LUDWIG STEUB - ALPENREISEN


IM PFERDEWAGEN

Von Miesbach nach Bayrischzell
Von Innsbruck nach Landeck


Von Miesbach nach Bayrischzell

Früher konnte ich mich über gar nichts ärgern - jetzt habe ich auch dies gelernt und ärgere mich oft den ganzen Tag. In der Frühe verdroß mich schon, daß die Wagen dritter Klasse des Königreichs Bayern keine Haken besitzen, so daß man bei der hydraulischen Einpfropfung, welcher die Fahrgäste trotz 25° R. unterliegen, Joppen, Ränzel und andere Reisekleinodien unter die Bank werfen muß, wonach denn auch die Füße geniert sind und die Kleinodien schmutzig werden. Mittag um 12 Uhr 10 Minuten ärgerte mich zu Miesbach, daß sich der Posthalterssohn von *** ins Kabriolett des Omnibus setzte, welches ich selbst aspiriert hatte, in der Meinung, daß die Posthalterssöhne der Gegend in den Bauch des Wagens gehören, weil sie ihre Landschaft täglich vor Augen haben und die bequemen Schauplätze den Fremden überlassen sollen. Mit den höckerigen Sitzen der engen Kalesche versöhnten mich gleichwohl die Blumengirlanden, welche sie heute, als am Tag ihres Hinscheidens, zierten, denn morgen schon wird die Eisenbahn bis Schliers eröffnet. Sonst könnte man sich allerdings mehrfach über bayerische Omnibusse und Stellwagen ärgern, namentlich über jenen, welcher vor zwei Jahren von Wolfratshausen nach München fuhr - vielleicht jetzt noch fährt - und sich, zerrissen und zerflickt wie er war oder ist, geradezu jeder patriotischen Beschreibung entzieht.


Die afrikanische Sonne des letzten Tags im Juli lag so schwer über dem Bezirksamt Miesbach und machte mich so müd und träge, daß ich nach einem Einspänner zu trachten begann, denn die Entstehung und Jungfernfahrt des neuen Omnibus wollte ich doch nicht abwarten. Ich sprach eine nahegelegene Bäuerin an, welche bereitwillig den Gaul von der Weidt holen und das Wägelchen zurechtstellen ließ. Alles schien nach Wunsch zu gehen, als ich unvorsichtigerweise fragte, was es koste bis nach Bayrischzell. Jetzt fiel's der Bäuerin siedheiß ein, daß sie darum eigentlich den "Herrn" fragen müsse. "Und der Herr?"

"Ist auf der Alm", sagte die Frau, "da werden S'wohl nicht warten mögen, bis ich 'nauf g'schickt hab'." Im nächsten Wirtshaus fragte ich wieder. Die Frau Wirtin, welche herausgeholt wurde, ein Wesen von so liebenswürdigen Manieren, daß sie in Knigges "Umgang mit Menschen" als illustriertes Paradigma aufzustellen wäre, sie schaute mich überzwerch an und fragte mit Fernhaltung aller zeitraubenden Begrüßungsformeln: "Was wollen S' denn?"

"Einen Einspänner nach Bayrischzell, und was kostet er?"

"Ja, da muß ich zuerst den Herrn fragen", antwortete die unterwürfige Gattin, drehte sich und kam nicht wieder. Wahrscheinlich war der Herr über Land gegangen.

So zogen wir denn etwas ärgerlich ins grüne Tal der Leizach ein, den wilden Wendelstein vor unsern müden Augen, und sehnten uns fortwährend, nach Bayrischzell zu fahren. Nach einer heißen Stunde kam zu gutem Trost wieder ein Wirtshaus heran. Ein junger Mann, der zu der Anstalt gehörte, ließ sich über den Gegenstand unserer Sehnsucht bald in ein freundliches Gespräch mit uns ein. Trotz seiner sehr schlichten "Montur" zeigte er in seiner Unterhaltung gleichwohl bedeutende Spuren gelehrter Studien, die er in früherer Zeit getrieben. Aber bei uns auf dem Lande braucht man glücklicherweise so wenig zu denken - etliche Priester und Beamte besorgen dies aus Gefälligkeit für alle-, daß man zuletzt selbst die Gewohnheit ablegt. Infolgedessen verlor sich denn auch der Gelehrte von der Leizach zu meinem großen Vergnügen in nachstehende drollige "Diskurrierung". Erstens sei kein Gaul da; zweitens sei zwar einer da, aber dieser jetzt zu müde von der Arbeit. Übrigens seien wir auch zu schwer (ich führte nämlich meine zwei halberwachsenen Kinder mit mir). "Was, zu schwer?" Ja, so ein Rössel ziehe zwar an Sonn- und Feiertagen oft zehn und zwölf Personen vom Wirtshaus heim, aber am Werktag dürfe man ihm so viel nicht zumuten, namentlich wenn es die ganze Woche nichts zu tun gehabt habe. Doch könnten wir immerhin fahren, nur wolle der Knecht nicht einspannen, weil schon Feierabend sei, und er auch nicht, weil er keine Knechtsarbeit tue. Nichtsdestoweniger würde er gleich einspannen, aber er wisse nicht, was es koste, denn er sei nicht der Herr im Hause, sondern sein Vater. "Und der Vater?"

"Ist nach München gereist, so daß ich ihn nicht einmal fragen kann."

"Könnten Sie ihm denn nicht telegraphieren? Ich würde die Rückantwort gern bezahlen." "Ja, jetzt ist er vielleicht im Volkstheater, im Singelspielerkeller, oder er sieht den Walfisch auf der Dult an - wer wird ihn finden?"

Daß sich Mann und Frau, Vater und Sohn im Leizachtal über den Preis eines Einspänners nach Bayrischzell ein für allemal verständigen und denselben das ganze Jahr im Gedächtnis behalten, scheint eine geistige Unternehmung, die für dieses einfache und unverdorbene Volk noch zu schwierig ist und zu ihrem Gelingen wahrscheinlich viel vorgeschrittenere Zustände erheischt. Hier kann nur ein Schulgesetz helfen! ruft vielleicht ein Fortschrittler aus. Ach, laßt uns unsere Einfalt und unsern Glauben! sagt der Patriot; mag es auch eine Unbequemlichkeit für den müden Wanderer sein, wenn er bei großer Hitze an drei fertigen Einspännern vorübergehen muß, weil niemand weiß, was es kosten soll, so liegt doch so viel Unschuld und Uneigennützigkeit darin, wie ihr sie anderswo vergeblich suchen werdet. Wollt ihr auch diese Unbequemlichkeit, wollt ihr denn alles verwischen, was unsern Nationalcharakter und uns selbst im Wellengang der Geschichte aufrechterhalten kann?

Ich ärgerte mich aber schon wieder und sprach in gereiztem Tone: "Erwägen Sie alles und tun Sie, was Ihnen das beste dünkt. Wir gehen jetzt unserer Wege, um auf Ihre Erwägungen nicht durch unsere Gegenwart zu drücken. Wenn Sie uns nachfahren, so steigen wir ein; wo nicht, so werden wir die Zell auch zu Fuß noch erreichen." Wirwaren aber kaum die Hälfte des Wegs, nämlich eine Stunde, gegangen, als der Einspänner lustig daherfuhr und uns aufnahm. Immer noch ärgerlich sagte ich hiebei: "Diese Stunde, die wir jetzt gegangen sind, hätten Sie uns wohl ersparen können. Es ist nicht auszuhalten mit euch. Ihr müßt entschiedener, rascher, prompter werden!"

"Ja natürlich!" entgegnete der Philosoph von der Leizach kopfschüttelnd, "die Promptheit hat schon manchen auf die Gant gebracht." Übrigens würden wir noch früh genug nach Bayrischzell kommen und auch den Herrn Inspektor treffen, einen gebildeten und beredten Mann. Er habe so einen spanischen Namen und werde deshalb wahrscheinlich ein Polak sein.


Von Innsbruck nach Landeck

Am Zweiten fuhren wir von Innsbruck nach Landeck. Wer von der Landeshauptstadt gen Niedergang oder Westen trachtet, der gerät bekanntlich wieder in die Region der Stellwagen, denn die Bahn über den Arlberg ist wohl versprochen, aber noch nicht angefangen. In den letzten dreißig Jahren hat sich nun viel verändert auf dieser Welt, aber der rätische Stellwagen ist sich gleichgeblieben . . .

Auch ein anderer Gegenstand ist noch unverändert derselbe, nämlich der tirolische Stellwagenkutscher.

Die mächtigsten Potentaten haben sich mittlerweile beschränkende Konstitutionen gefallen lassen und auf die teuersten Kronrechte verzichtet, aber die Tyrannei des Stellwagenkutschers ist noch ungebrochen.

"So, Frau Doktorin", sagt er grüßend zu einer alten, dicken Baderswitwe, die an der Straße schon mit etlichen Schachteln wartet, "so, Frau Doktorin, steigen Sie hinten nur einhi: es ist noch Platz genueg!" "'s sin'schon acht herinnen!" jammern da acht männliche und weibliche Stimmen aus dem Kasten heraus, "mehr gehen nicht herein!"

"O, da sind schon elf und zwölfe drinnen gesessen. Lassen Sie die Frau Doktorin nur einhi und verteilen Sie Ihre Schachteln untereinand, damit's keinen Unfrieden giebt; der Weg ist einmal z' naß für a solche Frau!" Während die Frau Doktorin hinten einsteigt, setzen sich vorne auf den Bock zwei engere Freunde des Tyrannen, die mit ihren breiten Buckeln und Hüten ganze Täler verdecken. "Aber man zahlt ja mehr fürs Kabriolett, weil man etwas sehen will!"

"Ja, die Burschen da wollen halt auch was sehen. Sie müssen grad zwischen durchschauen. Das gewöhnt sich bald."

Da der Kutscher meistens jung ist, so spielt neben Vater Bacchus auch Frau Venus in den Geschäftsgang sehr merklich hinein. Damals war kein Wirtshäuslein talauf und -ab, in welchem unser Hänsele nicht beiden Gottheiten opferte. Es wäre ihm aber auch gar zu schwer geworden, sie zu umgehen. Mehreremal schien er mit sich selbst zu ringen, aber wenn die liebliche Schenkin auf die steinerne Vortreppe trat und wehmütig nachrief: "Hänsele, fahrst gar vorbei?", so bewirkte dies jeweils in seinem Innern einen vollständigen Umschag. "Richtig", sagte er dann, wie wenn ihm etwas Vergessenes wieder eingefallen wäre, "richtig, da muß ich ja einen Brief abgeben! Kimm glei wieder." So ging er hinein in den Venusberg und ließ uns nur das Nachsehen. Meistens blieb er so lange aus, daß er alle zehn Gebote hätte übertreten können, doch nehmen wir lieber an, daß er kein einziges verletzt habe. Angenehmer wäre es allerdings gewesen, wenn er uns zu seinen unschuldigen Freuden Zutritt gestattet hätte, allein sein "Kimm glei wieder" war für uns ein verständlicher Wink, den Wagen nicht zu verlassen, so daß uns nichts übrig blieb, als mittlerweile auf trockenen Sitzen die Natur zu bewundern. Leider aber wurde uns dann an den statutenmäßigen Erholungspausen, das heißt auf den Umspannstationen, die Zeit wieder abgeschunden, welche Hänsele bei seinem sporadischen Götterdienst vertragen hatte. So kam es, daß wir Passagiere untertags beim besten Willen kaum unsern ordentlichen Mannstrunk zuwege brachten, während wir seinen Konsum ungefähr auf fünfzehn Seidel anschlugen. Nicht leugnen wollen wir aber, daß uns in diesen Tagen die innere Schönheit des Fuhrmannslebens wieder von neuem aufging. Was mag für einen empfindsamen Jüngling wünschenswerter sein, als die Jahre der Jugend so gewissermaßen in einer Pappelallee von trauten Freundinnen zu verleben, täglich mit ihnen zu verkehren und seine Ideen alle mit ihnen auszutauschen! Ja, wir erkannten neuerdings, welch tiefes und wahres Gefühl in jener Strophe liegt, die ein niederbayerisches Liedchen schließt und also lautet:

Fuhrmannsbue bin ich schon fünfthalb Jahr,
Fuhrmannsbue bleib ich noch lang;
Kann wohl sein daß ich stirb,
Eh' ich was anders anfang.