenjacke und dem französischen Reifrock. Für letzteren ist
Reichenhall überhaupt ein sehr gedeihlicher Platz - mit der Großartigkeit
der Natur wächst, wie es scheint, auch die Krinoline, und man wird
daher eine Erweiterung des Trottoirs kaum mehr lange umgehen können.
Die fremden Damen suchen es darin den einheimischen zuvorzutun, die schönen
den garstigen, die vornehmen den geringen, die gelehrten den unwissenden.
Wenn das ausländische schöne, vornehme und gelehrte Fräulein
Sigelinde N. breit und mächtig wie ein fruchtbeladener Erntewagen
die Gasse herunterschwankt, so möchte ich ihr gern, wenn man sich
ihr nähern könnte, ins Ohr hineinflüstern: "Wissen Sie
denn nicht, o holde Unschuld, daß die große Kaiserin diese
Tracht nur erfunden hat, um ihre interessanten Umstände zu verbergen?"
Reichenhall - dieser meiner Wanderung ersehntes Ziel -, wenn ich deine Salzquellen und deine Kuranstalt, deinen Staufen, deinen Untersberg und deine Unbequemlichkeit erwähnt, was bleibt noch viel zu sagen übrig? Daß ein Münchener auf der Promenade nach Kirchberg hinaus eine halbe Stunde zwischen lauter deutschen Ladies und Gentlemen lustwandeln kann, ohne seinesgleichen zu begegnen, ist vielleicht auch ein Vorzug. Kriegsnöte und Feuersbrünste haben dem biedern Städtchen so viel zugesetzt, daß es eigentlich nie zu rechtem Wohlstand gelangen konnte, obwohl seine Quellen gleichsam ein flüssiges Gold sind. Pfandhausleute, Beamte und etliche Gewerbsmänner teilten sich behaglich in die kleinen Häuser an den weiten Gassen, bis Herr Inspektor Rink seinen Zauberstab erhob, die Geister bis nach Skandinavien, ja bis zum äußersten Thule hin aufrüttelte und hieherbeschied, worauf dann plötzlich alles zu enge wurde. Wer hätte es vor zehn Jahren gedacht, daß jetzt in den Reichenhaller Gasthöfen die Fremden zu hundert, ja zu zweihundert an dem frugalen Tische sitzen und daß es der Neuangekommene oft nur der besondern Gefälligkeit des Oberkellners verdankt, wenn er noch einen Stuhl und Teller erhält? Um diese Table d'hôte weht eine europäische Atmosphäre, die ich für kurze Zeit gegen die vaterländische oft nicht ungern eintausche. Auf den Spazierwegen sieht man gekrönte Häupter und solche, die es zu werden wünschen, Damen von denkbar höchstem Rang, Erb- und vortrefflich erzogene Nebenprinzen verschiedener Art, nebst vielen anhänglichen Seelen, die sich in solchem Glänze sonnen wollen oder müssen. Auch sonst soll viele Distinktion vorhanden sein, Geheimräte und andere gelehrte Häuser, die schon mehrere Bücherherausgegeben, tapfre und berühmte Kriegsleute aus unserer langen Friedenszeit, siebenfache Ordensträger, deren Verdienste gar nicht zu erfragen sind, und so weiter.