Familienkunde
von Franz Sylvester Weber.

Im Kriege bin ich mit einem reichen Bauern des Eisaktales bekannt geworden, einem rührigen, aufgeweckten und für seine Verhältnisse recht gebildeten Menschen. Ich sprach gerne mit ihm, denn man konnte mit ihm über alles und jedes reden. Einmal aber habe ich ihn, ohne es zu wollen, in große Verlegenheit gebracht. Er beschrieb mir nämlich die Größe seines Besitzes und es fiel dabei ein ziemlich unfreundliches Wort auf die armen „Fretter", seine Nachbarn und übrigen Gemeindebauern, und ich fragte zufällig, wie viel von seinem Besitztum er selbst erworben habe.

„Leider nur ein kleines Wiesel."

Wie viel denn sein Vater hinzugekauft habe, fragte ich — noch immer, scheinbar ohne Absicht, weiter.

„Auch nicht viel", lautete die Antwort. „Einen kleinen Wald! Was ich habe, stammt von meinem Großvater oder Urgroßvater oder vielleicht sogar vom Ururgroßvater — das weiß ich nicht."

„Das wissen Sie nicht?" fragte ich nun sehr erstaunt.

„Nein, das hat mich wirklich nie gekümmert. Ich bin froh, daß Wiesen und Wälder, Haus und Hof mir gehören."

„Wenn Sie nun aber als armer Bauernknecht angefangen hätten, wären Sie imstande gewesen, mit Fleiß und Sparsamkeit — und gutem Glück natürlich, zu einem so schönen Anwesen zu kommen?"

„Das ist ganz ausgeschlossen," lachte er.

„Nehmen wir an," fuhr ich fort, „Ihr Bub werde einmal gefragt von wem er die schöne, silberne Uhr habe, die Sie ihm im letzten Urlaub geschenkt haben, und das Kind antworte, es wisse das nicht —"

„Kreuzdonnerwetter, dann nehme ich ihm die Uhr wieder und haue ihm eins an die Ohren —"

„Aber von wem der Vater dieses Kindes Haus und Hof, Wiesen und Wälder hat, das weiß dieser Vater auch nicht." Und es zeigte sich, daß der gute Mann trotz seines Sinnes für Weltgeschichte nicht imstande war, mir die Namen seiner acht Urgroßeltern zu nennen. Ja, ich mußte ihn erst wirklich überzeugen, daß er wirklich acht Urgroßeltern habe -— zwei Eltern, vier Großeltern, acht Urgroßeltern. Er versprach mir hoch und teuer, das solle anders werden, sobald einmal der Friede da sei, und ich bin überzeugt, der Mann hat sein Wort gehalten.

Warum ich den Namen des Mannes nicht genannt habe? Weil es solche Leute mehr gibt in Dörfern und Städten, am Eisak, an der Rienz und Etsch, an der Talfer und Passer, Leute, die den Ruf gebildeter und sehr gebildeter Menschen genießen und von Kaisern und Königen, von Gelehrten und Feldherren, von Dichtern und Malern alles mögliche wissen, doch von ihren acht Urgroßeltern so gut wie nichts, nicht einmal die vollen Namen, geschweige denn Berufs-, Geburts-, Hochzeits- und Todesangaben, Lebensschicksale und Ehrenstellen. Und ich dächte, das alles sollte uns doch ein viel wertvolleres Wissen vorstellen als die solonische Verfassung, die Völkerwanderung und der dreißigjährige Krieg.

Haben deine Ahnen nicht mehr verdient als diese traurige Vergessenheit? Als dein Urgroßvater starb, hat ihm dein Großvater trauernd ein schlichtes Eisenkreuz gesetzt oder ein Denkmal aus Stein und hat mit dem Regen gezankt, der die Schrift des Grabsteines auslöschen wollte, und hat dem Rost gezürnt, der am Eisenkreuz zu nagen begann. Denn Wind und Wetter, Rost und Moder drohten, das Andenken zu zerstören; dein Großvater hätte es aber den spätesten Geschlechtern verkünden mögen, daß hier sein Vater ruhe. Das Denkmal steht vielleicht heute noch auf einem einsamen Friedhof, Wind und Wetter waren nicht so gefühllos gegen den alten Mann im Grabe wie seiner Enkel Kinder, die heute nicht mehr wissen, wo das Grab liegt.

Wir verdanken unseren Eltern nicht nur das Leben an und für sich. Unsere ganze Eigenart, körperliche und geistige Begabung, Neigungen und Gewohnheiten, Vorzüge und Fehler — das alles und noch viel mehr stellt sich als ein Erbe dar, das wir von unseren Eltern erhallen haben, und diese erhielten es wieder von ihren Eltern, unseren Großeltern, die wieder von unseren Urgroßeltern usw. Und je mehr Vorfahren wir kennen und je mehr wir von ihnen wissen, desto klarer ist uns alles, was wir an uns selbst beobachten können. Denn jeder von uns ist nichts anderes als ein Durchschnittsmensch und der Durchschnitt wurde von allen seinen Vorfahren gezogen, von den väterlichen und mütterlichen. Von den Ahnen, deren Namen wir tragen, haben wir verhältnismäßig viel weniger geerbt als von den anderen (den mütterlichen), denn die Zahl dieser anderen ist bedeutend größer. In der 64-Ahnenreihe z. B. führt ja nur ein Ahne unseren eigenen Namen und 63 Ahnen führen fremde Namen. Und von jedem Vorfahren haben wir etwas in uns, von diesem mehr, von jenem weniger. Unsere Vorfahren kennen heißt uns selbst kennen.

Die Geschichte unseres Lebens beginnt also nicht erst mit unserer Geburt, sie hat eine umfangreiche Vorgeschichte, die wie ein Strahlenbündel von uns selbst ausgeht und die ganze Weltgeschichte durchdringt, an Umfang immer zunehmend, an Kraft und Deutlichkeit immer mehr einbüßend. Das meiste aus dieser Vorgeschichte unseres Lebens haben wir freilich vergessen, es ruht eigentlich nur wie eine traumhafte, undeutliche, schwache Erinnerung in uns. Doch diese Erinnerungen verlieren ihre Traumhaftigkeit, sie können aufgefrischt und lebendig werden — und das Mittel zu dieser Auffrischung und Belebung ist die Erforschung der Geschichte unserer Vorfahren, die Familienkunde.

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Quelle: Der Schlern, 1. Jahrgang, 1. Heft, 1. Jänner 1920, S. 9 - 10.

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