KÜMMERNIS
aus: E. Hoffmann-Krayer, H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,
Berlin und Leipzig 1932

Eine vielumstrittene, von der Kirche niemals förmlich anerkannte, sondern nur geduldete, weil vom Volke im westlichen und mittleren Europa und hier vorzüglich in den deutschen Alpenländern viel angerufene und verehrte Heilige 1), dargestellt am Kreuze hangend, mit einem Bart oder auch ohne solchen, in ein langes Gewand gehüllt und mit einer Krone auf dem Haupt, die von Nägeln durchbohrten Hände am Querbalken, die ungenagelten beschuhten Füße auf einer Stütze (Brett, Steinblock) oder frei.

Nach der Legende, deren älteste, den Niederlanden entstammende Aufzeichnungen erst dem spätesten Mittelalter angehören und deren lateinische Fassungen die merkwürdige Heilige Wilgefortis oder Comeria nennen, während sie in den vlämischen Ontkommer heißt, soll die Heilige die Tochter eines heidnischen Königs von Portugal gewesen sein, nach andern Fassungen eines andern Herrschers. Es heißt, der eigne Vater habe sie dem Kreuzestod ausgeliefert, weil sie, um keinem irdischen Manne anzugehören und einer Verheiratung zu entgehen, sich vom Himmel einen Bart erbeten habe. Nach der niederländischen und der deutschen Legendenfassung liegt sie in den Niederlanden begraben. Einzelne Züge der Legende wechseln, besonders die Bezeichnung der Heiligen. In der deutschen Legende ist mit der Geschichte der Kümmernis noch die Mär vom armen Geigerlein 2) oder das Geigenwunder verknüpft. Demgemäß erscheint sie auf zahlreichen Bildern nur mit einem Schuh, während der andere am Boden liegt oder herabsinkt als Lohn für den vor ihr knienden Geiger. Unter dem Namen Wilgefortis ist die Heilige mit ihrem Kreuzestod ins Martyrologium Romanum aufgenommen. Als ihr Tag gilt der 20. Juli (26. Januar?).

Man hat die vermeintliche Heilige mit mancherlei antiken und altgermanischen Vorstellungen in Verbindung gebracht 3), z. B. mit Aphrodite oder gar mit Thor. Nach der heute am meisten verbreiteten Auffassung beruht die Kümmernisgestalt auf einer Mißdeutung alter Christusbilder 4), die den gekreuzigten Heiland als Himmelsfürsten in königlichem (byzantinischem) Gewande der romaniscben Kunstepoche und beschuht zeigen, so besonders das Erlöserbild aus dem Dom zu Lucca, der sogenannte Volto Santo. Nachbildungen des Volto Santo, die über die Alpen nach Norden verbreitet worden seien, habe man wegen ihrer altertümlichen Form nicht mehr verstanden und daher umgedeutet. Ältere Legenden über bebartete Jungfrauen, z. B. Paula und Galla, hätten dann zu der Ausbildung der Kümmernislegende beigetragen. Neuerdingsmöchte man eine solche Entwicklung doch als fraglich hinstellen und ist geneigt, an eine wirkliche Martyrin zu denken. Erst eine umfassende, auf kultgeographischer Grundlage aufgebaute quellenmäßige Untersuchung würde imstande sein, Licht in das Dunkel des Kümmernisrätsels zu bringen. Hierbei müßten besonders die Legendenfassungen scharf voneinander getrennt und hinsichtlich ihrer Entstehung und durch Modeströmungen oder andere Kräfte bedingten Abhängigkeit von einander betrachtet, desgleichen die Gestalten und wechselnden Namen der Heiligen nach ihrer räumlichen Verbreitung und alles unter Berücksichtigung der Handels- und Verkehrswege behandelt werden. Außer den Bezeichnungen Wilgefortis und Comeria sind je nach dem Lande die Namen Liberata, Eutropia, Combre, Souci, Regenfledis, Dinjefortis, Ontkommer (vlämisch), Ontcommenit, Gehilfe, Hilfe, Hulpe, Ohnkummer, Kumini, Kumernus, Cumera, Cumernissa, auch die männliche Form Cumerus, Sanctus Cumernus im Gebrauch. In Oberdeutschland, vorzüglich in den deutschen Alpenländern (Bayern, Tirol, Salzburg, Steiermark) ist der Name Kümmernis volkstümlich. In Aschaffenburg heißt sie Veränderung (! ?) 5).

Die hl. Kümmernis wird in allen Herzens-, Leibes- und Seelennöten angerufen und hat eine Art Generalhilfsmacht, sodaß sie auch unter den 14 Nothelfern erscheint. Außer in persönlichen Angelegenheiten, besonders in solchen leidender und hoffender Frauen wird sie auch in Nöten und Gefahren, die die Allgemeinheit bedrohen, angerufen, z. B. bei Trockenheit und Dürre, Mißwachs, Teuerung, Überschwemmung und anderer Drangsal. In Altbayern führt sie wegen ihrer besonderen Beziehungen zu den Frauen den Namen Weiberleonhard. Wegen Unfruchtbarkeit oder Gebärmutterleiden opfern ihr Frauen sogenannte Muettern (Mutter, Gebärmutter), krötenähnliche Figuren aus Wachs, Eisen oder Silber 6).


1) AASS. 20. Juli 5 (1725), 68; vgl. dazu Günter Legenden-Studien 72. 121; ders. Die christliche Legende im Abendland 104; Buchberger Kirchliches Handlexikon 2 (1912), 524; Doyé Heilige und Selige der römisch-katholischen Kirche 1, 662-63; Lütolf St. Kümmernis und die Kümmernisse der Schweizer Geschichtsfreund 19 (1886), 186; Weinhold Sanct Kunmmernuß ZfVk. 9 (1899), 322-24; Bernoulli Merowinger 169-174; Maupas Sainte Wilgéforte (Le Hâvre); Hadwich Die hl. Kümmernis SuddZfVk. 1 (1928), 230-248, mit guter Übersicht über den Stand der Forschung und Angabe weiterer Literatur, besonders einiger entlegener Stellen. Eine Monographie St. Kümmernis und Volto Santo. Studien und Bilder ist von Schnürer in Verbindung mit Ritz vorbereitet und erscheint in der Sammlung "Forschungen zur Volkskunde", herausgegeben von G. Schreiber, Heft 13, voraussichtlich 1932.
2) Sepp Sagen 175. 186. 696; Bolte-Polivka 3, 241, mit eingehender Literaturangabe; oben 3, 470; Andree Votive 15 mit Literatur.
3) Rehorn Der hl. Kumernus oder die hl. Wilgefortis. Ein Beitrag zur Geschichte und Deutung eines alten Kultus, Germania 32 (1887), 461-480; 33, 311; Wolf Beiträge 2, 116-17; Meyer Religionsgeschichte 207; Pfister Reliquien 1, 251.
4) Schnürer Die Kümmernisbilder als Kopien des Volto Santo von Lucca, Jahresbericht der Görresgesellschaft für 1901 (1902), 43 ff.; Benzerath Kirchenpatrone 3; Sepp Religion 364. 368; Heyl Tirol 716 Nr. 23; DG. 3, 91. 184. 269; Niderberger Unterwalden 3, 435; WZfVk. 25, 95.
5) Birlinger Aus Schwaben 1, 498.
6) Andree Votive 14, 131; Kriss Das Gebärmuttervotiv (1929), 36.

Wrede.