Graun am Reschensee
Juli 1950: Abschied von Graun


Von Brigitte Maria Pircher

„Der See steigt. Von Reschen wird uns geschrieben: Unheimlich steigt der See! Es mutet einen an wie der nahende, schleichende Tod…“ Sep Mall, Juli 1950, „Dolomiten“. Mit diesen Worten verabschiedet sich Josef Mall 1950 in den „Dolomiten“ von Alt-Graun, Alt-Reschen und den Weilern und Höfen, die im Juli im Wasser versinken. An die 660 ha Land werden überflutet, ca. 1000 Menschen müssen sich „a nuis Hoamat“ suchen.

Kirchturm von Graun am Reschen © Harald Hartmann

Der Kirchturm von Graun am Reschen, Südtirol mit dem Ortler im Hintergrund.
© Harald Hartmann, Oktober 2007


Bis knapp in die Hälfte des 20. Jahrhunderts erstreckten sich im oberen Vinschgau drei Naturseen auf einer relativ weiten Fläche: der Reschensee, der Mitter- bzw. Graunersee und der Haidersee. Die drei Gewässer zogen schon früh, nämlich bereits im Jahre 1911, das Interesse der Elektrogesellschaften auf sich; einen ersten Plan für die Stauung des Mitter- und Reschensees erstellte der Münchner Geologe R. von Klebelsberg. Bis zur endgültigen Realisierung eines Stausees musste aber noch viel Wasser die Etsch hinunter rinnen -nach zahlreichen Überprüfungen, Ablehnungen und Wiederaufnahmen von verschiedenen Projekten gewann die SEAA (Societá Elettrica Alto Adige), ein Sonderunternehmen des Chemiekonzerns Montecatini, das Rennen um die Konzession für die Stauung des Reschen- und Mittersees. Im Jahre 1940 wurde mit den Bauarbeiten begonnen, zehn Jahre später, also vor 60 Jahren, waren die Arbeiten am Reschen-Stausee schließlich beendet. Mit seinen 116.000.000 m3 Fassungsvermögen ist er auch heute noch der größte Stausee Südtirols. Der See speist die Kraftwerke bei Schluderns und Kastelbell. Auch am Haidersee wollte sich die Montecatini „vergreifen“. Sie arbeitete Pläne für die Stauung aus, per Dekret des Regionalrates vom 9. Mai 1960 konnte die Firma bereits provisorisch die Gründe besetzen. Für die Anrainer ein Albtraum, der erst 1967 ein Ende hatte, als die Montecatini den Antrag zurückzog.

Graun, Vinschgau, 1923 © Hermann Wopfner

Graun, Vinschgau, 1923
© Hermann Wopfner

Faschistische Ära

Der intensive Ausbau der Wasserkraft in Südtirol und damit auch die Konzession für den Reschen-Stausee fällt in die Zeit eines faschistischen Italien. Der Ausbau der Wasserkraft diente der faschistischen Regierung als Rechtfertigung für die Industrialisierungsmaßnahmen in Südtirol, gleichzeitig wurde die Wasserkraft nach erfolgter Industrieansiedlung als notwendige Konsequenz dargestellt. Höhepunkt der Maßnahmen zur Industrialisierung Südtirols war die Bozner Industriezone, die 1936 eröffnet wurde und eine „Überfremdung" Südtirols zum Ziel hatte.

Reschensee, 1923 © Hermann Wopfner

Reschensee, 1923
© Hermann Wopfner

Kein Zurück

Vor 60 Jahren wurde auch dem letzten Optimisten im oberen Vinschgau bewusst, dass es kein Zurück gab. Der Stausee war nach Jahren der Ungewissheit, des Hoffens und Bangens, Realität geworden. Bereits im August 1949 wurde der See provisorisch gestaut, schließlich sollten die Kraftwerke bei Glurns und Kastelbell, die vom Wasser des Stausees gespeist werden, Ende desselben Monats eröffnet werden. Die Menschen wurden von dieser Probestauung nicht informiert. Viele Bauern konnten das Futter nicht mehr rechtzeitig einbringen. Im Laufe der Monate wurde das Wasser für die Stromerzeugung genutzt und der Boden trocknete wieder - in den Ställen und im Keller jedoch blieb ein widerlicher Geruch nach abgestandenem Wasser, das sich mit Gülle vermischt hatte, zurück. Obwohl einige Häuser jetzt schon unbewohnbar waren, war die Entschädigung für die Einwohner noch nicht geklärt.

Der Kirchturm

Die Gebäude, die im Gebiet des künftigen Stausees lagen, wurden gesprengt. Bis Mitte August 1950 waren Sprengungen an der Tagesordnung. Auch das Kirchengebäude konnte nach mehrmaligem Anlauf gesprengt werden - der Kirchturm, der seit 1314 besteht, blieb auf Geheiß des Denkmalamtes von Trient jedoch bestehen. Er erinnert an einen Dorfkern, der den Bedürfnissen der modernen Gesellschaft nach Energie weichen musste. Den letzten gemeinsamen Sonntags - Gottesdienst feierten die Grauner am 9. Juli 1950.

Graun, Sprengungen, Juli 1950 © Bildarchiv Gemeinde Graun

Ende Juli 1950. Häuser werden gesprengt, Untergraun muss der Flut weichen, das Gotteshaus ist schon gesprengt.
© Bildarchiv Gemeinde Graun

Nach der Stauung: Verarmung

Vor der Seestauung zählte die Gemeinde Graun rund 2400 Einwohner. Das Dorf galt als Hauptzuchtgebiet für Braunvieh, die Bewohner lebten hauptsächlich von der Viehzucht. So konnte die Fraktion 1949 einen Bestand von 1200 Rindern vorweisen. Nach der Stauung verringerte sich der Viehbestand beträchtlich, da vielen Menschen mit dem Verlust der Felder die Lebensgrundlage entzogen worden war. Sie mussten sich der Frage stellen, ob sie in den neuen Dörfern Graun und Reschen eine Überlebenschance hatten oder nicht. Da zudem die Entschädigung gering ausfiel - sie konnte mit den aktuellen Preisverhältnissen überhaupt nicht Schritt halten - sank der Lebensstandard der Betroffenen erheblich. Das Wochenmagazin „der Südtiroler“ forderte zwei Jahre nach der Stauung „Soforthilfe, um die Stauseegeschädigten vor dem völligen Untergang zu retten“.

Graun, 1923 © Hermann Wopfner

Graun, 1923
© Hermann Wopfner

Gehen oder bleiben?

Von ca. 100 Familien entschieden sich an die 35 Familien in Neu-Graun bzw. Neu-Reschen zu bleiben. Neu-Reschen entstand oberhalb der Staatsstraße im Lorettwald, Neu-Graun am Eingang von Langtaufers auf den Äckern des Margrond. Mehr als die Hälfte der Familien musste das Gemeindegebiet verlassen. Der Großteil davon blieb in Südtirol, ca. 34 Familien bauten sogar in anderen Dörfern des Vinschgaus eine neue Existenz auf, ein kleiner Teil zog in den Süden (Trentino/Nonstal) und in den Norden (Tirol, Salzburg).

Barackenlager am Eingang des Langtauferer Tales © Bildarchiv Gemeinde Graun

Das Barackenlager am Eingang des Langtauferer Tales.
© Bildarchiv Gemeinde Graun


Übergangslösung Barackensiedlung

Am Eingang von Langtaufers errichtete die Montecatini schließlich eine Barackensiedlung: Auf 34 m2 Wohnfläche - das entspricht einer halben Baracke -fristeten jene Familien, deren Häuser in den neuen Dörfern noch nicht bezugsfertig waren, ihr Dasein. Die Tiere kamen in eine „Gemeinschaftsbaracke“. Die Barackensiedlung bestand von 1952-1954.

Heute

Heute ist der Turm im See ein beliebtes Motiv für Touristen und für die gesamte Werbebranche. Der Stausee wird in vielerlei Hinsicht genutzt, als Sportzentrum und Messeplatz erfreut er sich großer Beliebtheit. Heute lässt der Stausee hin und wieder aufhorchen, weil die Gemeinde Graun seit Jahren für eine angemessene Beteiligung am Gewinn der Konzessionsinhaberin SEL-Edison kämpft. Damit die Grauner, durch deren große Verluste die Stromgewinnung überhaupt erst ermöglicht wurde, daran teilhaben können. Heute noch stimmt der Turm im See die Menschen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, traurig. Denn zur Heimat wurde die Fremde für sie nicht.

Zeittafel:

1911
Erster Plan für ein Stauwerk vom Münchner Alpengeologen A. Rothpletz und R. von Klebelsberg.

1920 - 1933
Verschiedene Projekte zur Ableitung des Wassers von Reschen-, Mitter- und Haidersee; Überprüfungen und Zurückweisungen derselben. Zahlreiche Einsprüche von Firmen, Vinschger Gemeinden, Privatpersonen, aber auch der Provinzialverwaltung vonTrient.

1937
Königliches Dekret veranlasste das erneute Einreichen von Projekten, denen bislang die Konzession verweigert worden war. Projekt der SEAA wird in Erwägung gezogen und schließlich - mit Abänderungen - genehmigt. Das Projekt sieht die Stauung des Mitter- und Reschensees vor.

1940
Genehmigung des Projektes von 1920 mit dem Hinweis auf mögliche Veränderungen an der Gemeindetafel von Graun angebracht. Erste Enteignungen, Beginn der Bauarbeiten.

Mai 1943
Konzessionsdekret tritt in Kraft.
September 1943: Arbeiten werden unterbrochen, deutsche Truppen besetzen den Norden Italiens.

1946
Fortsetzen der Arbeiten am Stausee.

April 1947
Definitives Projekt wird von Vertretern der Montecatini der Bevölkerung vorgestellt: Stauung des Mitter- und Reschensees auf 1.497 m – anfänglich hatte man eine Stauung auf 1.485 m geplant. Der Wasserspiegel des Mittersees sollte um 27 m erhöht werden, jener des Reschensees um 22 m.

1. August 1949
Provisorische Stauung des Mittersees auf 1.485m - Bevölkerung wurde nicht informiert.

28. August 1949
Kraftwerke bei Schluderns und Kastelbell eröffnet.

Mai 1950
Exhumierung der Toten des Grauner Friedhofs.

Bis Mitte August 1950
Sprengungen der Gebäude, die im Gebiet des künftigen Stausees lagen.

Zweite Hälfte Juli 1950
Endgültige Stauung.

Brigitte Maria Pircher hat 2003 ihre Diplomarbeit zum Thema „Der Reschen-Stausee - von seinen Anfängen bis heute“ am Institut für Zeitgeschichte an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck verfasst und bei Prof. Rolf Steininger eingereicht.


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Ergänzungen sind gerne willkommen!

© Brigitte Maria Pircher