Der Hirte.
Dem Landmanne ist das Vieh der kostbarste Theil seines Besitzes - das Gedeihen seiner Rinder, Schafe und Schweine ist ihm Herzenssache, und der Verlust eines Pferdes geht ihm oft mehr nahe, als der Tod eines Familiengliedes*). Kein Wunder daher, daß der Bauer die Sorge für sein Vieh, neben der Sorge für den Acker, seine Hauptsorge sein läßt; kein Wunder, daß ihm der Führer seines Viehes, der Gemeindehirte, eine sehr wichtige, ja vielleicht die wichtigste öffentliche Persönlichkeit des Dorfes ist - was auch schon aus dem Umstande hervorgehen dürfte, daß er, wohl allgemein in der Provinz, der Burgemeister genannt wird **).
*) Vergl. Preuß. Sprichw.,
Nr. 261 und 947.
**) Seine Bedeutung ist in Folge der fast völlig durchgeführten
Separationen, wodurch die gemeinsamen Weiden aufgehört und das gemeinschaftliche
Hüten des Viehes zur Unmöglichkeit geworden, gegenwärtig
in starker Abnahme begriffen; ja in vielen Gegenben hat der Dorfhirte
bereits aufgehört oder steht, das Gnadenbrot essend, auf dem Aussterbe-Etat.
Um so gerechtfertigter dürfte es erscheinen, Wesen und Bedeutung
der Wirksamkeit eines guten Hirten, wie sie aus den Vollsüberlieferungen
sich feststellen lassen, in ein Bild zu fassen, das der Vergangenheit
und Gegenwart entnommen, hinüberdauere in die Zukunft.
Ein guter Hirte muß mehr können, als das
Vieh treu bewahren - er muß es verstehen, die Heerde gesund und
beisammen zu halten; ihm muß es ein Leichtes sein, dem Wolf den
Rachen zu verschließen und dem Zauberer den Mund; er muß die
feindlichen Kräfte der Natur zu beschwören, Krankheiten zu heben,
bösen Zauber zu bannen wissen - er der Wissende unter den Dummen,
der Weise unter den Thoren.
Der Hirte von altem Schrot und Korn ist einmal der Führer und Wächter
seiner Heerde und sodann ihr Arzt. In letzterer Eigenschaft haben wir
ihn bereits kennen gelernt; denn er ist es, der, wenn ein Stück Vieh
erkrankt ist, mit seinen Zaubersprüchen und Bannformeln als rettender
Helfer herbeigerufen wird. Wir haben also hier nur noch den Hirten als
Leiter und Beschützer seiner Heerde zu betrachten.
Als solcher kann er uns unmöglich in dem "ewigen Gleichmaß"
seiner täglichen Beschäftigung interessiren - er treibt heute
wie gestern seine Rinder auf die Weide und führt sie am Abende in
die Ställe zurück; wohl aber ist von hervorragender Bedeutung
der erste Tag des Austreibens der Heerde, welche wichtige Handlung
in manchen Gemeinden (Superintendentur Gerdauen) sogar Gegenstand kirchlicher
Fürbitte ist. (Hintz, S. 11.) - Daß
dieser Tag auch von ihm, dem Hirten, in richtiger und würdiger Weise
eingeleitet und vorbereitet werde; daß der erste Schritt der Thiere
in's Freie ein geweihter sei, durch den sie gegen Raubthier und bösen
Zauber für das ganze Jahr gefeit werden: das ist die ernste, ja heilige
Sorge eines Hirten, der kein Miethling ist.
Der Tag des ersten Austreibens ist nicht in allen Gegenden der Provinz
derselbe. Gegenwärtig wird dessen Wahl vorzugsweise wohl von der
Witterung abhängig gemacht, doch hält man auch heute noch bestimmte
Tage als für dieses wichtige Werk besonders gesegnete.
Als ein solcher gilt der Sonntag Oculi (im März). Da das Evangelium
dieses Sonntages von der Austreibung des Teufels handelt (Luc. 11, 14-28.),
so vermag an diesem Tage Niemand durch des Teufels Hülfe, Macht und
Ränke dem Nächsten "Schabernack" am Vieh oder in der
Wirtschaft zu thun. Das Vieh kann am leichtesten behext oder verrufen
werden, wenn es zum erstenmale die Stallschwelle überschreitet: man
treibt es daher am sichersten an dem genannten Sonntage aus, an welchem
eben jedes Teufelswerk unmöglich ist. Das Austreiben geschieht nach
beendigtem Gottesdienste. Der Besitzer geht nach Schluß der Kirche
zum Hirten und spricht:
Jesus trieb einen Teufel aus,
So treib' ich meinen Hirten aus!
Der Hirte nimmt hierauf die ihm entgegengeführte Heerde mit folgenden Worten in Empfang:
Jesus trieb einen Teufel aus,
So treib' ich meine Heerde aus!
und zieht mit ihr hinaus nach dem Weideplatze zur feierlichen Einsegnung derselben, treibt dann zu den Grenzmarken und zurück in den Stall. Knechte, Mägde und solche Personen, welche beim Treiben behülflich gewesen, werfen sich gegenseitig in die Gräben oder weiden bei der Heimkehr mit Wasser begossen, damit die Kühe recht viele Milch geben. (Samland.)
Andere für das erste Austreiben günstige
Tage sind Maria Verkündigung (25. März), der St. Georgstag (23.
April) und Walpurgis (1. Mai). In Masuren war es, als es noch Gesammthütungen
gab, Regel, das Vieh zu Mariä Verkündigung, und wenn auch nur
auf eine Stunde auszutreiben. (Töppen, S.
36.) - Der St. Georgstag ist überhaupt für den Hirten
ein Tag von Bedeutung. Liegt sein Dorf nahe an einem Walde, oder seine
Weide gar in dem Walde, so fastet er an diesem Tage, damit der Wolf, St.
Georgs Reitpferd, seine Heerde verschone. (N. Pr. Pr.-Bl. X, S. 118, Nr.
184.) - Der 1. Mai gilt in einigen Gegenden als ein unheilvoller Tag:
der Hirte treibt an ihm das Vieh nicht aus, weil es sonst vom Wolfe gefressen
werden würde. (A. a. O. Nr. 185.)
Günstige Wochentage für das erste Austreiben sind Montag, Mittwoch
und Freitag. (Dönhoffstädt.)
Gewöhnlich geht der Hirte, bevor er das Vieh zum erstenmale austreibt, zum heiligen Abendmahle, wenigstens besucht er die Kirche. Bei dieser Gelegenheit setzt er sich in Besitz von Graberde, Kirchensand und Glockenfett. Letzteres nimmt er aus der Klöpfel-Oese einer Kirchenglocke. Früher schon beschaffte er sich Zwölften-Asche, Teufelsdreck (asa foetida), Kerbel, Tarant*) und Kreuzholz, d. h. Holz von einem Grabkreuze. Die Zwölften-Asche wird in der Zeit der Zwölften (25. Decbr. bis 6. Januar) gewonnen, welche Zeit in dem Hause eines guten Hirten genau "gehalten" werden muß: - es darf in derselben nicht gesponnen, nicht gemangelt, d. h. Wäsche mittelst einer Rolle geglättet, nichts geliehen werden, sonst kommt der Wolf in die Heerde. Auch darf in diesen Tagen der Dünger nicht aus dem Stalle und vor Allem der Kehricht nicht aus der Stube geschafft werden, vielmehr wird er unter das Bette gefegt und nach Beendigung der Zwölften zu Asche, der eben genannten Zwölften-Asche, verbrannt, welche sorgfältig aufbewahrt wird.
*) Nach Grimm, Deutsche Sagen, 2. Aufl. I, S. 71: Marrubium vulgare; nach Ruppius Sonntagsblatt, Jhrg. 1867, S. 68, in dem Artikel: "Federzeichnungen aus Mecklenburg", Campanula latifolia; nach Wuttke, der deutsche Volksaberglaube, 2, Aufl. S.100: Antirrhinum, Linaria arvensis; oder auch Gentiana Pneumonanthe. Vgl. Gegen Verrenkung, S. 93.
Diesen ersten Vorbereitungen schließt sich die
Instandsetzung des Hornes, der Kuhglocken und der Klappern an. Das aus
der Kirche geraubte Glockenfett wird unter Theer gemischt, und mit dieser
Mischung werden Hörn, Glocken und Klappern eingeschmiert. Der Theer
muß jedoch aus den Rädern eines Wagens kreuzweise entnommen
werden - also: linkes Vorder-, rechtes Hinterrad, rechtes Vorder-, linkes
Hinterrad -, wenn er Wirkung ausüben soll. Die also vorbereiteten
Glocken und Klappern werden später dem "leckerigten" Vieh
umgehängt, welches vorzugsweise Neigung hat, sich von der Heerde
zu entfernen.
Durch diese Vorbereitungen ist das Vieh gebannt; denn wie die Räder
des Wagens in ihrer Bewegung beisammen bleiben und nicht nach allen vier
Richtungen hin entlaufen: so hält auch das Vieh zusammen, das mit
dem Theer der Räder eingeschmierte Glocken trägt; es hält
um so inniger zusammen, als diese auch mit dem Fette der Kirchenglocke
gesalbt sind. Läßt diese ihr Geläute vernehmen, so mischt
es sich mit dem Ton der Kuhglocken, die eine antwortet der andern, und
alle bindet der heilige Klang. Ertönt derart einend die Kirchenglocke
nicht, so läßt nöthigenfalls der Hirte sein Horn erschallen,
das ja ebenfalls das Fett der geweihten Glocke enthält und somit
auch deren Wirkung übt.
Doch noch ein wichtiges und für den echten Hirten hoch wesentliches
Geschäft ist zu besorgen, bevor das Vieh ungefährdet ausgetrieben
werden kann: es müssen die Land- und Grenzmarken besucht oder, in
der Sprache des Hirten, es muß Markungsumgang
gehalten werden. Derselbe geschieht in der Regel Tags oder, besser
noch, Nachts vor dem Austreiben des Viehes und zwar in aller Stille. Der
Hirte rüstet sich aus mit den bereits früher erwähnten
Stoffen: er nimmt neun Hände voll Erde von einem Grabe, je drei Hände
voll Erde von drei Maulwurfshügeln, eben soviel Zwölften-Asche,
dann Kerbel, asa foetida, Tarant, Kreuzholz und Kirchensand; letzterer
muß aber vor dem Altare gelegen haben. Alles dieses wird untereinander
gemischt und auf dreimal soviel Theile, als Grenzhügel der Gemeinde
vorhanden sind, vertheilt; jeder Theil wird in einen Todtenlappen - ein
Stück von dem Linnen, womit eine Leiche abgewaschen worden ist -
gelegt. Mit diesen Bündelchen ausgerüstet, hält der Hirte
seinen Umgang und legt in jeden Grenzhügel drei derselben. Ob er
dabei beschwörende Worte spricht, hat sich nicht feststellen lassen,
doch dürfte dies anzunehmen sein. Die Weide ist nun gefeit: das Vieh
geht schlimmstenfalls bis zu den Grenzhügeln, wagt sich aber nicht
über diese Marken hinaus. Ueberschreitet es dennoch einmal die Grenze,
so ist dies ein sicheres Zeichen, daß ein feindlich gesinnter Genosse
einen "Schabernack" gespielt, der oft so mächtig wirkt,
daß das Vieh überhaupt nicht mehr zusammenzuhalten ist*). -
Das ruhige Beisammenbleiben der Heerde kann der Hirte auch dadurch befördern,
daß er die Kohlen seines Waldfeuers stets sorgsam zusammenscharrt.
(Rosenheyn, Reiseskizzen II, S. 95. Töppen,
S. 97.)
*) So ging es einmal dem Hirten E. in Klycken, Kirchspiels Heil. Kreuz. Er hatte stets um die Mitternachtsstunde seinen Markungsumgang gehalten und auch sonst genau alle Zeichen und Vorschriften gethan, die ein guter Hirte für nöthig erachtet, um sein Vich zusammenzuhalten. Es war ihm solches auch stets geglückt, bis mit einemmale seine Thiere die Grenzmarken nicht mehr respektirten - es war als zöge eine geheime Macht sie über dieselben hinaus. Unser E. war mit seiner Kunst zu Ende und wandte sich Hülfe suchend an einen benachbarten Genossen, der als ein mächtiger Zauberer bekannt war. Für einen Thaler sagte dieser seine Hülfe zu und versprach, über Nacht E.'s Grenzmarken zu untersuchen. Als am nächsten Morgen E. sein Vieh austrieb, lehnte der alte Meister am Heckthor und rief: "Naber, du sallst ok sehne, wo di de Schawernack gespeelt öss, de Boll ward et di wiese!" Und als nun der Bulle an das Heckthor kam, fing er an heftig zu brüllen, rannte brüllend vorwärts und hielt erst an dem Grenzhügel von Plautwehnen, Kirchspiels St, Lorenz; hier begann er eifrig zu scharren. Als die beiden Hirten dem Thiere nachkamen, scharrte es eben alte Lumpen aus der Erde, welche einen furchtbar stinkenden Stoff enthielten, den die Hirten nicht kannten. E. mußte das Vorgefundene verbrennen, und von Stund an fraß sein Vieh wieder ruhig und überschritt nicht mehr die Grenzmarken.
Wir haben bis jetzt uns mit den Vorbereitungen für den Tag des ersten Austreibens beschäftigt, wenden wir uns nunmehr diesem wichtigen Tage selbst zu. Mit dem Morgengrauen erhebt sich der Hirte vom Lager; er beginnt sein Werk, durch "Teufelsspuk" vorbereitet, als guter Christ mit einem Aufblicke zu Gott.
Mein Werk will ich mit Gott anfangen
Und meinem Herrn Jesu Christ etc.
Diesen Liedervers singt er in stiller Andacht. Schweigend geht er aus in's Dorf, schweigend nimmt er die einzelnen Stücke der Heerde in Empfang, schweigend treibt er sie hinaus zur Weide und kehrt mit derselben ebenso schweigend am Abende heim: - er blieb den Tag hindurch stumm, um auch dem Wolf den Mund zu schließen, der nun kein Stück seiner Heerde nehmen kann. Dieses große, ernste Schweigen darf jedoch von den feierlichen Reden unterbrochen werden, welche zum Besten der Heerde zu halten sind. Da hat er denn noch vor seinem Ausgang ein Vorhängeschloß (Knippschloß, wie es die Leute nennen) mit den Worten abzuschließen:
Hans, öck verschlut di dat Muul!
Mit dem Namen Hans bezeichnet er den Wolf; denn ein rechter Hirte nennt den Wolf nicht beim Namen, er kennt sehr wohl das Sprichwort: Wenn man den Wolf nennt, dann kommt er. Das Schloß steckt er von draußen unter eine Latte seines Daches, unter das er nun vor Abend nicht mehr treten darf, und hier bleibt dasselbe, bis im Herbste ausgehütet ist*). Auch durch diese Ceremonie soll dem Wolfe der Rachen geschlossen und es ihm unmöglich gemacht werden, ein Stück der Heerde zu zerreißen.
*) Als äußerster Termin für den Schluß des Hütens wird in vielen Gegenden der Provinz der Katharinentag (25. Novbr.) angesehen. Erlauben schöne Herbsttage ein weiteres Austreiben des Viehes, so wird der Hirte dafür besonders bezahlt. (N. Pr. Pr.-Bl. X, S. 119, Nr. 200.)
Hat der Hirte die Heerde beisammen und nähert
er sich mit derselben dem Ausgangs-Heckthore, so legt er in den Thorweg
den Klingerstock und eine Axt kreuzweise übereinander. Ueber beide
muß alles Vieh schreiten und ist dadurch, eben weil es über
Stahl gegangen, gegen alles Behexen gesichert. Ist das Vieh hinüber,
so nimmt der Hirte den Klingerstock zur Hand, die Axt jedoch schlägt
er in den Thorpfahl, wo sie bis zum Sonnenuntergang stecken bleiben muß.
Jetzt ist die Weide erreicht. Der Hirte steckt den Klingerstock, in welchem
er oft eine oder mehrere (bis neun) vom Abendmahlstische entwendete Hostien
versteckt hat, inmitten der Heerde in den Boden*), hängt seine Mütze
darauf, umgeht die Heerde dreimal und streut segnend auf sie Zwölften-Asche,
Graberde und Kirchensand (in der Gegend von Wehlau: Todtensand, d. h.
Sand vom Begräbnißplatze). Es soll durch diese Handlung symbolisch
angedeutet werden, daß wie die Christen vom Tische des Herrn nicht
früher sich entfernen, als bis sie mit dem Brote des Lebens gespeist
sind, so solle auch das Vieh auf der Weide grasend beisammen bleiben,
bis der Hirte die erquickte Herde nach Hause führt.
*) Man erzählt von alten Hirten, welche ihr Vieh auf die Weide trieben und sich alsdann wenig um dasselbe kümmerten. Sie steckten den Klingerstock in den Boden und gingen ihrer Wirtschaft nach oder gar in's Wirthshaus. Das Vieh aber weidete ruhig um den Klingerstock und entfernte sich nicht. Das Volk staunte das Wunder an, wagte aber nicht, sich dem geheimnißvollen Klingerstock zu nahen; denn es war allgemein bekannt, daß wer denselben berühre, verkrummen und verlahmen müsse. Einen solchen Klingerstock hat dennoch einmal eine muthige Hand erfaßt, ohne daß sie verlahmte. Aber o Wunder! ein leises Singen ertönte und vernehmlich klang es: "Heilig ist unser Gott etc.", und ohne Aufhören tönte der Gesang fort. Der Stock wurde zum Pfarrer gebracht, die Heerde folgte. Der Stock aber erwies sich hohl, und in der Höhlung steckte eine heilige Hostie. Nachdem diese entfernt war, sang es nicht mehr im Stocke, auch hatte dieser seine Kraft verloren. - Dem Hirten Sch. in Schlakalken, Kirchspiels St, Lorenz, sagte man nach, daß er vom Tische des Herrn eine Hostie entwendet habe. Doch ereilte ihn die Strafe für diesen Frevel: er verkrüppelte. - Hirten, welche mit Hülfe einer geweihten Hostie ihr Geschäft versehen, finden in der Todesstunde nicht eher Ruhe, als bis ihr gotteslästerliches "Hotttieg" (Hütezeug): der Klingerstock oder die Feitsche, verbrannt ist. (Dönhoffstädt.)
Ist die Herde segnend bestreut, so kniet der Hirte neben den Klingerstock nieder und betet:
Ich treib' mein Vieh zur grünen Heid',
Gott der Vater hat mich geleit't,
Gott der Sohn hat mich erlöset,
Gott der heilige Geist hat mich geheiligt!
Wer größer ist als diese drei,
Der komm' heran
Und greif' mich an!
Im Namen etc.
Darauf spricht er zur Heerde gewendet:
Min Veehke, gah grase
Dorch Hüscher
On Büscher,
Dorch Wölder,
Awer nich dorch Földer!
Im Namen etc.
Die Andacht ist beendet, das Vieh ist aus derselben
entlassen und geht nunmehr seinem einzigen Geschäfte nach.
Um den Zauber, den der Hirte ausgeübt, nicht zu stören, haben
die im Dorfe Zurückgebliebenen mancherlei Vorschriften zu beobachten.
In allen Haushaltungen, welche Vieh bei der Heerde haben, wie in der des
Hirten, darf an dem ersten Austreibetage nicht gesponnen und nicht gehaspelt,
nicht gewaschen und nicht gebacken werden, es darf kein Dünger aus
den Stallen geschafft, nichts auf den Zaun gehängt werden, soll das
Vieh nicht Schaden nehmen. Auch darf die Frau des Hirten an diesem Tage
nicht eher Feuer anmachen, als bis der Gatte mit der Heerde heimgekehrt
ist; der Hirte bleibt also bis dahin ohne Speise. Befolgt sie diese Vorschriften
nicht genau, so hat ihr Mann mit der Heerde Mißgeschick. (Samland.)
Im Kreise Goldap wird beim ersten Austreiben in den Thorweg des Ausganges
eine Axt und ein Schloß gelegt, über welche die Heerde hinwegzuschreiten
hat. Ist dies geschehen, so geht der Hirte dreimal betend (besprechend,
segnend) um die Heerde und verschließt das Schloß, welches
erst am Tage Allerheiligen (1. Novbr.) geöffnet wird. Hierdurch soll
sowohl dem Wolfe, als auch den Zauberern der Mund geschlossen werden.
In der Gegend, welche den "kleinen Umkreis auf der Landstraße
zwischen den Städten A - g. und G - p." (Angerburg und Goldap)
umfaßt, läuft an dem Tage des ersten Austreibens der Hirtenjunge
von Haus zu Haus, klopft an die Fenster und ruft: "Löscht das
Feuer aus, spinnt nicht, haspelt auch nicht, sondern treibt das Vieh hinaus!"
Der Hirte hat unterdessen aus der Kirche Sand besorgt, den er auf den
Weg streut, welchen das Vieh in's Feld ziehen soll. In den Thorweg legt
er eine Holzaxt mit der Schärfe nach dem Felde, über welche
er alles Vieh hinübertreibt. Er geht voran, spricht kein Wort, läßt
die Heerde durch die Hirtenjungen zusammenhalten, macht allerlei Kreuze,
betet, dann segnet er das Vieh und hierauf treibt er es in's Feld. Die
Axt im Thorwege soll bedeuten: Der Wolf soll die Herde so fliehen, wie
er die Schärfe einer Axt flieht. Der Sand aus der Kirche soll bedeuten:
Wie die Menschen in der Kirche friedlich neben einander sitzen, auch in
guter Ordnung aus der Kirche gehen, so soll auch das Vieh auf der Weide
sich beisammen halten, auch friedlich langsam vom Felde nach Hause ziehen.
(Vom Aberglauben etc. Pr. Pr.-Bl. VIII, S. 186 f.)
Wird das Vieh zum erstenmale ausgetrieben, so legt man vor die Schwelle
des Stalles eine Axt, über welche es hinwegschreiten muß, während
der Treibende den Segen und das Vaterunser ohne Amen spricht. Oft legt
man neben die Axt auch ein Tischtuch, wodurch bewirkt wird, daß
das Vieh stets gut nach Hause kommt. - Gehen die Pferde zum erstenmale
auf die "Nachtzeche", so müssen sie über eine Sense
schreiten. Diese wird hierauf im Dache über dem Pferdestall oder
irgendwo im Stalle so lange aufbewahrt, bis die Pferde wieder eingestallt
werden. Kommt man mit dem Vieh zum erstenmal auf dem Felde an, so muß
man niederknieen und ebenfalls das Vaterunser ohne Amen beten. Diese Handlung
schützt gegen den Wolf.
(Angerburg.)
In manchen Gegenden Masurens (Hohenstein) spricht an dem Tage des ersten
Austreibens die Frau des Hirten, am Heck knieend, allerlei Gebete (Töppen,
S. 97); in andern Gegenden dieser Landschaft wird das Vieh von
den Eigenthümern auf das Feld getrieben. Hier stellen sie sich um
die Heerde, während der Hirte die Einsegnung derselben vollzieht.
Nur im Falle seiner Unkenntniß wird eine wissende Person, gleichviel
ob Mann oder Frau, dazu berufen.
Der Segnende steckt seitwärts der Heerde seinen Stab in die Erde
und setzt, da die Handlung barhaupt geschehen muß, Hut oder Mütze
auf denselben. Alsdann umgeht er langsamen Schrittes und mit gefalteten
Händen dreimal die Heerde. Beim ersten Umgange wird das Vaterunser
ohne Amen, beim zweiten die nachfolgende Zauberformel und beim dritten
Umgange das Vaterunser mit dem Amen gesprochen.
Die Formel lautet:
Ich treibe das Viehchen auf ein grünes Wieselein aus unter die Hand des Herrn Jesu. Heiliger George, heiliger Nicolaus, heiliger Antonius, nehmet einen Zaum und einen Halfter und zäumet den Wolf und die Wölfin auf im grünen Hain, wo die Vöglein singen, damit dieser Wolf und die Wölfin die Stimme (des Viehes) nicht hören und meiner Heerde keinen Schaden zufügen. - Im rothen Meere liegt ein Stein, der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes, sitzt darauf. Ich, der getaufte N. N. (die getaufte N. N.), bitte Gott den Vater, den Sohn Gottes, den heiligen Geist und die Mutter Gottes, daß sie den Thieren des Feldes und des Waldes verbieten, dieselben über dreimal neun Grenzen hinwegschicken und sie von meiner Herde abwenden möchten. Und wenn Jemand mir etwas Böses zufügen wollte, so möge dies ihm selbst widerfahren. Sollten jemals andere Hirten an meine Herde Herantreiben, so mögen sie unserm Vieh nimmermehr den Geschmack rauben. Wenn ich mit dem Gesinde mich zum Essen niedersetze, so möge mein Vieh zusammenbleiben und fressen - durch die Macht Gottes des Vaters, durch die Hülfe des Sohnes Gottes und des heiligen Geistes!
Nach Beendigung des Umganges schließt der Segnende ein Vorhängeschloß zu und übergiebt es den Eigenthümern der Heerde, welche es im Dache bis zum Eintritt des Winters aufbewahren. Alsdann wird es geöffnet, denn die Sicherheit des Stalles macht den weitern Verschluß des Wolfsrachens unnöthig. Nach beendigter Ceremonie wird für diesen Tag das Vieh sofort nach Hause getrieben*).
*) Nach Mittheilungen des Hrn. Rektor Gerß in Gr. Stürlack, welche mir durch die Güte des Herrn Tribunalsrathes Dr. R. Reusch zugestellt sind.
In Natangen trägt, und dies gehört mit zu
den Vorbereitungen auf den oft genannten wichtigen Tag, am Ostertage der
Hirte lange Ruthen in die Häuser, mit welchen das Vieh beim Ausjagen
getrieben wird. Es soll hierdurch die stets gute Wiederkehr des Viehes
bewirkt werden; der nächste Zweck jedoch, den der Hirte mit dieser
Ruthengabe verfolgt, ist die Erlangung eines Ostergeschenkes, das ihm
auch stets gereicht wird. (N. Preuß. Pr.-Bl.
X, S. 118, Nr. 183.)
Gleiches geschieht in Masuren am zweiten Weihnachtsfeiertage, wobei der
Hirte seine Kalende einsammelt. Jede Hausfrau zieht, die Finger mit der
Schürze bedeckt, eine der Birkenruthen hervor, legt sie zunächst
auf den Tisch, trägt sie dann auf den Boden und steckt sie dort in
das vorräthige, gedroschene Getreide, wo sie bis Mariä Verkündigung
(25. März) stecken bleibt. An diesem Tage, an welchem, wie oben angegeben,
das Vieh dort zum erstenmale ausgetrieben wird, zieht sie die Ruthe heraus,
geht ohne sich aufzuhalten oder zu sprechen (damit nachmals das Vieh nicht
stehen bleibe und brülle, sondern ohne Aufenthalt in den Stall gehe)
nach dem Stalle und treibt das Vieh hinaus, während der Hausvater
mit der Axt ein Kreuz vor der Stallthür macht und die Axt dann an
die Schwelle legt. (Töppen, S. 96.)
***
Mit der Kohle, die man in der Johannisnacht unter
den Wurzeln des Beifußes gefunden, bestreicht man ein Stück
Vieh, das man zu Markte führen will, Tags zuvor - es erhält
dadurch auf 48 Stunden ein feistes, stattliches Ansehen. (Dönhoffstadt.)
Wenn man das Vieh zu Markte treibt, so spricht man, um die Käufer
anzulocken und festzuhalten:
Ich treib' und trab' dich über die Schwell',
Der Heilige ist mein Gesell'!
Wer mich anredet und meine Waare angreift, der ist auch mein,
Der soll und muß der Kaufmann sein,
Der muß es kaufen ohne Ruh und Rast,
Bis er meine Waare in seinen Händen faßt!
(Neudorf bei Graudenz.)
***
Gegen die Läuse des Viehes wendet man in Masuren folgende Besprechungsformel an:
Ich bin zu dir gekommen, du stummes Vieh, damit der Herr Jesus selbst von dir die Läuse entferne durch Gottes Macht und des Sohnes Gottes und des heiligen Geistes Hülfe. Vater unser etc.
Bei dieser Besegnung muß man mit einem Feuerstahl dreimal von jeder Seite vom Kopfe nach dem Schwanze des Viehes hinwegfahren. (In andern Texten steht Blähsucht statt Läuse. Töppen, S. 46.)
Quelle: H. Frischbier, Hexenspruch und Zauberbann.
Ein Beitrag zur Geschichte des Aberglaubens in der Provinz Preußen,
Berlin 1870. S. 133ff
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Gabriele U., Juli 2005.
© www.SAGEN.at