Die Dörcher.
von Dr. Ludwig von Hörmann.

Welchem Wanderer durch Tirol wäre nicht, wenn er zeitweilig seinen Weg auf staubiger Landstraße fortsetzen mußte, karrenziehendes Gesindel begegnet, dessen halbnackte verwahrloste Fratzen ihn mit beispielloser Unverschämtheit und Ausdauer um einen Kreuzer anbettelten!

Es sind die "Dörcher" oder "Laniger", welcher sprachlich noch unerklärte Name soviel wie "Durchgeher" oder "Landgeher" bezeichnet; vom Volk werden sie auch schlechtweg "Kärner" oder "Gratelzieher" genannt. Sie sind die Zigeuner Tirols, der Schrecken aller Einödhöfe, eine Pflanzschule sittlichen Verderbens, ein Hauptfaktor der Verarmung gerade der ärmsten Teile Tirols, mit einem Wort ein Krebsschaden des Landes, welches Renommé die unleugbare Romantik, die ihre ganze Erscheinung umgibt, nicht zu Paralysieren vermag. Die Nester dieser interessanten Wandervögel sind die armen Weiler Stilfs und Schönwies im obern Vinschgau und das oberländische Dörcherdörfchen Mötz, ein schmutziges Nest, unweit des reichen Klosters Stams, eines gastlichen Hospizes für manchen armen Talsohn, der diese trostlose Gegend durchwandern muß. An besagten Orten halten sie sich den Winter über auf; aber sobald der erste Kuckuckruf den Frühling verkündet, und die harte Arbeit für den Bauer beginnt, dann brechen sie auf und ziehen Land aus Land ein, oft bis tief ins Kärnten hinunter oder ins benachbarte Hochbayern.

Ihr beständiger Begleiter auf diesen Zügen ist, wie schon der Name "Gratelzieher" andeutet, ein rohgearbeiteter zweirädriger Karren (Graten), mit einer Doppeldeichsel, Gestänge genannt. Er wird von den Leuten selbst gezogen; häufig trifft man auch einen mageren Esel als Vorspann benützt. Nur besser stehende Dörcher haben einen vierrädrigen Wagen, der mit einen oder zwei Schindmähren bespannt ist. Über den Graten wölben sich starke Haselreifen, worüber die "Bleiche," ein weißes Segeltuch, gezogen ist. Dieses ist hinten durch einen Strick zusammengeschnürt und an einem eisernen Haken befestigt. Um das Umschnappen des Wagens nach rückwärts zu verhindern, ragt als Verlängerung des Wagenbodens ein armdicker, unten halbmondförmig gekrümmter Holzprügel vor, der zugleich als "Schrepfer" benützt wird und nachschleift, wenn man das Gestänge vorn in die Höhe läßt. Unten hängt der Schmiertigel. An den Flanken des Gratens sind eiserne Haken angebracht, an denen die Halftern oder Zugbänder eingehängt werden. Letzterer bedient sich fast ausschließlich der weibliche Teil der Bande, um nebenher trabend den Wagen ziehen zu helfen. Der Mann hat seinen Platz zwischen dem Gestänge, unmittelbar hinter dem Esel und beschränkt seine Zugtätigkeit meist bloß darauf, den Graten in der Schwebe zu erhalten und das Fuhrwerk zu dirigieren. Zur äußern Etablierung des Wagens gehören noch einige kleine Wandetuis, die in der Gestalt alter ausgeschnittener Filzhutgüpfe an den Außenseiten angenagelt sind und zur Aufbewahrung von Angelschnüren, Nägeln und anderem Handwerkszeug dienen. Der Inhalt des Wagens besteht aus Weidenkörben, Besen, Zunderschwämmen oder selbstverfertigten Küchengeräten etc., je nach dem Metier des Familienoberhauptes. Häufig findet man auch auf dem vorderen Teil des Karrens eine Unzahl von Vogelsteigen, angefüllt mit Meisen, Stieglitzen, "Gogatzern" und ähnlichem singenden Gevögel, das für den Verkauf bestimmt ist. Aber gewiß bei keiner Familie vermißt man einen Krummschnabel, der vorn unter der "Bleiche" hängt, und mit hochaufgeblasenen Federn in seinem Heunest hockt und "g'wiß an achzig Stücklen kann, und eins wie's andere". Ebensowenig fehlt ein schmieriger Spitzhund oder ein einäugiger Pudel, häßlich, aber treu wie Gold. D'rum heißt es auch im berühmten Dörcherliede:

"Der Krummschnabel hangt vorn drauf,
der Spitzele lauft nebm' an Karrn."

Was die Reiseausrüstung der eigenen Person anbelangt, so ist der Dörcher damit nicht sehr wählerisch. Obwohl die Heimat dieser Leute das Oberinntal und Vinschgau ist, so verrät doch außer dem rauhen Dialekte und dem Gesichtscharakter, was die Tracht anbelangt, nichts diese Gegend. Man möchte fast meinen, daß von der Tracht eines jeden Thales, das sie durchzogen, ein Fetzen an ihnen hangen geblieben sei. Nur der schwarze "Schnauzbart" und die trotzige Hahnenfeder auf dem Hute, sowie der eisenbeschlagene Stock fehlt nie dem Manne. Die Weiber haben gewöhnlich den Kittel von verwaschenem Kattun heraufgeschürzt, um das Ziehen zu erleichtern; über den Kopf ist ein Tuch geschlagen. Da sie bei guten Wegen barfuß gehen, so werden die schweren Schuhe um die Mitte geschnallt getragen. Gleich den Zigeunern, mit denen die Dörcher überhaupt viele Ähnlichkeit haben, lieben sie grelles, in die Augen stechendes Zeug; besonders hochrote Halstücher sind ein charakteristisches Bekleidungsstück der Männer und Weiber. Selbst den Graten findet man oft mit bunten Lappen ausstaffiert. Es wirft dies ein helles Licht auf die Bildungsstufe dieses Volkes.

In der Regel findet sich nur eine Dörcherfamilie beisammen; dessenungeachtet besteht diese aus ziemlich viel Köpfen, dem Manne, seinem Weibe oder, besser gesagt, Mutter von einem halben Dutzend schmutziger und verwahrloster Fratzen, die durch Bettel den Haushalt unterstützen müssen, ein Erwerbszweig, in dem sie es zu einer wahrhaft entsetzlichen Virtuosität bringen. Nicht selten befindet sich im Gefolge einer solchen Bande auch die Mutter des Weibes, der die ehrenvolle Rolle zufällt, Kundschaft einzuholen, Absatzorte auszuspähen, Kuppelgeschäfte abzumachen und Ähnliches; zugleich richtet sie die Kinder zum Bettel ab, bettelt wohl auch selbst, wobei sie der kleinste Schreihals, den sie auf den Rücken gebunden trägt, kräftig unterstützt.

Kommt nun eine solche Bande an einen Ort, so ist natürlich ihr Erstes, ein Absteigquartier zu suchen. In den Städten haben sie dazu ihre bestimmten Plätze, in den Dörfern wird ihnen gewöhnlich ein Stadel oder auch ein leerer Stall zur Wohnung angewiesen. Sie machen sich aber gar nichts daraus, wenn dieses nicht der Fall ist; sie campieren dann ganz gemütlich im Freien. Der Wagen wird auf den besagten Platz geschoben und, während Mann und Weib vom Karrenziehen ausrasten, werden die Kinder ausgeschickt, ein Mittagessen zusammenzubetteln. Ist ein Kloster im Orte, so holen sie die Klostersuppe; auch zieht der Herr Papa natürlich kein böses Gesicht, wenn die hoffnungsvollen Sprößlinge da und dort etwas mitgehen lassen, was ihnen nicht freiwillig gegeben wird. Besonders werden die Rübenäcker der Bauern gebrandschatzt. Das köstlichste Festmahl gibt es aber, wenn es ihnen gelungen ist, von einem Bauern ein "gefallenes" Schaf oder Kalb zu erbetteln oder zu erhandeln. Die Zubereitung dieser appetitlichen Speise ist sehr einfach. Es werden nämlich drei mannshohe Holzstöcke in Form eines Dreiecks in die Erde eingepflanzt, an den oberen Enden zusammen gebogen und in das Gestelle ein kleiner Kessel gestellt. Unter diesem wird ein tüchtiges Feuer angemacht, und so das Fleisch zu einem Brei gesotten. Oft kommen auch noch andere schmackhafte Ingredienzien zu diesem delikaten Gericht, welches dann von der hungrigen Versammlung mit Hochgenuß verzehrt wird. Nach dem Essen geht die Jugend gewöhnlich wieder auf Bettel aus, das Weib hat mit den kleinen Kindern zu schaffen, setzt sich auch manchmal neben den Wagen, strickt einen Strumpf und bettelt jeden Vorübergehenden an. Der Mann aber packt seinen Kram aus und geht Hausieren. Es bleibt den Bauern nichts anderes übrig, als dem zudringlichen Verkäufer etwas abzunehmen, um ihn nur wieder loszubringen. So kann dieser am Ende seiner Handelschaft ein ziemlich gespicktes Beutelchen mit ins Wirtshaus nehmen. Dort pflanzt er sich stolz und herausfordernd an den Schenktisch und tut sich beim Glase Schnaps gütlich, so lange bis er stockbesoffen ist und wohl nicht mehr den Weg zum heimatlichen Wagen finden würde, käme nicht seine zärtliche Ehegattin ihm dabei zu Hülfe und suchte ihn auf. Mit einer Flut von Schmähreden begrüßt sie den Säufer und zerrt ihn, nachdem sie ihm noch getreulich geholfen, den letzten Kreuzer zu vertrinken, scheltend und zankend nach Hause.

Daß solche Gäste keinem der Bauern lieb sein können, ist wohl natürlich. Dessenungeachtet schlägt selten einer ihre Bitte um Nachtquartier ab, besonders an den Einödhöfen, nicht aus Wohlwollen, sondern aus Furcht, die erzürnten Dörcher möchten im entgegengesetzten Falle den roten Hahn auf's Dach setzen, obwohl dieses meistens beim bloßen Drohen bleibt. Man macht also gute Miene zum bösen Spiel, um nur die unheimlichen Strolche bald wieder vom Halse zu kriegen. Diese betrachten es keineswegs als Wohltat, sondern nehmen die milden Gaben als verfluchte Pflichtschuldigkeit, und ihr Betteln kann füglicher ein Fordern heißen. So kam einmal ein Dörcherweib zu einer Bäuerin, die allein zu Haufe war, und verlangte eine Schüssel Rahm (Obers). Da es Hochsommer war, wo überhaupt wenig Milch zu Hause ist, so bot diese ihr eine Schüssel Milch an. Die Dörcherin war jedoch damit nicht zufrieden und bestand auf Rahm. Auf die entschiedene Weigerung der Bäuerin holte jene ihren Gespons, und die Beiden hätten der Bäuerin gewiß ein Leid angetan, wenn nicht zufällig die Hausleute vom Feld heimgekehrt wären, worauf das saubere Paar sich unter Drohungen entfernte. Überhaupt blickt der Dörcher im Gefühle seiner Freiheit mit einem gewissen Stolz, ja Verachtung auf den Bauern, der an die Scholle gebannt im Schweiße seines Angesichtes sein Brot verdienen muß, und es fehlt nicht an spitzigen Reden, die er ihm zu kosten gibt. Hat der Bauer im Hochsommer harte Arbeit auf dem Felde, und es zieht gerade ein Dörcher mit seinem Karren des Weges einher, so lagert er sich wohl gemächlich im kühlen Schatten irgend eines Baumes an der Landstraße und ruft dem Arbeitenden spottend zu: "Heut' ist's warm! Habt's wol recht toll (tüchtig) z' arbeiten?" "Und toll z' essen!" ist die Antwort.

Erfreulichere Seiten bietet das Familienleben der Dörcher. Herrscht auch zwischen Mann und Weib nicht immer die reinste Harmonie, so sind sie doch auch bald wieder versöhnt, so daß man sprichwörtlich von Eheleuten, bei denen Sturm und Sonnenschein schnell wechselt, sagt: "Sie haben es wie die Dörcher." Durch ihre Verwilderung blickt sogar ein rührender Zug von Humanität, nämlich ihre Liebe zu den Kindern, besonders bei geordneteren Familien. Ich hatte einmal Gelegenheit von meinem Fenster aus ein solches Fragment patriarchalischen Familienlebens zu beobachten, was mich köstlich ergötzte. Tags vorher war nämlich eine obstkarrende Dörcherfamilie angekommen und hatte unter meinem Fenster ihr Standquartier aufgeschlagen. Es schlug gerade 5 Uhr früh, da wurde es unten lebendig. Die "Bleiche" bewegte sich, und der Dörcher kroch langsam aus seiner Wagenburg, sah sich "stumm ringsum", gähnte nach allen Himmelsgegenden, schlenkerte sich die Augen aus und ging dann zum Inn hinab. Der freie Platz beim Hofschmiedhaus in Innsbruck unweit der Brücke ist nämlich der gewöhnliche Absteigeplatz der Dörcher. Dort wusch er sich Gesicht, Arme und die "zottige Hochbrust". Unterdessen war auch seine schönere Hälfte aus ihrer luftigen Kemenate gestiegen und wusch sich Gesicht und Nacken aus dem Waschbecken, das ihr der aufmerksame Herr Gemahl mit ritterlicher Galanterie gereicht hatte, trocknete sich hierauf mit der Schürze ab und scheitelte sich mit dem Finger die Haare. Kindergeschrei aus dem Wagen rief sie von ihrer Toilette ab, und nun folgte eine wirklich rührende Szene. Voll inniger Zärtlichkeit hob sie den schreienden halbnackten Knaben heraus, schwenkte ihn in die Höhe, liebkoste ihn und drückte ihn mit mütterlicher Liebe an sich, und ihn frischeinwickelnd - sit venia verbo - hielt sie ihm die beschmutzte Windel unter das Näschen und sagte halb bös: "Knatterle, 1) da schmeck!" Dann das Kind hätschelnd und wiegend legte sie es wieder hinein. Dies war das Signal zu allgemeinem Alarm; nun gab es ein Gezappel und Gekrabbel unter der "Bleiche", und nach der Reihe kamen 1, 2, 3, 4 Stück wie die Orgelpfeifen zum Vorschein, so daß es mir nachgerade unbegreiflich wurde, wie ein solcher Kindersegen in der engen Behausung Platz haben konnte.

1) Liebkosungswort für Kinder

Das Elternpaar quält sich indeß nicht viel mit Erziehungssorgen. Sind die Kinder einmal so groß, daß sie laufen können, so läßt man sie aufwachsen, wie das liebe Gras, von Unterricht ist natürlich keine Rede. Zwar besuchen sie im Winter die Schule, lernen aber nicht nur gar nichts, sondern verderben auch noch ihre Mitschüler und verleiten sie zur Trägheit und Ungezogenheit. Es darf auch gar nicht Wunder nehmen. Das beständige Herumvagabundieren, das rohe Beispiel der Erwachsenen, der Müssiggang und Bettel, zu dem die Kinder von den Eltern systematisch angeleitet werden, der gänzliche Mangel an religiösen Begriffen lassen in diesem Nachwuchs eine wahre Pflanzschule sozialen Verderbens erwachsen.

Wie es mit der Sittlichkeit bestellt ist, kann man sich ohnedies leicht denken, da Knaben und Mädchen, Erwachsene und Kinder ohne Unterschied zusammen wohnen. Kaum sind Söhne und Töchter herangewachsen, so sind denn auch uneheliche Kinder an der Tagesordnung, und das betreffende Liebespaar betrachtet sich längst als verheiratet, ehe es ihm einfällt, um den kirchlichen Segen zu bitten. Dieser wird ihnen natürlich selten erteilt, deshalb rüsten sie sich eines schönen Tages zur "Römerfahrt". Stehlen und Betteln hilf ihnen durch auf der langen Wanderschaft, welche ihnen schon im vorhinein einen Begriff ihrer künftigen ehelichen Glückseligkeit beibringt. Begreiflicherweise ist ein so weit hergewandertes Paar, noch dazu aus den romantischen Tirolerbergen, für die schaulustigen Italiener ein ganz interessantes Spektakel, und Alles begafft den seltsamen Karren, der vor der Engelsburg Halt macht. Der heilige Vater, bei dem sich die Dörcher anmelden lassen, um einen Fußfall zu tun, läßt sie auch gerne vor und gibt ihrer antizipierten Ehe die kirchliche Bestätigung. Die Neuvermählten machen dann noch den Kardinälen und Kirchenfürsten eine Visite, deren jede ihnen ein kleines Trinkgeld einträgt, mit dem sie wohlgemut ihre Heimreise antreten. Kommen sie nun angegriffen von den Strapazen der Reise "wie ausgezogene Eichkatzlen" nach Hause, so ist es ihr Erstes, sich mit spöttischem Trotze dem Pfarrer vorzustellen und ihm zu sagen, daß sie nun "decht (doch) z'sammenkemmen" seien. Übrigens ist das dem Pfarrer im Grunde ganz recht, wenn er es auch nicht sagt, denn die "Römerehen" sind jedenfalls noch ein Glück für die öffentliche Sittlichkeit, da die Dörcher auch ohne den kirchlichen Segen schon beisammen sind und oft 6 - 8 Kinder haben. Auch ist jede Gemeinde froh, wenn eine Dörcherin in eine andere Gemeinde heiratet und gibt ihr oft noch heimlich ein Reisegeld, um sie los zu werben. Die Neuvermählten müssen sich nun noch der Kirchenstrafe unterziehen, d. h. sie werden auf 14 Tage abgesondert eingesperrt. Ist die Gefängnißstrafe zu Ende, so lassen sich die Eheleute häuslich nieder oder ziehen mit eigenem Graten in die weite Welt.

Der Winter versammelt die Zerstreuten wieder im heimatlichen Dorfe, wo sie die Wohnung auf Gemeindekosten erhalten. Manche verdingen sich auch als Dienstboten bei einem Bauern. In der Wintersaison wird nun all der Kram verfertigt, mit dem sie im Sommer handeln: Bürsten, Holzschuhe, Kochlöffel, Körbe u. s. w. Gibt es irgendwo einen Markt, so erscheinen auch sicherlich zahlreiche Dörcherkarren am Platze mit allerlei Handelsartikeln.

"Die Märkt', die sein erst unsar Leb'n
Da wärs ohne uns ja ganz lar.
Käst'n-Brotar 2), wenn's koani that geb'n,
Was dös für a Markt eppar 3) war."

2) Kastanienbrater, 3) etwa.

heißt es im bereits zitierten Dörcherliede.

Der größte Festtag der Dörcher aber ist der Kirchtag zu Landeck, wo sie alle Jahre ihre Generalversammlung halten. Dieser Gebrauch soll aus der Zeit herrühren, wo der Landesfürst Friedrich mit der leeren Tasche als geächteter Flüchtling im Tirolerland umherirrte und endlich als wandernder Spielmann auf dem Kirchtag zu Landeck seine eigene traurige Geschichte dem lauschenden Volke vortrug, bis es jubelnd seinen Fürsten erkannte und begrüßte. Die Dörcher behaupten und tun sich nicht wenig darauf zu Gute, sie seien damals die ersten gewesen, die sich für den Fürsten erklärt und ihn beschützt hätten, und feiern noch jetzt den Gedenktag. Ob sich ihre Steuerfreiheit vielleicht auch von dorther schreibt, wissen sie freilich nicht zu sagen, soviel ist indeß gewiß, daß sie keinen Kreuzer zahlen, sondern sich vielmehr selbst als die einzig befugten Steuereintreiber des Landes betrachten, denn, wenn man ihnen nichts gibt, so sagen sie:

Mar 4) find'n schon decht öppas 5) z' leb'n
Dört und do in an oanzachtn 6) Haus.

4) wir, 5) etwas, 6) einzelnen.

Auch wissen sie ganz gut, wo man ihnen hold ist und wo nicht, und haben ihre eigenen Schlupfwinkel, wo sie das gestohlene Gut absetzen. Eine geheime Zeichensprache verbindet sie untereinander, und häufig trifft man im Sande, an den Häusern und Kreuzwegen Zeichen oder Knoten am Weidengebüsch, wodurch sie ihre nachziehenden Kollegen benachrichtigen, wo ein Absatzort, Unterkunft u. s. w. zu finden ist. Große Nullen bedeuten in dieser Zeichenschrift Erwachsene, kleine Nullen Kinder. Alle Dörcherfamilien leben untereinander in einem gewissen freistaatlichen Verbände, indem sie sich nicht nur gegenseitig unterstützen, sondern auch ihre gewissen Satzungen und ihre eigene Gerichtsbarkeit haben oder, richtiger gesagt, hatten. Nur gegen den armen Bauern scheinen sie Stehlen und Betrügen und jede Gewalttat für erlaubt zu halten, und die ohnedies dürftigen Bewohner Oberinntals wüßten viel von dieser Landplage zu erzählen. Denn abgesehen davon, daß ihnen die Wohnung auf Gemeindekosten hergestellt wird, müssen auch alle alten und des Gehens unfähigen Dörcher von der Gemeinde erhalten, und viele uneheliche und verwaiste Kinder erzogen und ausgestattet werden. Nimmt man dazu die außerordentliche Vermehrung dieses Gesindels, die ins Unglaubliche geht, so kann man sich von der in solchen Landesstrichen herrschenden Not einen Begriff machen.

Es wäre sehr zu wünschen, wenn im Interesse des Landes dem Übelstande durch zweckmäßige, konsequent durchgeführte Vorkehrungen abgeholfen würde. Bisher wenigstens erwiesen sich die meisten Maßregeln zur gründlichen Ausrottung dieser Landesplage als unzureichend.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Die Saltner, in: Der Alpenfreund, Monatshefte für Verbreitung von Alpenkunde unter Jung und Alt in populären Schilderungen aus dem Gesammtgebiet der Alpenwelt und mit praktischen Winken zur genußvollen Bereisung derselben. HG Dr. Ed. Amthor, 1. Band, Gera 1870, S. 167 - 173.

Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Renate Erhart, Dezember 2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
© digitale Version: www.SAGEN.at