LUDWIG STEUB - ALPENREISEN
BERGWANDERUNG AUFS SPITZHÖRNLE
So war es sechs Uhr geworden. Da wir um zwei Uhr in Bruneck sein sollten,
weil wir zu Tische geladen waren, so schien es allerdings höchste
Zeit, den Gang aufs Spitzhörnle, wenn überhaupt noch, jetzt
zu beginnen. Die Luft war noch trübe, wenigstens gegen Westen hin,
während sich von Osten her ein schöner Tag anzukündigen
schien. Wir fragten wiederum unsern Mathes, der sich wiederum orakelhaft
ausdrückte. Nun traten aber der Wirt und die Kellnerin in unsern
Rat und sprachen entschieden für die Unternehmung. Dieses Votum schien
so uneigennützig, daß ich mich seinem Einflüsse selbst
nicht entziehen konnte. Wir berichtigten also die billige Rechnung, Mathes
nahm unsere Taschen und seinen Stock, zündete seine Pfeife an, und
nach freundlichem Abschiede von der Wirtschaft begannen wir unsere Reise.
Der Weg zieht lange bequem und ungefährlich aufwärts, zuerst
an Höfen vorbei, dann durch einsame Wiesen oder helle Lärchenwälder,
doch nicht an der Seite des Spitzhörnle, sondern vielmehr in einer
Einsattelung, Furkl genannt (furcola - kleine Gabel), welche jenes
von seinem nächsten Nachbar trennt. Nachdem wir etwa anderthalb Stunden
gegangen, blieb Mathes stehen und sagte, jetzt brauchten wir keinen Führer
mehr - auch sei es höchste Zeit für ihn, zurückzukehren,
da er sonst nicht mehr in das Sonntagsamt käme. Das Spitzhörnle
sei der Berg, der uns gegenüberliege und der, wie der Augenschein
lehre, ganz leicht und gefahrlos zu besteigen, bei dessen Besteigung gar
keine Verirrung möglich sei. Es war auch alles glaublich, was er
sagte, und so beschlossen wir denn, die erste Station abzuhalten, eine
Flasche Wein zu leeren und uns andere kleine Nachhilfen angedeihen zu
lassen. Mathes in seiner Bescheidenheit wollte kaum einen Tropfen annehmen,
noch weniger etwas essen - es sei viel zu früh für ihn. Fast
mit Mühe bewogen wir ihn, uns Bescheid zu tun, und sagten dann dem
wackern Burschen, der auch nur sehr mäßigen Trägerlohn
verlangte, ein herzliches Lebewohl.
Wir gingen nun in einen waldigen Tobel hinunter, überschritten einen
Bach und standen dann wirklich am Fuße des Spitzhörnle, welches
aber weder ein Spitz, noch ein Hörn oder Hörnle, sondern ein
sehr breiter, langhingestreckter Bergrücken mit einem ganz flachen
Giebel ist. Rechts und links waren lichte Wälder, in der Mitte ging
bis zur höchsten Höhe eine Grasblöße hinauf, und
durch diese stürzte ein kleines Bächlein herunter. Unsere Weisheit
hätte uns nun eigentlich raten sollen, rechts oder links einen Weg
im Walde zu suchen, wo der rauhe Boden und die Bäume selbst uns nicht
hätten ausgleiten lassen, allein der grüne Streifen in der Mitte
schien so einladend, daß wir alle Weisheit ganz beiseite ließen.
Also rüstig die Grashalde hinan!
Anfangs ging's auch ganz gut, aber je höher wir kamen, desto steiler
zeigte sich der Abhang. Die Sohlen hielten nicht mehr, das Gras wurde
immer schlüpfriger, und mich überkam ein Gefühl, als wenn
ich ganz nahe am "Abscheipen" wäre. Unter Abscheipen versteht man
aber jene unheimliche Gangart, mittels welcher der Wanderer, der auf einer
grasigen Halde ausgleitet, etwa drei, vier, fünf Minuten in beschleunigtem
Tempo bergab rutscht, wonach er dann unten zuweilen glücklich ankommt
und sich besinnen kann, ob er heimkehren oder im alten Geleise hartnäckig
wieder aufwärts klettern wolle, mitunter aber von der ganzen Partie
keine Erinnerung mehr hat, weil er sich unterwegs das Genick gebrochen.
In letzterem Falle sagt man einfach: Er hat sich verscheipt. Trost' ihn
der liebe Gott!
Um beiden Möglichkeiten auszuweichen, suchte ich nun das Bächlein
zu gewinnen, dessen kleines Bette mit kleinen Felsblöcken ausgelegt
war, so daß ich hoffen mochte, diese als Staffeln benützen
und so, von einem zum ändern steigend, die Höhe erreichen zu
können. Ging also vorsichtig auf das Bächlein los, fand aber
unterwegs, daß eine sumpfige Lache dazwischenlag, welche ohne Vermehrung
der Fährlichkeiten nicht zu umgehen war. Ich schritt also unverwandt
in den Morast hinein, rutschte aber aus und lag alsbald darinnen. Mein
Gefährte konnte mir die Hand nicht reichen, da er selbst um Erhaltung
seines Gleichgewichtes mühsam zu kämpfen hatte. Doch raffte
ich mich bald wieder auf und wollte meinen Weg nach dem Bache fortsetzen,
fand dies aber unmöglich, denn der kurze Zwischenraum, der mich von
ihm trennte, zeigte sich noch abschüssiger als die andere Halde.
Also wieder zurück durch denselben kleinen Sumpf, den ich aber jetzt
schon hinlänglich studiert hatte, um glücklich durchzukommen,
worauf ich den nahen Wald zu erreichen trachtete. Dies war jedoch nicht
gar so leicht, da die Sohlen in dem schmutzigen Bad nur noch schlüpfriger
geworden. Als mich aber der Fichtenhain in seine heiligen Schatten aufnahm,
war's mir gerade, als wenn ich eine kleine Lebensrettung zu feiern hätte.
Die Selbstbetrachtung, die ich sofort anstellte, ergab, daß ich
zwar nasse Socken erübrigt, am Leibe selbst aber kaum angefeuchtet
war, da die dicken Hosen dem Wasser trefflichen Widerstand geleistet.
Ganz nahe dabei war eine kleine verlassene Waldhütte, in welcher
auch ein Herd, auf dem aber kein Feuer brannte. Doch bot sie angenehme
Gelegenheit, die Socken zu wechseln und sonst noch zu ordnen, was aus
dem Geleise gekommen war.
Wir stiegen nun in dem Fichtenwald ohne weitere Erlebnisse aufwärts
und erreichten bald die Hochebene, die wir von unten auf als unser Ziel
betrachtet hatten. Sie war es aber keineswegs, denn der oberste Teil des
Berges staffelt sich in sanft geneigten Flächen auf, deren eine die
andere verbirgt, so daß die zweite erst sichtbar wird, wenn man
bis an den Saum der ersten vorgegangen. Über diese drei- oder viermal
wiederholte Täuschung wären wir gerne ungeduldig geworden, allein
da es uns doch nichts geholfen hätte, so unterließen wir es
lieber. Endlich, etwa nach einer halben Stunde, hatten wir die höchste
Stelle erreicht, den äußersten Rand, von welchem wir ins Pustertal
und auf Bruneck hinuntersahen.
Jetzt waren wir also oben, 7276 Fuß über dem Mittelländischen
Meere, und nun sollte das Entzücken unverzüglich beginnen. Seit
wir uns von dem guten Mathes getrennt, war aber der Himmel immer trüber
geworden. Gegen Süden standen die Wolken zwar so weit oben, daß
die Berge fast bis zu ihren Spitzen frei waren, allein die Sonne drang
nicht durch, und das ganze Hochland sah sehr blaß und leidend aus.
Der Langkofel, der Peutler Kofel, die Marmolata, sie standen alle riesig
und unheimlich vor uns, schauten uns aber so abgelebt und halbverstorben
an, als wenn sie nächstens von der Schaubühne abtreten wollten.
Ich hatte sie früher oft in so prächtiger Beleuchtung gesehen,
daß sie mir jetzt mehr Mitleid als Bewunderung einflößten.
Nur zwischen dem Schiern und dem Bozener Ritten ging der Blick weit in
die Ferne und konnte dort auf einem entlegenen Gebirgszuge mit Zufriedenheit
ausruhen. Dieser stand in vollem Sonnenschein, war ganz schneeweiß
und mit tiefen blauen Schatten durchzogen. Das muß die Gletscherkette
des Monte Adamello sein, die in Welschtirol zwischen dem Sulzberg (Val
di Sole) und dem italienischen Val Camonica liegt.
Die nördliche Reihe, welche vom Ötztal bis über den Glockner
hinausreicht, voll Schneefelder und Gletscher, aus denen der Venediger
herrlich aufragt, war aber gar nicht zu sehen, und gerade auf diese stillen
Eiskönige hatte ich mich am meisten gefreut. Nur die Vorberge des
Pustertales erschienen, und auch sie nicht einmal bis zur halben Höhe.
Es war, als ob eine graue Schlafmütze über sie gezogen wäre,
gerade bis auf die Augen herunter, nämlich bis auf die Dörfer,
die weißen Kirchen und Häuser, die sich im Mittelgebirge hinziehen.
So blieb uns denn kein anderer Trost, als die gedruckte Beschreibung wörtlich
abzulesen, welche mir Herr J.G.Mahl, der strebsame Buchhändler von
Bruneck, zum Abschied noch in die Tasche gesteckt hatte.
Sehr niedlich, wie zierlichst aus Holz geschnitzt, lagen dagegen Bruneck,
sein altes Schloß und eine Menge Dörfer, Kirchen und Burgen
weit unten im Tale zwischen Wald und Feld. Obgleich ohne Licht und Schatten,
war dieser Teil der Aussicht doch eigentlich das einzige Stück, an
dem man sich erfreuen konnte. Aus einem der Ansitze im östlichen
Teile der Stadt sahen wir auch ein feines dünnes Rauchwölkchen
aufsteigen, und wir verhehlten uns nicht, daß es wahrscheinlich
mit dem Rehbraten zusammenhänge, der uns für mittags verbindlichst
in Aussicht gestellt war. Während wir nun da in die Tiefe schauten
und uns erinnerten, daß wir um zwei Uhr schon unten bei Tische sitzen
sollten, fing es heroben zu schneien an, jedoch nicht stöbernd, sondern
sparsam und rücksichtsvoll. Doch begann ein kalter winterlicher Wind
über die Höhe zu blasen, der uns veranlaßte, auch die
letzten Knöpfe an unsern Röcken sorgfältig zuzuknöpfen.
Ich begann halblaut zu phantasieren: "Wären wir in St. Vigil bis
sieben Uhr liegen geblieben, dann in die Kirche gegangen, hätten
die Männlein und die Weiblein, ihren Wuchs, ihre Gesichter, ihre
Trachten besehen, wären dann wieder zum Frühstück ins Wirtshaus
zurück, wäre der Richter, der Herr Student, vielleicht mancher
andere würdige Mann aus Ladinien dazugekommen, hätten wir bei
einem Seidel Wein eine belehrende und anregende Unterhaltung gepflogen,
einigermaßen in der ladinischen Sprache herumgeforscht und uns dann
von unserm Mathes wieder nach Bruneck hinausfahren lassen - wer weiß,
ob wir nicht ebensoviel gelernt und noch mehr Vergnügen erlebt hätten
als hier auf dem Spitzhörnle oder Platzkron oder Plan de Corones?"
"Wir wären nur ausgelacht worden", entgegnete mein Begleiter.
"Das werden wir auch so - ich biete jede Wette an." Dies hat sich auch
so ziemlich bestätigt.
Als wir in Bruneck erzählten, daß wir auf der Spitze gewesen,
aber nichts gesehen hätten, wurden wir gerade so belächelt,
als wenn wir nicht hinaufgestiegen wären. Auch die traurige Geschichte,
wie ich ins Wasser gefallen, lockte niemand eine Träne des Beleids
ins Auge.