TOLLKIRSCHE (Schlafkraut, Tollbeere, Wolfsbeere; Atropa belladonna)

aus: E. Hoffmann-Krayer, H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens,
Berlin und Leipzig 1932

1. Botanisches. Stark verästelte, zu den Nachtschattengewächsen (siehe Bilsenkraut, Stechapfel) gehörende Staude mit eiförmigen Blättern und braunvioletten, glockenförmigen Blüten. Die Früchte sind etwa kirschgroße, glänzende Beeren. Die Tollkirsche ist eine sehr starke Giftpflanze, sie wächst besonders auf Waldschlägen. Ob die Tollkirsche im antiken Aberglauben bekannt war, steht nicht fest. Vielleicht ist unter dem Tollkirsche (griechisch)des Theophrast 1) die Tollkirsche zu verstehen, vgl. Alraun (1, 313. 321 f.). Dazu würde stimmen, daß die Tollkirsche bei den Rumänen 2) als "matraguna" (= Mandragora) bezeichnet wird 3).

1) Hist. plant. 6, 2, 9.
2) Hoelzl Bukowina 158.
3) Marzell Heilpflanzen 162-165; Tschirch Handbuch der Pharmakognosie 3 (1922), 268; Janus 30 (1926), 255-260; Kobert Aus der Geschichte der Tollkirsche 1916, 41-62; Hovorka und Kronfeld 1, 421.

Tollkirsche © Wolfgang Morscher

Tollkirsche
Botanischer Garten, Universität Innsbruck
© Wolfgang Morscher, 6. Juli 2001

2. Der Genuß der Tollkirschenfrüchte verursacht, wie ihr Name andeutet, Geistesverwirrung, Halluzinationen, Tobsucht, in größeren Gaben den Tod. Der Vergiftete macht den Eindruck, "als hette jn der teuffel besessen" 4). Bei der hl. Hildegard 5) erscheint die Tollkirsche als "dolo"; dolo in terra et loco, ubi crescit, diabolica suggestio aliquam partem et communionem artis suae habet". Die Tollkirsche soll auch ein Bestandteil der Hexensalbe gewesen sein, mit der sich die "Hexen" vor ihren Ausfahrten zu den Teufelsorgien zu bestreichen pflegten 6), siehe Stechapfel. Die Subpriorin des Praemonstratenserinnenklosters Unterzell (Unterfranken), Maria Renata Singer von Messau, die als Zauberin am 21. Juni 1749 enthauptet wurde, soll sich der Tollkirsche bedient haben, die im Klostergarten unter dem Namen "Bärenmutz" (verschrieben für "Bärenwurtz"?) angepflanzt wurde 7). Am 27. Januar 1931 wurde vor dem Schwurgericht in Traunstein (Oberbayern) eine Bäuerin aus der Chiemseegegend abgeurteilt, die ihren Mann mit Tollkirschen vergiftet hatte. Nach dem Verhandlungsbericht "eilte sie vor dem Mittagessen in den Wald und pflückte genau dreizehn Tollkirschen. Eine ungerade Zahl bringe Glück im Unglück, hat einmal eine Bekannte, die als Wahrsagerin einen Namen im Dorfe hatte, zu ihr gesagt. Unterwegs verlor sie eine Tollkirsche Sie warf eine weitere Tollkirsche von sich, um wieder eine ungerade Zahl auf den Tisch neben dem Bett ihres Mannes legen zu können" 8).

4) Matthioli Kreuterbuch 1586, 376b.
5) Physika 1, 52.
6) Vgl. Gilbert Les Plantes magiques et la Sorcellerie 1899, 37-45.
7) Fromann Die deutschen Mundarten 2 (1855), 33; Bayerland 21 (1910).
8) Münchener Neueste Nachrichten vom 28. Jänner 1931, S. 9.

3. Im deutschen Aberglauben scheint die Tollkirsche keine größere Rolle zu spielen. Dagegen ist sie ein sehr bekanntes Zaubermittel im südöstlichen Europa, wo sie z. T. der Mandragora (siehe Alraun) gleichgesetzt wird, siehe unter 1. Bei den Rumänen in der Bukowina muß ein Mädchen, wenn es den Burschen gefallen und beim Tanze die erste sein will, an einem Sonntag im Fasching zu einer Tollkirsche gehen, die Wurzel ausgraben und dafür an der Stelle Brot, Salz und Branntwein (Opfer an den Pflanzengeist!) zurücklassen. Auf dem Heimweg muß es die Tollkirschenwurzel auf dem Haupte tragen und beim Hin- und Zurückgehen jeden Zank und Streit vermeiden. Sollte es befragt werden, was es denn nach Hause trage, so darf es nicht die Wahrheit sagen, denn sonst würde das Mittel nichts helfen 9). Ebendort werden aus der Tollkirsche unter Hersagung von Zaubersprüchen Liebestränke gebraut 10). In Siebenbürgen kennen Zigeunerinnen die Tollkirsche als "matreguna".
Die Wurzel macht den Träger bei jung und alt angenehm. Die Tollkirsche darf nur vor oder nach Sonnenuntergang gegraben werden, wenn sie ihre Zauberkraft behalten soll 11). Mädchen tragen in Siebenbürgen die Tollkirschenwurzel im Busen, um die Burschen an sich zu ziehen 12). Diese vermeintlichen aphrodisischen Wirkungen decken sich mit denen der Mandragora (siehe 1, 314). Auffällig ist, daß die pharmakologischen Untersuchungen erwiesen haben, daß die Belladonna-Tinktur die libido sexualis beim männlichen Geschlechte nicht steigert, sondern deutlich herabsetzt. Dagegen kommt es beim weiblichen Geschlechte zu Kongestivzuständen des Uterus und der Ovarien 13). Als "Glückspflanze" wird die Tollkirsche in Siebenbürgen auch in den Gärten gezogen; man will sie aber nicht da pflanzen, wo sie die Leute allgemein sehen. Wenn man sie setzt, gräbt man vor Sonnenaufgang ein Loch, legt einen Kreuzer, ein Stückchen Brot und etwas Salz und die Wurzel hinein und sagt:


Ech Sätzen dich hier ännen
Te sîlt mer erfällen
Menje Wânsch uch Wällen
Aser Herrgott wil helfen.


Während man die Wurzel setzt, denkt man an das, was man sich am meisten wünscht. Manche geben davon niemandem einen Ableger, andere wieder sagen, man dürfe schon abstechen, aber nur bei abnehmendem Mond und von der rechten Seite und gleich nach Sonnenuntergang. Während dieser Arbeit darf man sich nicht umwenden und muß nachher nach der linken Seite fortgehen. Man darf nichts reden, außer zur Pflanze folgende Worte:


Ech gîn vun deser Wurzel e Stäck
Awer nâst vu menjem Gläck 14).

Nach magyarischem Volksglauben gewinnt man beim Kartenspielen (siehe Alraun 1, 319), wenn man die berühmte "nagyfugyöker" (soll die Tollkirsche sein) am nackten Leib trägt. Diese Wurzel kann man nur in der Georgsnacht auf einem Berg graben, auf dem sich die Hexen der Umgegend bisweilen zu versammeln pflegen. Auf die Stelle, wo man die Wurzel ausgegraben hat, muß man ein Stückchen Brot legen, in das man ein Pfefferkorn, etwas Gewürz und Salz hineingeknetet hat, sonst wird man vom Teufel getötet 15). Auch bei den Slowenen soll die Tollkirsche Zauberkräfte verleihen 16). Befindet sich in einem Garten die Tollkirsche, so darf man sie nicht ausgraben, denn sonst würden die Hausmädchen oder die Hausfrau sterben (Rumänen in der Bukowina) 17). Das Ausgraben der Tollkirsche, wie es nach einem alten böhmischen Aberglauben geschildert wird, ist deutlich an die antike Schilderung vom Ausgraben der Mandragora 18) angelehnt. Die Tollkirsche muß zur bestimmten Zeit (Neujahr, Weihnachten) um Mitternacht gegraben werden, der Grabende muß rings um sich einen Kreis ziehen, daß der Dämon, der die Tollkirsche bewacht, ihm nichts anhaben kann. Hat nun der Mensch die Tollkirsche ausgegraben, so muß er, bevor er aus dem Kreise tritt, dem Dämon eine schwarze Henne hinwerfen, damit er denke, er erfasse die Seele des Gräbers. Dann muß der Gräber, so schnell er kann und ohne sich umzuschauen, mit der Tollkirsche davonlaufen; denn der Dämon erkennt inzwischen, daß der schwarze Vogel keine Seele, sondern bloß eine Henne sei und würde den Menschen zerreißen, wenn er ihn noch einholte 19). Glaubt man den Dieb zu kennen, so darf man ihm nur eine Tollkirschenabkochung in den Speisen beibringen, hat er wirklich gestohlen, so gesteht er den Diebstahl alsbald 20). Ob hier Beziehungen zur isländischen "thjöfarat" (Diebswurzel, siehe Alraun 1, 322) bestehen? Gegen Gicht muß die Tollkirsche nach Sonnenuntergang für eine Frau von einem Mann, der über 60 Jahre alt ist und von einer ebenso alten Frau für einen Mann gegraben werden. Denn die Gedanken, die man dabei hat, müssen ernst, anständig und vernünftig sein, denn sie gehen mit dem Trank in den Kranken über. Er wird tobsüchtig, nach einigen Stunden vergeht es ihm wieder samt der Krankheit (Schellenberg in Siebenbürgen) 21). Auch verwendet man gegen Gicht drei Scheibchen von der "matregune" in Wein gekocht und bei abnehmendem Monde auf dreimal getrunken 22).

9) ZföVk. 3, 117.
10) Hoelzl Galizien 151. 155.
11) KbSbLkde. 23 (1900), 136 f.
12) Schullerus Pflanzen 413.
13) Schulz Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deutschen Arzneipflanzen 1919, 174.
14) Hermannstadt und Umgebung, Schullerus Pflanzen 413.
15) Ethnologishe Mitteilungen aus Ungarn 3 (1893/94) 156; ZfVk. 4, 397.
16) ZföVk. 4, 152.
17) ZföVk. 8, 58.
18) Theophrast Hist. plant. 9.8.8; Flavius Josephus Bell. judaicum VII, 6, 3; siehe Alraun 1, 314 f.
19) Vernaleken Mythen 292 = Grohmann 233 = Wuttke 111 § 145.
20) Frischbier Hexenspruch 119.
21) Schullerus Pflanzen 413.
22) Schullerus Siebenb. Wb. 2, 73.


Marzell.