Aus dem Oberinntal'schen Bauernleben.
Zur Geschichte des Aberglaubens und der Bauernmedizin
von J. Günther.

Das belehrendste und lohnendste zugleich ist unstreitig ein genaues und liebevolles Eingehen auf das Leben des Volkes. Der Nationalökonom, der Jurist, der Geschichts- und Sprachforscher, alle finden hier die reichsten Gruben köstlichen Erzes, nicht minder der Poet, dessen Auge hier noch Naturfrische und Naturfreudigkeit erquickt und gesunde, wenn auch oft derbe Sinnlichkeit, während ihm die vornehme Welt häufig nur das Bild der Blasiertheit darbietet und grübelnder Skepsis, in deren Spiegel sie mit ironischem Lächeln ihre eigene Hohlheit betrachtet. Man kann sagen: im Volk allein trifft man noch Individuen, scharf ausgesprochene Charaktere, da der alles Eigenartige nivellierende Ton des Parketts jeden in eine Schablone preßt und den Einzelbegriff verwischend fast nur Gattungen duldet. Nicht wenig trägt hiezu das im modernen Leben so sehr häufig über alles Maß florierende Parteigetriebe und die dabei nötige stramme Disziplin bei.

So erfreuliche Erscheinungen nun einerseits das Volksleben zeigt, so wenig wird ein Freund der Wahrheit sich verhehlen können, daß manch dunkler Schatten dies Bild entstellt, daß neben gesundem Sinn und hellem Verstand noch eine große Dosis Mittelalter in den Köpfen vieler steckt, Aberglauben aller Art noch unumschränkt dominiert und das Vorurteil, namentlich gegen die moderne Wissenschaft, dort noch festen Boden unter den Füßen hat, welch letzterer Umstand oft freilich auch noch anders zu erklären ist, da es im Interesse gewisser Leute liegt, die Leuchte des Wissens vom Volke ferne zu halten, weil ja sonst naturgemäß das künstliche Gebäude ihrer angemaßten Herrschaft in Trümmer gehen müßte.

Namentlich sind es die Naturwissenschaften, die bei unsern Leuten - ich spreche hier zunächst, von den Oberinntalern, als den mir am besten bekannten - noch gar sehr im Argen liegen, und von deren Weltherrschaft sie nichts wissen wollen, weil gerade sie ihre liebsten Vorurteile und antidiluvianischen Weltanschauung am unbarmherzigsten zerstören. Zwar hat das Thermometer, auch in den Seitentälern, schon die meisten Hexen, die sonst beim Buttermachen - Schlägeln - nicht ungern im Butterfaß sich aufhielten, vertrieben, und der Schulmeister hat durch seine Lehre über die Irrwische schon manche brennende arme Seele erlöst, selbst die Wetterhexen mußten ihr Metier einstellen, weil es auch der Hans und der Jörgl nicht mehr zeitgemäß fanden, daran zu glauben; allein noch immer nicht hat für unsere Bauern Benjamin Franklin gelebt. Wozu auch? Ein Ölzweig am Palmsonntag geweiht und die ebenfalls am selben Tage zu großer Kraft gelangten "Polmkatzln" *) tun, bei ,Hochwetter' in's Feuer geworfen, denselben Dienst, wie des großen Amerikaners Erfindung. Die gleichen Blütenkätzchen der Salicineen müssen auch für Halsweh helfen, versteht sich muß ein guter "Segen" darüber gesprochen worden sein, was, wie das Volk glaubt, besonders die Kapuziner loshaben.

*) Blüten der gewöhnlichen Weide.

Darum ist auch so ein kluger Hausvater, der noch "a bißt a Regilion" hat, nicht knauserig und greift ordentlich in die Korntruhe, den Schmalzkübel und Eierkasten, wenn der Sammelpater (Mönche bez. Kapuziner und Franziskaner beziehen ihren Gehalt von den Bauern in Naturalien) kommt. Dafür kriegt aber jedes der Kinder und Ehehalten ein schönes Heiligenbildchen, und die Mutter ein Amulett, das sie den Kleinen blos umzuhängen braucht, wenn sie den Keuchhusten haben. Die fromme Frau wagt dasselbe kaum anzurühren; denn, wie der fromme Herr sagt, sind da drin gar kostbare Dinge: ein Stück vom Schleier der Mutter Gottes, etwas Weniges von der Zehe des hl. Laurentius und dergleichen Raritäten mehr. Der Hausherr erhält ein Kreuzlein, das bei der Altöttinger Gnadenmutter an einem Tage, wo sie besonders wunderwirkend aufgelegt war, angerührt worden ist, und das, am bloßen Hals getragen, für Rheumatismus und Zahnschmerz hilft. Dabei hat er noch obendrein das bene, daß, wenn er vor diesem Kreuz täglich den englischen Gruß betet, er mindestens um zehntausend Jahre früher aus dem Fegfeuer erlöst wird. Die dankbare Familie drängt dem edlen Geber ganz gerührt noch ein großes Stück Speck in die ob solcher Frömmigkeit widerstandsunfähige Hand. Noch ein Segen, und die Komödie hat ein Ende! Ich war bei dergleichen Gelegenheit stets so boshaft, mich an jene köstliche Szene in Goethe's Faust zu erinnern:

Mephisto: Wollen's der Mutter Gottes weihen,
Wird euch mit Himmelsmanna erfreuen.
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Und sie waren sehr erbaut davon.

Wahrlich, wenn es auf der Welt eine Sünde gibt, so ist ganz sicher das eine Todsünde, wenn man den frommgläubigen Sinn des vertrauenden Volkes zu gewissenlosen, wucherischen, besser sage ich, beutelschneiderischen Zwecken ausbeutet!

Es ließen sich Beispiele, wie die obigen, noch genug anführen, aber das Gegebene kann hinreichen, um sich ein beiläufiges Bild zu machen, wie es in solchen Dingen bei uns aussieht.

Viel harmloser, wenigstens in Bezug auf geistige Entwicklung, wenn auch nicht für das materielle Wohl unschädlicher, ist die Zähigkeit, womit der Bauer in vielen Fällen den Rat eines verständigen Arztes zurückweist und lieber seine Zuflucht zu den ihm vom Urahn hinterlassenen Rezepten nimmt. Obwohl in vielen Gegenden der Glaube an das Allwirkende sogenannter Hausmittel bereits sehr im Abnehmen begriffen ist, so hört man doch häufig genug über die "Neumodi-Doktor" schimpfen, die durchaus nicht einsehen wollen, daß die Luft in Bauernstuben im Winter voll der entsetzlichsten Hitze und erstickenden Tabakqualms nicht für den Kranken, der eigens aus seiner kalten Kammer in die Stube geschleppt wird, zuträglich sei. Erkrankt jemand, so wird ihm sofort vom Familienrat eine Riesenportion Kamillentee ordiniert. Abends kommt noch eine große Auflage Lindenblütentee dazu. Wenn er's am andern Tage nicht herausgeschwitzt hat, so kommt der zweite Grad bauernmedizinischer Folterung: Purganz und Brechmittel. Eine tüchtige Portion Weinstein tut in der Regel die gewünschte Wirkung. Nur solid darf die Sache nicht sein; "Unterschi und überschi" muß es gehen, sonst heißt es gleich, der "Dreck greift nicht an". Geronnene (gestockte) Milch und Molken reicht man zum Nachgießen. Ob Magen und Unterleib des Patienten auch ungeheuer schlimm dabei wegkommen, kümmert niemanden. Will es noch nicht gehen, so holt man halt doch in Gottes Namen den "Bader", der dann zusehen kann, wie er mit dem gequälten Menschen zu Recht kommt, da die Leute einen furchtbaren Abscheu vor Medikamenten der sogenannten "lateinischen Kuchel" haben.

Bei geringern "Übligkeiten" muß ein Glas "Kranebitter" oder "Enzeler" die erforderlichen Dienste leisten. Auch Arnikatinktur verschmäht unser Mann nicht einzunehmen, wenn ihm innerlich etwas weh tut. Tee, bereitet aus Blüten von Salbei (salvia pratensis), Schafgarbe (achillea millefolium) fehlt nicht in seiner Apotheke. Sehr viel hält er auch auf Kümmel (carum carvi) den er gerne kaut, und womit er auch das eingehackte Rübenkraut würzhaft macht, sowie mit der Beere der Kranebittstaude, die auch als sehr heilkräftig gilt. Viel reichlicher bestellt ist die Bauernapotheke für Verwundungen, überhaupt für äußere Krankheiten. Die Wolle der Distelblüte (cardia fulonum) oder gestoßene Holzkohle stillt sein Blut bei Verwundungen. Verrenkungen heilt er sich durch Einreiben mit Arnikatinktur; bei kleinern Wunden gebraucht er die zerquetschten Blätter des Spitzwegerich, ist der "Schaden" ein größerer, und ist "wildes Fleisch" daran gewachsen, so gießt er Tabaksaft darauf, und wenn das "zu wenig" ist, kocht er die kleingehackte Wurzel von berberis vulgaris (Berberitze) und schlägt sie um, was ungeheueren Schmerz verursachen soll; die eingesottenen Beeren derselben Staude retten ihn vor Auszehrung. Bei Geschwüren nimmt er die Wurzel der weißblühenden Schwarzwurz (symphitum officinale), unsern Hausfrauen als Seifenwurzel bekannt, und kocht sie mit Linsenmehl (sog. Lauterermehl) zu einem Brei, der aufgelegt wird. Für das rote Rotlauf hilft das Einräuchern mit rotem Türken; die Kerne werden auf eine Glutpfanne geworfen, und darüber hält man den kranken Körperteil. Bei Beinbrüchen kocht er sich eine Salbe aus gelbem Pech, Eiweiß und Bolus, die so lange umgeschlagen bleibt, bis das Pflaster selbst abfällt.

Für "schwindende Glieder" und bei Lähmungen gebraucht man das Fett der Murmeltiere (marmotta alpina), das sog. "Murmentelschmalz"; Hasenfett zieht eingetretene Glasscherben und Nägel aus. Den Zahndoktor macht der Bauer bei sich und seiner Familie selbst. "Heraus damit" ist sein erstes und einziges Rezept. Das bewerkstelligt er so: er stellt sich auf einen Stuhl, schlingt das eine Ende eines starken Fadens fest um den kranken Zahn und das andere an einen an der Zimmerdecke befindlichen Nagel und springt dann rasch vom Stuhl herunter. Diese Methode des Zahnausreißens ist zwar etwas waldursprünglich, aber "heraus muß er". Etwas nach Roßkur muß bei ihm alles schmecken, sonst glaubt er zum Vornherein an keine Wirkung.

Kann der Bauer bei ernstlichen Krankheitsfällen denn durchaus kein Vertrauen zum Dorfchirurgus, dem "Bader", gewinnen, was ihm, unter uns gesagt, oft gar nicht zu verübeln ist, oder scheint ihm der Medikus zu wenig "oben zu haben", so pilgert er zu einem sogenannten Bauerndoktor oder konsultiert einen solchen wohl auch gleichzeitig neben dem eigentlichen Arzt, was natürlich geheim gehalten werden muß, da der von der Gemeinde aufgestellte Arzt die unbefugte Einmischung, wenn auch nicht aus andern Gründen, so doch aus Brotneid schon durch eine gerichtliche Anzeige ahnden würde. Derartige rustikale Heilkünstler haben auf freundschaftliche Befürwortung ihrer diplomierten Kollegen schon oft im Karzer gesessen. Es sind dies Individuen, von denen man schwer sagen kann, wo sie eigentlich ihre Wissenschaft her haben. Man kann durchaus nicht immer behaupten, daß diese Autodidakten - das sind sie durchweg - immer ungeschickt seien, im Gegenteil, sie machen oft glückliche Kuren, und manch feiner Stadtherr ist eines schönen Tages auf's Dorf zum Heilkünstler gefahren; denn diese Leute genießen oft im ganzen Land einen bedeutenden Ruf. Im Ganzen und Großen bleibt es aber doch immer ein Unwesen, namentlich da jetzt jedes Dorf Leute besitzt, die ihre medizinischen Studien vollendet haben. Zudem läuft schon auch viel Marktschreiern und Scharlatanerie mitunter, die leider nur zu oft ihre Opfer unter der leichtgläubigen Menge fordern.

Wie gesagt, in recht verzwickten Fällen, bei emem alten "Beggel" **) muß

**) Beggeln - kränkeln. "Ein guter Beggel dauert hundert Jahre", sagt ein tirolisches Sprichwort.

der Bauerndoktor her. "Der kennt's gleich aus dem Urin." Ein Fläschchen voll davon hat jeder Bauer im Sack, wenn er zu so einem geht. Daraus wird die Diagnose gemacht. Kann er nicht "aus dem Spiegel lesen", so ist er "für nuet". Manche können aber noch mehr, als das, sie wissen aus dem Uringlas genau Tag und Stunde der Geburt des Kranken anzugeben und solche Kunststücke mehr. Je unverschämter, desto besser, das imponiert. Sie illustrieren vortrefflich den Goethe'schen Spruch:

Darf man das Volk belügen?
Ich sage nein;
Doch willst du es betrügen,
So mach es nur recht fein.

Es sind findige Köpfe unter diesen Leuten, die ihre Pappenheimer kennen.

Oft sind es ganz unschuldige Mittelchen, die sie verschreiben, manchmal aber auch, wenn der Bauer etwas "Richtiges", das wirkt, verlangt, Medikamente wie für ein Vieh.

In der Regel sind sie pfiffig genug, der Natur nur ein wenig nachzuhelfen, was, wenn Goethe anders Recht hat, auch die Gstudierten tun.

"Ihr durchstudiert die groß' und kleine Welt,
Um es am Ende gehn zu lassen, wie es Gott gefällt!

Mit der fortschreitenden Aufklärung werden übrigens auch unsere verbissensten Wissenschaftsfeinde unter den Bauern einsehen, daß es mit dem "der Nönl hot's o so köt (gehabt)" nicht abgetan ist, und hat der Bauer erst einmal die Segnungen erkannt, welche die Wissenschaften ihm bringen, sieht er den materiellen Vorteil, den sie seiner Wirtschaft bieten, so wird er gerne zugreifen, und dann wird für ihn auch die Zeit seiner geistigen Emanzipation kommen, wo er selbst über den Aberglauben, an dem er früher gehangen, lächelt. Hoffen wir für unsern Landsmann auf ein baldiges, freudenreiches Ostern!

Quelle: Aus dem Oberinnthal'schen Bauernleben. Zur Geschichte des Aberglaubens und der Bauernmedicin. J. Günther, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 6. Band, Gera 1873, S. 96 - 100.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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