Südtirol als Land der Naturforscher
von R. v. Klebelsberg.

Die Reben und Edelkastanien, die der Landschaft im Süden ein neues Bild geben, begleiten Südtirol als neues Gebiet für den Naturforscher ein. Der Brenner ist nicht Grenze, nur Scheitel einer breiten Grenzregion. Das Wipptal südlich von ihm gleicht nicht nur landschaftlich dem Anteil im Norden — die Gletschertäler von Pflersch und Ridnaun sind Seitenstücke zu denen des Stubai — es gehört wie historisch so auch naturwissenschaftlich zur zentralalpinen Gemeinschaft. Erst die Enge der Sachsenklemme ist das Tor zum Süden. Talschluchten sind im Relief des Landes und ihrer Entstehung nach natürliche Scheiden. Sie spielten diese Rolle vielfach in der Geschichte der Alpen. Im Kriege freilich ist die Erinnerung an diese natürlichen Grenzen mit der Stimme des Schwächeren verhallt.

Der blaue Himmel über den Reben und Edelkastanien, die relative Beständigkeit schönen Wetters, ist ein Vorrecht Südtirols, und zwar gerade jenes Südtirols, wie wir es heute fassen. Dieser Ruhm wird meteorologischer Wahrheit wie praktischen Vorteilen gerecht, vom Alpenkamme weg, der die Wasserdämpfe auffängt, nimmt die Niederschlagsmenge ab bis in die Mitte des Landes, dann, etwa von Bozen an, wächst sie wieder zu Zahlen, schon um Trient und Rovereto, von mehr als salzburgischer Höhe. Auf verschiedenen, getrennten und oft unabhängigen Wegen wirken die Witterungseinflüsse von der oberitalienischen Ebene her. Das Etschtal selbst spielt dabei die geringste Rolle; über ihm kann sich noch der blaue Himmel wölben, wenn von Südosten her an den lessinischen Bergen schon schwere Regenwolken branden und auf der großen Wolkenstraße vom Gardasee durchs Sarcatal breite, dichte Geschwader eilig gegen den Nonsberg segeln, um dann über Nacht auch dem Etschland die Trübung zu bringen. Ein anderer Wetterweg führt ganz im Westen, vom Veltlin, hoch in den Bergen an unserem Gebiet vorbei, Richtung Malser Heide. Der Feind des Südens, der an das nahe Hochgebirge mahnt, sind die kalten Nordwinde. Auserlesene Plätze schützen sich mit Berghängen gegen sie. Hie und da empfindet man den Wind als warmen Fallwind, Nordföhn.

Reben und Kastanien sind nur die bekanntesten von den Wahrzeichen des botanischen Südens. In der Gegend von Brixen und dem unteren Vintschgau beginnt der südliche, mediterrane Einschlag stärker zu werden, der mit ersten Vorposten schon um Sterzing und Schluderns eingesetzt hat und weiter nach Süden hin immer mehr zur Charakteristik der Flora beiträgt. Die nördlichsten Punkte des Vorkommens zahlreicher Pflanzenarten folgen an den beiden Tallinien nacheinander, bei manchen anderen, wie den Reben und Edelkastanien selbst, ist es nur die Nordgrenze für den Südabhang der Alpen. Die Zypressen von Atzwang kennzeichnen augenfällig den Fortschritt, bis um Bozen und Meran die südlichen Elemente voll zur Geltung kommen. Mit ihnen vermengen sich vielerorts alpine Typen, vereinzelt selbst hochalpine, die an den Bachläufen von den Bergen herab ins tiefste Tal steigen, oder es dringen anderseits die Südländer an den sonnigen Lehnen der Mittelgebirge hoch hinauf und grüßen sich auf nächste Distanz mit untersten Höhensiedlen. Es entsteht eine ganz eigenartige pflanzengeographische Vergesellschaftung, wie in den Tälern des Puschlav und Tessin.

Die Neulinge im Tierleben entgehen dem, der nur mit dem Zuge das Tal durcheilt. Sie rascheln zurück ins Gebüsch, wenn der Schritt des Wanderers naht, die schönen großen, schillernden, grünen Eidechsen, oder bewegen die Flügel zum Weiterfluge, die bunten Schmetterlinge des Südens; das „Entomologen-Heim" von Kollmann erinnert auch den Uneingeweihten an sie. Weiter drin, unter Bozen, kommen freilich mit den Vipern und dem „Leiferer Tod" auch üble Gesellen zur Fauna des Südens — dem Interesse tut Gefahr keinen Eintrag.

„Auch die Menschen scheinen mir anders. Ist es nur der Reben Blut oder sind es wirklich anderer Vorfahren Abkömmlinge?" Das Ja fällt nicht schwer, alles Nähere aber ist noch in Dunkel gehüllt. Denn nur jene eine Geschichte von der Goten-Abstammung hat sich eindeutig gelöst, deren kurze Beine im Schnitt der Hose ihre Erklärung fanden. Sonst weiß man nach wie vor fast gleich wenig von der wahren Goten-, Vandalen-, Zimbern-, Genaunen-Natur wie von ihren Beziehungen zu den angeblichen Nachkommen. Es sind nicht die außerordentlich hohen Prozentsätze an Hyperbrachykephalen im Eisak- und Sarntale, in Passeier und Vintschgau, die die Eigenart der bodenständigen Bevölkerung ausmachen — sie finden sich ähnlich auch in nordseitigen Alpentälern — es ist mehr der blonde helläugige Typus der beiden mittleren Gebiete, der einen anthropologischen Gesichtspunkt in das ethnographische Problem Südtirols bringt. Dasselbe gehört ungelöst und ungeschmälert der Zukunft.

Enger und unmittelbarer als zu einer anderen Naturwissenschaft sind die Beziehungen des Landes zur Geologie. Noch schärfer spricht sich da seine Eigenart und Neuartigkeit aus, in den Gesteinen, die es aufbauen, wie in den Formen seiner Oberfläche. Auf die Schiefer des Zentralalpenhanges folgt die weite Porphyrplatte, zusammengesetzt aus einem mehrfachen Wechsel von Lava-Ergüssen und Tuff-(Aschen)schichten, in denen die ältesten bekannten Lebewesen der Gegend, Pflanzenreste, eingeschlossen sind; dann die bunte Folge der Dolomiten-Gesteine, die durch ihre erstaunliche Fülle von marinen Versteinerungen ihre Bildung im Meere der Triaszeit erweisen und auch durch ihren Reichtum an schönen Mineralien früher als irgendein anderes Gebiet im Innern der Alpen die Aufmerksamkeit nach sich gezogen haben. Schon vor einem halben Jahrhundert sind die Dolomiten zum Paradies der Naturforscher geworden. Durch das örtliche Zusammenwirken verschiedener geologischer Prozesse, marine Sedimentation, Riffbildung, Vulkanismus, Architektur, ist hier eine unerschöpfliche Quelle naturgeschichtlicher Erkenntnisse gespeist worden. Am Rande des geologischen Südtirol sind, von Meran bis ins Pustertal hinein, mächtige Granitmassen aus dem Innern der Erde emporgedrungen, die weiteres wichtiges und interessantes Material liefern. Als die Bausteine alle vorhanden waren, hat das Gebirge, im Tertiär, durch letzte Bewegungen der Erdkruste seine heutige Struktur erlangt. Dann folgte im Wege der Erosion die Formentwicklung der Oberfläche, die Ausbildung der Hochflächen, die sich hier weithin erstrecken, der Täler und Mittelgebirge. Die Taltiefen wurden später wieder aufgefüllt mit Schottermassen, die im Zusammenhange mit einer gewaltigen eiszeitlichen Vergletscherung zum Absatz gekommen sind, und nur zum Teil wieder ausgewaschen.

Den Abschluß der geologischen Entwicklung bedeutet das Auftreten der Vegetation, der Tierwelt und des Menschen — der Kreis unserer flüchtigen Betrachtung schließt sich zur Gesamtnatur des Heimatlandes.

Bauernhof bei Klausen, Hugo Atzwanger

Bauernhof bei Klausen
Hugo Atzwanger

Quelle: Der Schlern, 1. Jahrgang, 1. Heft, 1. Jänner 1920, S. 13 - 15.

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