Winterbild.

Schön sind die Alpen zur Sommerszeit, wenn das saftige Grün Täler und Höhen überzieht, verbrämt vom dunkeln Vließ der Wälder, wenn die Bergmähder so verlockend herableuchten und die duftigen Jöcher darüber so freundlich uns anblicken, als wollten sie sagen: Zeit gelassen, fröhlicher Wanderer, bleib' bei uns, rein ist hier die Luft, frisch das Wasser, und gesund außen und innen sind die Menschen, die hier wohnen.

Aber auch der Winter hat seine Schönheit, und wer die Alpen nur in ihrem sommerlichen Schmucke gesehen hat und nicht auch zur Winterszeit in ihrer erhabenen Vereinsamung, der kennt nur die eine Hälfte dieses riesenartigen Wunderbaues.

Der eigentliche Winter tritt gewöhnlich im spätern Advent, gegen Weihnachten hin ein. Dann erst hat der kalte Herrscher den strahlenden Eispanzer dicht und fest um alle Glieder des Riesenleibes geschlossen und läßt seine glitzernde und funkelnde Herrlichkeit in Milliarden Diamanten und in tausend rotglühenden Kronen sehen. Es ist ein Bild von wunderbarer, fast erdrückender Großartigkeit, welches ein Längental, z, B. das Inntal, an einem heiteren Dezember- oder Jännertage bietet, ergreifend durch seine Erhabenheit und doch nicht jener Zartheit und Weichheit entbehrend, die den Eindruck mildern.

Die Tage vorher ist tiefer Schnee gefallen, Nachts hat sich der Himmel aufgehellt und ein trockenkalter Morgen mit beißendem Rauchfrost hält das Tal umfangen. Erst nach zehn Uhr, wenn die Sonne stärker scheint, blicht der Nebel im Zenit und verdichtet sich zu langen Streifen, die sich wie ein weicher Flaum an die Bergbrust hinlehnen; darüber leuchten in blendender Weiße die Zacken und Zinnen der Alpen, überwölbt vom ehernen Dache des blauen Himmels, - Warten wir, bis der Mittag kommt und wagen wir dann einen Gang irgendwo hinauf zu einem Punkt, der uns die Gegend überblicken läßt. Also die Juchtenstiefel angezogen und den Lodenrock zugeknöpft, denn der Weg ist noch wenig betreten. Nebenbei schauen wir gelegentlich in die Hütten hinein, um zu sehen, was die eingeschneiten Leutchen im Winter machen.

Sobald wir die Hauptstraße verlassen haben und den Bergweg betreten, finden wir uns schon sehr vereinsamt. Rings um uns ist Wald. Der Wald im Winter! Ein eigenes Gefühl überkommt uns, wenn wir diese sonst so heiteren, von sommerlichem Vogelsang und Wipfelraufchen belebten Hallen im Winterkleide sehen müssen. Es ist ein Bild der Schwermut! Mächtige Schneemassen überlasten die immergrünen Fichtenäste und drücken sie nieder, während die Birken nebenan zarten Glasbäumchen gleichen. Wie durch einen Bannspruch eingeschläfert steht regungslos Baum an Baum. Kein Laut ringsum; nur zeitweilig hört man das heisere Krächzen eines Raben oder den Pfiff einer Meise, die von Ast zu Ast hüpft und uns mit einer Miniaturlawine von Schneestaub überschüttet. - Wo sind alle die lauschigen Plätzchen, all' die weichen Moospolster und Heidelbeerhügel mit den geschwätzigen Wässerlein, die da Verstecken spielten? Alles beschwert und überbettet von den weichen Wellen der Schneedecke, nur hie und da unterbrochen von einer Hasenfährte, die sich unter den "Tannenpfotschen" verliert.

Weiter! Niemand begegnet uns als etwa ein Holzarbeiter, der, Bart und Lodenjoppe umreift, die Hacke auf der Achsel und den Pfeifenstummel im Munde, an uns vorbeigeht; oder ein Schleifwagen mit Holz, der tiefe Geleise im Wege zurückläßt und dadurch den rodelnden Stadtkindern den Schlittweg verdirbt. Den Bauersleuten hingegen ist es recht, denn diese fahren meist mit breiten "Handschlitten" und sind deshalb froh, wenn die breiten Furchen sie der Mühe des Lenkens überheben. Das saust dann den Berg hinab, daß es eine Freude ist.

Endlich kommen wir aus dem Wald hinaus, eine blendende Wiese, übersät mit tausend und tausend Farbenpunkten, glitzert uns entgegen, und dort drüben winkt uns ein trauliches Dörflein. Wie ein frierendes Kind steckt es im tiefen Schnee. - Doch früher werfen wir von der Höhe einen kurzen Blick in die verlassene Niederung.

Wie riesengroß erscheint die gegenüberliegende Talwand. Wie scharf heben sich die zackigen Umrisse vom tiefblauen Himmel ab! Aber das Bild ist nicht nur eindrucksvoll, sondern auch schön, besonders wenn der Spätnachmittag die Sonnenstrahlen schräg einfallen läßt. Der bläuliche Schatten bezeichnet deutlich alle Schluchten und läßt die Hauptformen viel voller heraustreten als im Sommer, wo das Auge durch die vielen Einzelformen aufgehalten und in der Gesamtauffassung beirrt wird. Oft liegen lange Wolkenstreifen wie Tücher weithingestreckt und tragen gewissermaßen als Fußteppiche die sich darüber aufbauenden Throne, oder sie dehnen sich über das Tal zur andern Bergkette, die im Schatten steht und in Duft gehüllt erscheint. -

Noch schöner ist der Anblick, wenn einige sonnige Tage die Bergwälder vom Schnee etwas entlastet haben und darauf eintretender trockenkalter Nordwind mit beißendem Rauchfrost Alles mit scharfen Eisnadeln überkrustet. Die gewaltige Bergmauer steht dann gleich einer Riesenzeichnung da, die bis in die kleinste Einzelnheit ausgeführt ist. Jedes Mahd, jede Sennhütte ist auf der weißen Fläche in feinen Strichen angedeutet, das Geäder der Waldpartien in zarter Radierung eingezeichnet.

Auch die Talsohle macht den Eindruck eines landschaftlichen Entwurfes. Zwar die Fläche ist ziemlich einförmig, kaum daß die schattigen Furchen der geleerten Maisfelder einige Abwechselung bieten; die Dörflein und Gehöfte mit ihren Obstangern und Umfriedungen sind ganz sauber eingearbeitet, aber leblos. Nur im beengten Strombett schleicht das grünliche Wasser trag dahin und schiebt knisternde Eisschollen vor sich her.

Je weiter wir uns vom Haupttal entfernen und in ein Seitental eindringen, desto mehr Schneemassen treffen wir, desto unbetretener und einsamer wird der Gang. Die Mühlen am Weg sind eingeeist, der Sturz des Wasserfalles ist zum gotischen Altar erstarrt. - So könnten wir immer weiter vorwärtsstreben, stundenlang bis zum letzten Einödhofe des Talwinkels, vorausgesetzt, daß der Schnee trägt.

Doch schon naht der Abend, obwohl der Uhrzeiger erst auf Vier weist. Die Sonne ist längst hinter der scharfgezeichneten Bergkante verschwunden und wirft breite Strahlenbündel weit über den grauen Himmel. Im Osten liegt als nebeliger rotbläulicher Dunst die Dämmerung, die nach dem Sinken der Sonne sich rasch einstellt. Immer weiter hinauf an der Bergwand flüchtet das Sonnengold, bis es sich endlich wie ein breites purpurglühendes Band um die beeisten Zinnen schlingt, während unten die blaue Flut des Schattens stetig nachrückt. - Bald tritt auch der beißend kalte Nebel ein, erst am Fluß hinhuschend und die Wiesen mit Dämmer umspinnend, dann steigt er auf und überzieht den Himmel als leichter Dunst, durch den noch hellere Sterne matt durchschimmern, später als dichter, undurchdringlicher Nebelschleier, Oft aber, besonders wenn Südwind im Anzüge und zugleich Vollmond ist, bleibt der Himmel klar, und es treten jene "glashellen" Winternächte ein, deren Zauber jeder Beschreibung spottet. Das Tal gleicht dann in der Tat einem glitzernden Feenpalaste, so wunderbar hell stehen die Riesensäulen der Berge da, so rein leuchtet der Mond und funkelt der sternbesäte dunkle Himmel.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Das Tiroler Bauernjahr, Jahreszeiten in den Alpen, Innsbruck 1899, S. 153 - 158.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Renate Erhart, Dezember 2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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