Der Weihnachtsvogel
von Dr.
Ludwig von Hörmann.
Wie es Nationaltrachten, Nationallieder und Nationalsänger gibt, so gibt es auch Nationalvögel. Zu diesen gehört der Krummschnabel. Bist Du schon einmal in einer tirolischen Bauernstube gewesen? Nun, dann hast Du gewiß auch an der Wand oder an der Zimmerdecke genannten befiederten Arrestanten gesehen, der sich in seinem engen Drahtkerker munter hin- und herschaukelte und Dir sein Trogwasser auf den Kopf spritzte. Er ist, kann man sagen, der spiritus familiaris jeder Tiroler Bauernfamilie, der Papagei des Älplers.
Zwar würde ihn sein hochroter Kämmererfrack mit den olivengrünen Schößen jedenfalls hoffähig machen, aber seine ungelehrige Sängerkehle vermag keine schmelzenden Nachtigallentöne zu flöten, sondern nur tschipp-tschipp zu quietschen und hat sich den Plebejischen Jargon seines grünen Vaterhauses nicht abgewöhnen können. Er kann überhaupt im wahrsten Sinne des Wortes nur singen, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, und die Formation desselben ist allerdings etwas abnorm. Der Oberkiefer ist nämlich mit der Spitze seitwärts gebogen und bald rechts, bald links vom Unterkiefer hakenförmig herabgekrümmt, so daß sich die beiden Schnabelspitzen kreuzen. Darum heißt er auch beim Volke "Kreuzschnabel".
Je nach dem Ausweichen des Unterkiefers unterscheidet man rechte und linke. Diese Mißbildung des Schnabels tut allerdings seinem Exterieur einigen Eintrag, befähigt ihn aber mit Hilfe desselben am Käfiggitter herumzuklettern, den Hanfsamen herumzuwerfen, das Holzwerk zu ruinieren und andere Allotria zu treiben. Wegen dieser Unarten nennt ihn schon der alte Doktor Geßner in seinem Vogelbuch vom Jahre 1557 einen "seer fräßigen wildfang" von einer "groben art. So er g'nug getrunken hat, wirfft er das wasser mit seinem schnabel auß dem g'schier . . . vielleicht darumb, daß er sein bildniß darinnen sieht". Auch andere Unarten, zu denen unter anderem ein gewisser Hang zur Unreinlichkeit gehört, ließen sich noch melden. Es steckt überhaupt etwas "waldursprünglich-sansculottisches" in ihm und so wird unser lieber Kreuzschnabel, Edler von Tannenheim, wohl zeitlebens auf die Ehre verzichten müssen, auf reichumlaubtem Blumentischchen im zierlichen Bauer paradieren zu können.
Desto behaglicher fühlt er sich in Gottes freier Natur. Am liebsten tummelt er sich in Tannen- und Fichtenwäldern herum, deren kernreiche Früchte ihm die Hauptnahrung liefern. Es kann nichts Possierlicheres geben, als einen Krummschnabel zu sehen, wie er mit einem Tannenzapfen, fast größer wie er selbst, herumhüpft und ihn dann seines schmackhaften Inhaltes entledigt. Hierbei kommt ihm seine abnorme Schnabelbildung trefflich zustatten, ja er wäre ohne diese kreuzweise Lage der Kiefern gar nicht imstande, zum Fichtensamen zu gelangen. So aber hebt er mit dem unteren Schnabelhaken die Schuppe, unter der der Same verwahrt liegt, auf, während er mit dem oberen sie hinten, wo sie eingefügt ist, mit Leichtigkeit ausbricht. Auch seine scheinbare Marotte, mitten im Winter zu brüten, hängt mit der Ernährungsart auf das innigste zusammen; denn da der Fichten- und Tannensamen nur im Winter reif und in den Zapfen vorhanden ist, im Frühling aber bereits ausfliegt, so muß unser armer Teufel seine Flitterwochen auf diese kälteste Jahreszeit verlegen, wenn er sich und seiner Brut die nötige Nahrung verschaffen will. Auch eine scharfsäftige Wanzenart (cimex abietis), die unter den Schuppen der Rottannenzapfen ihr Winterlager hält, bildet trotz ihres Gestankes eine Hauptdelikatesse dieses Feinschmeckers und wird zu Hunderten auf die oben beschriebene Weise herausgeholt.
Das Volk, welches natürlich von diesen Küchengeheimnissen keine Ahnung hat, hält ihn, weil er der einzige Vogel ist, der im Winter brütet, in hohen Ehren und gibt ihm den bezeichnenden Namen "Weihnachtsvogel", wenn auch mit einigem Vorbehalte. Denn, wohlgemerkt, nicht jeder Krummschnabel, der um die Christzeit aus dem Ei schlüpft, ist ein solcher. Weihnachtsvogel wird nur jener genannt, der gleich rot aus dem Neste kommt. Die anderen Krummschnäbel sind anfangs grau und werden erst im zweiten Jahre rot, dann gelbgrün. Der "Weihnachtsvogel" ist auch noch durch einen anderen Vorzug ausgezeichnet. Er ist nämlich ein sogenannter "Dritter" oder "Drippler". Du fragst, was das bedeute? Aber lieber Himmel, höre ich den seligen alten Golfer, einen der grüßten Vogelnarren Tirols, jammern, jetzt studieren diese gelehrten Herren in allen Archiven und Bibliotheken und wissen die allereinfachsten Dinge nicht. Also aufgepaßt! Die Krummschnäbel werden nach ihrem Gesange in drei, nach anderen bäuerlichen Vogelgelehrten sogar in zehn Rangklassen eingeteilt; erstens in "Einfache", welche nur ein "G'sang" kennen, in "Doppler", welche zwei und in "Dritter", welche über drei Gesangsarten verfügen. Der Weihnachtsvogel nun ist schon von Geburt aus ein solcher "Dritter", was beiläufig so viel sagen will, wie wenn unsereiner deutsch, französisch und englisch spricht. Es gibt allerdings noch größere Mezzofanti's unter den Krummschnäbeln, die sogenannten "Tschapfer", diese kennen sogar vier und noch mehr Gesänge.
Wegen dieser genannten Vorzüge und Beziehungen zur Weihnachtszeit ist der Weihnachtsvogel, wie überhaupt der Krummschnabel, der angesehenste der Wintervögel und wird deshalb mit Vorliebe gefangen und als Zimmervogel gehalten. Er fehlt auch ganz gewiß nie im Karren eines landfahrenden "Dörchers", wo er mit hochaufgeblasenen Federn in seinem Heunest hockt, daß man es ihm beinahe ansieht, er sei so gut gehegt und gepflegt, als hinge von ihm das Wohl und Wehe der ganzen Nomadenfamilie ab. Dieses Herumzigeunern, das seiner Vagantennatur ganz entspricht, hört nun allerdings bei denjenigen Krummschnäbeln auf, welche in Bauernstuben gehalten werden. Da sieht der engumgitterte Arrestant stets die gleichen Gesichter. Trotzdem fühlt er sich in seinem Käfig behaglich. Läßt man ihn in der Stube frei herumfliegen, so wird er ganz zahm, fliegt auf den großen Eßtisch, besonders wenn es grünen Salat absetzt, oder auf die Pfeife vom alten "Fütterer", dem er speziell gewogen ist. Überhaupt wird er von den Angehörigen sehr gehätschelt, denn man hält ihn für einen Schutzgeist des Hauses und für einen besonderen Günstling des Himmels. Und das ist er auch.
Wer kennt nicht die schöne Legende, die I. R. Vogl, Plönnies, Rückert und in gar lieblicher Weise Julius Mosen behandelt hat. Als nämlich der Heiland unter den bittersten Schmerzen am Kreuze hing und die ganze Natur wie erstarrt war vor Angst und Bangen, da kam ein mitleidiges Vöglein zum Kreuz geflogen und zog mit all seiner schwachen Kraft an dem Nagel, der des Erlösers eine Hand durchbohrt hielt. Das herabtropfende Blut überströmte seine kleine Brust und sein Schnabel bog sich krumm vor Anstrengung; der Heiland aber segnete liebevoll das gutherzige Tier und verlieh ihm zum ewigen Zeichen seiner edlen Tat das blutrote Gefieder und die Kreuzesform des Schnabels.
"Und der Heiland spricht voll Milde: Sei gesegnet für und für,
Trag' dies Zeichen dieser Stunde ewig, Blut und Kreuzeszier."
Seitdem verbreitet der Krummschnabel überall Segen um sich. Das Haus, das ihn besitzt, ist geweiht und gefeit gegen jeden Zauber böser Leute und Hexen. Das Wasser, aus dem der Vogel trinkt, ist heilsam gegen die Gicht. Vorzüglich hält man ihn in Kinderstuben, denn man glaubt, er nehme alle Krankheiten seiner Zimmer- und Hausgenossen auf sich, während er selbst für den Genesenen den Tod erleiden müsse. Ja, so groß ist das Vertrauen zu diesem heiligen Vogel, daß es bei einem Verunglückten, welcher der geistlichen Hilfe entbehren muß, genügend ist, wenn er seine Sünden dem Krummschnabel beichtet. (Vorarlberg.)
Aber nicht nur da, wo er zahm unter den Menschen weilt, auch draußen im weiten grünen Wald weist er achtenswerte Tugenden auf. Der Volksmund erschöpft sich fast in frommen Sagen, welche von seiner Güte und Mildtätigkeit Zeugnis geben. Der Krummschnabel, der, wie wir hörten, um die Weihnachtszeit brütet, pflegt seine Jungen mit mütterlicher Sorgfalt mitten im kalten Winter, wie einst Maria für den neugeborenen Heiland sorgte. Er ist auch der Tobias unter den Vögeln. Wie dieser nämlich die Toten seines Volkes auf den Gassen aufhob und begrub, so fliegt unser gefiederter barmherziger Samariter, wenn irgendwo ein Erschlagener liegt, hinzu und legt grüne Blätter und zarte Zweige auf das Antlitz des Toten, um es so gut als möglich zuzudecken. Traun, aus diesen schön empfundenen Legenden konnte sich mancher hartherziger Levit eine Moral ziehen!
Doch nicht nur heutzutage, auch im Altertum muß der Krummschnabel als heiliges Tier ein Gegenstand der Verehrung gewesen sein, wenn sich auch nur wenige Spuren davon erhalten haben. Aus dem Umstände, daß ihn das 'Volk als Schutzmittel gegen den Blitz verehrt, hat schon Grimm in seiner "Deutschen Mythologie" geschlossen, daß er gleich dem Rotkehlchen einst dem rotbärtigen Gewittergotte Donar heilig gewesen sei, welche Vermutung außer der roten Farbe seines Gefieders noch durch die eigentümliche Formation seines Schnabels, der an den Hammer Donars erinnern mochte, Bekräftigung findet.
Quelle: Tiroler Heimatblätter, 15. Jahrgang, Heft
12, 1937, S. 386 - 388.
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