Ins Gamperdonatal.

Schon im letzten Herbst, als ich ins einsame Saminathal [Saminatal] stieg, trat die Versuchung an mich heran, auch dessem östlichem Schwestertal, das im Hintergrunde nur durch den Grat des Sareiserjoches von ihm getrennt ist, eine Visite abzustatten. Wird es ja in Reisehandbüchern als das "schönste und großartigste von den unbewohnten Hochtälern Vorarlbergs" gepriesen und hatte sich überdies schon durch seinen klangvollen seltsamen Namen in mein Herz eingeschmeichelt. Zwar flößte mir der Ausdruck "unbewohnt" einiges Bedenken ein, besonders zu dieser frühen Jahreszeit. Denn man schrieb erst den 15. Mai und der Frühling hatte kaum auf die Fluren des Haupttales seinen Blumengruß gelegt, wie mochte es also erst im Hintergrund dieses einsamen Hochtals aussehen!

Doch der Sonnenwirth [Sonnenwirt] von Nenzing, bei dem ich mich, beiläufig um 8 Uhr Früh vom Bahnhof kommend, einfand, meinte, ich könne es leicht wagen. In fünfthalb [fünfeinhalb] Stunden könne ich beim St. Rochuskirchlein im "Nenzinger Himmel" sein und in vier Stunden wieder heraußen. Und schlimmstenfalls wäre immer noch beim alten "Dökterle" daselbst Unterkunft für die Nacht zu finden. Zudem seien gegenwärtig die mit Aufforstung beschäftigten amtlichen "Pflanzer" im tieferen Tal; auf diese würde ich bei meinem Marsch jedenfalls stoßen usw. Kurz ich hörte so viel Trostreiches, daß ich, beiläufig um 9 Uhr in Gesellschaft des Sonnenwirthes [Sonnenwirtes], der es sich nicht nehmen ließ, mir ein Stück Weges den Cicerone zu machen, wohlgemut und rüstig ausgriff.

Man gelangt schon nach kurzem Anstieg in kühlen Tannenwald, der einen durch fast zwei Stunden vor der Sonne schützt. Gleich am Beginn erfreut eine landschaftlich und historisch gleich interessante Überraschung. Es sind die Ruinen des untergegangenen Schlosses Stellfeder (castell vetere), welches einst den Herren von Nenzing zu eigen war. Vom vorgeschobenen Schuttkegel, auf dem es stand, genießt das Auge einen weiten Rückblick auf den illdurchströmten Talboden von Nenzing, auf das jenseitige burggekrönte Fruchtgelände von Düns, Schlins und Schnifis und in das weit geöffnete große Walserthal [Walsertal] mit seinen imposanten Riesenwächtern des Rothhorn und Zitterklapfen. Sogar das Felsenhaupt des fernen Widdersteins lugt noch vorwitzig über den grünen Sattel des Schadonapasses. Westlich vom Beschauer aber grüßt als malerischer Vordergrund die Ruine von Ramschwag, jenes altehrwürdigen Montforter Schlosses, das nach Staffler die Appenzeller niederbrannten, als sie "im Jahre 1406 Vorarlberg von Feldkirch bis zum Arlberg schonungslos verwüsteten". Nun bedarf dieser, den Schweizern vorgeworfene Vandalismus allerdings insofern eine Berichtigung, als, wie Professor Zösmair überzeugend nachgewiesen hat, dieses scharfe Vorgehen nicht den Appenzellern allein zur Last fällt, sondern ebenso den mit ihnen verbündeten Vorarlberger Bauern, welche gleichfalls zum "Bund ob dem See" gehörten und im Sengen und Brennen ersteren nicht zurückstanden. Fast schwer trennte sich der Blick von dem in die hellen Farben des Frühlings getauchten Landschaftsbild, um im Weiterwandern durch die grüne Waldesdämmerung Eindrücken ganz anderer Art sich hinzugeben.

Der Weg zieht sich in leichter Steigung an der rechten Talflanke hoch über dem brausenden Wasser des Mängbaches hin. Malerische Holzbrücken über eilenden Sturzbächen, seltsam geformte, oft überhängende Nagelfluhschrofen, später reizende Ausblicke durch die Tannenlichtung geben dem einsamen Waldwege Abwechslung. Ein Glanzpunkt ist die nach dem bekannten Alpenfreunde Buder benannte "Budershöhe", eine schmale Felsennase, die wie ein Balkon in die Engschlucht hineinragt und talaus- und taleinwärts freie Sicht gewährt. Von der Bank daselbst kann man gegen Norden die grünen Matten von Satteins erblicken, gegen Süden aber die ganze Entwicklung unseres Weges, bis sich das Tal gegen Südwesten wendet. Als Zugabe erhalten wir das Prachtstück eines Wasserfalles, der gerade uns gegenüber in mächtigen Stürzen die Fluten des Gampbaches der Mäng zuführt. Hier verabschiedete ich mich von meinem freundlichen Cicerone und stieg mutterseelenallein taleinwärts.

Kein Laut einer menschlichen Stimme weitum; nur hie und da der Pfiff einer Meise, das Rascheln eines Eichkätzchens und tief unter mir das bald nähere, bald fernere Tosen des sich durch die Steinblöcke zwängenden Mängbaches. Nicht doch! War das nicht der dumpfe Hall abstürzender Holzstämme, dazwischen rauhe Männerstimmen? Ein wasserdurchbrauster tiefer Felsenrunst, über den eine schwanke Holzbrücke führt, gab nach wenigen Schritten die Erklärung. Es wurde durch den engen Seitenbach Holz getriftet. Eine gruselige Arbeit! Die hemdärmeligen Leute, zum Teil mit Stricken um den Leib, standen halb in schäumendem Wasser und auf den schmaler Felsrändern, um mit langen, hackenbewehrten Stangen festgesessene mächtige
Stämme frei zu machen, so daß diese dröhnend an die Felsen anschlagend, mit den wilden Fluten hinabschossen. Unweit von dieser Stelle zeigt eine Steintafel mit pietätvoller Inschrift, daß hier ein Zögling der Stella matutina in Feldkirch bei einem Ausfluge durch Bruch des Geländers, über das er sich hinausbog, den Tod in den Wellen gefunden.

Nach beiläufig zweistündiger Wanderung kam ich zur sogenannten Kuhbruck, einer reizenden Idylle, wie man sie in dieser Taleinsamkeit nicht erwarten möchte. Am Ufer des brausenden Baches, von kühlem Tannenschatten beschirmt, steht zwischen bemoosten Steinblöcken ein kleines Kirchlein. Daneben rauscht ein Brunnen mit frischem Wasser, und Sitzbänke, ja sogar ein "Salettl" mit einer Feuerstätte laden zu freundlicher Rast ein. Hier pflegen auch die Säumer, welche den Almhütten im Talhintergrunde auf ihren zweiräderigen Handkarren Notwendiges zuführen, zu rasten und sich mit Schnaps und Speck zu stärken, eheste den nun folgenden ziemlich sonnigen und stückweise steilen Anstieg beginnen. Heute kniete nur ein älterer Mann vor dem Crucifix [Kruzifix] am Wege, der etwas erstaunt dreinschaute, als er mich erblickte. Von ihm erfuhr ich auch Genaueres über den Standort der "Pflanzer", hingegen riet er mir vom Übergang über das Sareiserjoch ab, weil noch zu viel Schnee daraufläge. Mein Plan war nämlich, wenn anders möglich, von St. Rochus aus über besagtes Joch ins Malbunthal [Malbuntal] zu steigen und von da durch den Hintergrund des Saminathales [Saminatales] über die Sücca-Alpe nach Vaduz zu gelangen. Der kitzliche Punkt war nur das beschneite Joch, denn von der hinter dem Grate liegenden Alpe führte ja, das wußte ich, eine förmliche Fahrstraße durch die genannten Täler ins Liechtensteinische.

Da sich der Alte anbot, mir ein Stück weit Überzieher und Reisetäschchen zu tragen, so übergab ich es ihm, nahm es aber bald wieder zu mir, als sich herausstellte, daß seine alten Beine für meinen etwas rascheren Schritt nicht auslangten. So fand ich mich denn bald wieder im kräftigen Marschtempo mit mir allein.

Nach weiteren zwei Stunden gelangte ich zur Valser Alpe. Hier wird das Tal schon breiter, die Steigung hört auf; zugleich entwickelt sich immer mehr der imponierende Hintergrund. Der gewaltige Panüelerschrofen, der den westlichen Felsschemel des Brandnerferners bildet, tritt in seiner ganzen Großartigkeit heran. Nun geht es rasch der Weite des "Nenzinger Himmels" zu. Rechts zeigt sich auch bereits der beschneite Grat des Sareiserjoches. Mein "Gucker" spähte ängstlich die westliche Höhenflanke ab, um die "Pflanzer", welche nach der Angabe des Alten in dieser Gegend sein mußten, zu entdecken. Endlich, ein ziemliches Stück oberhalb der Brücke, welche wieder auf das östliche Ufer führt, erblickte ich sie. Da das Rauschen des Baches jede mündliche Verständigung unmöglich machte, gab ich durch Zeichen zu verstehen, daß einer von ihnen herabkommen möchte. Sie erwiderten dieselben teils durch Rufe, die ich natürlich nicht verstand, teils durch ebenso verworrenes Herumschlenkern mit Armen und Beinen, das dem Kriegstanz eines Südsee-Insulaners alle Ehre gemacht hätte. Schon wollte ich den Weg zur Brücke wieder zurück machen, um auf diese Weise zu ihnen zu gelangen, als gerade mir gegenüber einer der Arbeiter am jenseitigen Ufer auftauchte. Aber auch mit diesem war eine Verständigung nicht möglich. Der machte jedoch wenig Umstände und watete durch den Bach. Auf den Schultern trug er ein schweres eisernes Beil.

"Den laß' ich nicht mehr los", war mein erster Gedanke. Ich setzte ihm nun auseinander, was ich wollte. Er warf einen prüfenden Blick auf das Joch und meinte, es wäre schon möglich hinüberzukommen; allerdings ohne etwas Einbrechen in den Schnee werde es nicht abgehen. Die Begleitung bis zum "Nenzinger Himmel" oder St. Rochus sagte er willig zu, aber dann müsse er zu seiner Arbeit zurück. Mit dem "Dökterle", der sonst die Touristen über das Joch zu geleiten pflegte, sei nichts mehr zu machen, er sei zu alt, und komme kaum im Sommer mehr hinüber, geschweige jetzt bei Schnee. Das sah nicht sehr tröstlich aus.

Unterdessen waren wir beim berühmten "Nenzinger Himmel" angelangt. Rings von dunklen Wäldern und saftgrünen Mähdern umrahmt, nimmt sich dieser umfangreiche Weideplatz zu beiden Seiten des Mängbaches ganz prächtig aus. Zahllose Alpenhütten, teils in Reihen gestellt, teils in Gruppen, sind rings auf der grünen Fläche zerstreut. In der Mitte steht das stille St. Rochuskirchlein. Es stammt, wie eine Votivtafel an der Wand sagt, aus dem Jahre 1630, wo sich der "ehrbare und bescheidene Felix Maria und Anna Tuellin, dessen eheliche Hausfrau . . . wegen eines Falles über einen hohen Felsen herunter verlaubt und versprochen haben, dieses Kirchlein allhier aufzubauen". Bald bewies es seine gnadenwirkende Tätigkeit, denn schon im Jahre 1687, "als sich Elisabeta Herpfingerin, des Adam Tschamon von Nenzing eheliche Hausfrau in Büsel ohne alle menschliche Hilff [Hilf] und Gegenwart in Kindesnöten befunden, hat sie gegenwärtiges Bild verlobt und darauf ganz glücklich zwei Kinder zur Welt geboren". Ein Mann in langem, knöpfebesetztem, grünem Rock und eine Frau, zwischen ihnen zwei Wickelkinder, vergegenwärtigen dem Beschauer das freudige Familienereignis.

Unweit der Kirche steht das "Hotel zur Sonne", wie der Schild über der Tür scherzhaft die kleine ebenerdige Unterkunftshütte nennt. Und doch, wie herrlich lebt sich's da beim allereinfachsten Komfort. Als ich später zum zweitenmal in diese Gegend kam, konnte ich mich mit meinem Gefährten von diesem friedlichen Plätzchen kaum trennen, so freundliche und liebenswürdige Aufnahme und Behandlung fanden wir, so daß wir bei gutem Wein und kräftigem "Schmarn" die feine Hotelküche samt den befrackten Kellnern leicht vermißten. Stundenlang könnte man hier im Schatten hinter dem Hause liegen und in langen Zügen die prickelnd kühle Luft einsaugen, während das Auge bald zu den Hängen des Panüelerschrofens schweift, bald zur stolzen Pyramide des Naafkopfes, der als Grenzwacht zwischen Vorarlberg, Liechtenstein und der Schweiz den Talschluß bildet.*)

*) Seit dem Sommer 1897 steht ein neues von den Alpen-Interessenten der Gemeinde Nenzing erbautes Unterkunftshaus, das der Sonnenwirth Zerlauth in Thüringen auf 5 Jahre in Pacht genommen hat.

Heute freilich sah die Gegend nicht so verlockend aus. Kein Schellengebimmel weidender Rinder, kein Hirtenruf belebte den weiten mattgrünen Rasenplatz; Kirchlein und "Hotel" samt den vielen Holzhütten, den Sommerrasten der Nenzinger Familien, waren geschlossen, meine ganze Gesellschaft war der "Pflanzer", mit dem ich, mein mitgenommenes Essen teilend, auf einer der Holzbänke saß und meine Unterhandlungen wegen der Begleitung auf das Sareiserjoch fortsetzte. Erst als er mir mitteilte, daß sein Vorgesetzter der Forstmeister Hosp sei, und ich ihm sagte, daß dieser ein alter Freund und Duzbruder von mir sei und ihm versprach, vom Joch aus ein paar entschuldigende Zeilen mitzugeben, ließ er sich bewegen, mich zum Grat zu begleiten. So brachen wir denn beiläufig um halb 2 Uhr von St. Rochus auf und begannen den Anstieg. Die Alpenvereins-Sektion Nenzing hat einen ganz bequemen Weg anlegen lassen, der einen in angenehmer Steigung auf die Höhe bringt. Anfänglich, so lang noch "aperer" Boden war, ging es auch rasch vorwärts. Schlimmer gestaltete sich der Anstieg, als wir beim Schnee angelangt waren und der Weg in Folge dessen sich nur von Zeit zu Zeit wieder finden ließ. Fehlgehen kann man natürlich nie, weil der breite Sattel ganz offen daliegt, aber das häufige Einbrechen in den zu wenig verharschten Neuschnee hatte etwas sehr Ermüdendes. Da ich meist in die Fußstapfen meines Führers trat, nahm ich mir selten Zeit, Rückblick auf die Landschaft zu nehmen, obwohl derselbe nach jeder Richtung lohnend ist. Die friedlich unten liegenden Hütten mit dem stillen Kirchlein, die Majestät der ringsum aufgebauten Bergkolosse, das blendend Weiße "Federbett" des Brandner Gletschers entzücken das Auge ebenso, wie der Blick talauswärts zu den blauen Bergen des innern Walgaues und zum hohen Freschen, der über die ganze nördliche Kette dominierend herausschaut.

Endlich nach zweistündigem Marsche hatten wir den Sattel des Sareiserjoches erreicht. Er ist, man könnte fast sagen, scharf wie ein Messerrücken, so daß man plötzlich mit einem Blick das jenseitige Malbunthal [Malbuntal] überfliegen kann. Ein wohliges Gefühl durchströmte mich, als ich nicht weit unter mir die Alpenhütten liegen sah und zugleich das hübsche Sträßchen, das mich nun mühelos bis nach Vaduz, beziehungsweise bis zur Bahnstation führen würde. Für Herrn Forstmeister Hosp, den Vorstand des braven "Pflanzers", riß ich ein Blatt aus meinem Notizbüchlein und schrieb hinauf: "Lieber alter Freund! Ich hätte wahrlich nicht gedacht, daß der erste Gruß, den ich nach fast dreißig Jahren, wo wir als flotte Studenten beim Adambräu kneipten und tanzten, Dir zusende, zugleich eine Bitte sei. Ich habe nämlich im Vertrauen auf Deine stillschweigende Genehmigung einen Deiner "Pflanzer" überredet, mich auf das Sareiserjoch zu führen, da ich nicht wagte, allein diesen schneeigen Sattel zu passieren. Mach ihm deshalb keine Vorwürfe, sondern miß alle Schuld bei Deinem treu ergebenen alten Studienfreund Hörmann". Diese Zeilen gab ich ihm nebst der Entlohnung für den Gang, drückte ihm warm die Hand und eilte in beflügelten Sprüngen die ziemlich schneefreie steile Halde hinab, bis ich bei der Straße angelangt war.

Da setzte ich mich im Angesichte mehrerer noch nicht bezogener Alpenhütten nieder und ließ meine ermatteten Füße und Kniegelenke ausruhen. Dann aß ich das letzte Restchen meiner Wurst und löschte meinen brennenden Durst, zündete hierauf eine Zigarre an und blies die blauen Wölkchen mit solchem Behagen ins Blaue, als ob ich schon in Vaduz beim kühlen Wein säße und nicht erst noch das ganze Malbunthal [Malbuntal] zu durchlaufen und das Saminathal [Saminatal] zu durchqueren hätte. "Edle Liechtensteinische Regierung!" jubelte mein dankbares Herz, "wie sorgst du unbewußt mütterlich auch für die armen Touristen, indem du fahrbare Straßen bis in die innersten Talwinkel anlegtest! Habe auch du Dank", meditierte ich fröhlichen Sinnes weiter, "wohlwollendes Schicksal, daß du als rettenden Schutzgeist in diese Gegend gerade meinen lieben alten Freund Posch - - wollte sagen - -Hosp - - Posch - - ; Herr des Himmels, was habe ich da gemacht! Mein alter Freund Forstmeister heißt ja gar nicht Hosp, sondern Posch. Einen Forstmeister Hosp kenne ich gar nicht und er mich nicht. Aber wie kann man so etwas verwechseln. Es ist doch zu blöd - zu dumm!"

Da ich mich nicht länger Grobheiten aussetzen wollte, so packte ich meine Habseligkeiten zusammen und wanderte aus dieser Gegend des Fluches.*) - Wie angenehm geht es sich nach anstrengendem Steigen auf gut gebahntem Wege. Doch man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Gleich bei der eisten Wendung der Straße gähnte mich ein abschüssiges Lawinenfeld an, das die Straße auf mindestens 50 Schritte sperrte. Wie Eisenstangen sanken meine Beine in den weichen Schnee. Doch die Sperre ward endlich glücklich überwunden. Leider wiederholten sich diese unangenehmen Unterbrechungen noch fünf- bis sechsmal und hörten erst auf, als ich zur nächsten Alpe kam. Hier traf ich schon Leute, welche mit Ausbesserung der Hütten und Zäune für den nahenden Auftrieb des Viehes beschäftigt waren. Auch der Weg wurde belebter. Kraxenträger mit Alpengerätschaften und Proviant kamen an mir vorüber und boten mir ihr freundliches "Guata Tag."

*) Dem freundlichen Leser diene zur beruhigenden Aufklärung, daß mir hinsichtlich dieser unliebsamen Verwechslung noch im Herbste desselben Jahres, als ich wieder dieses schöne Tal besuchte, von der liebenswürdigen Gattin des Herrn Forstmeisters Hosp, die sich hier in der Sommerfrische befand, volle Generalabsolution erteilt wurde.

Das quer von Südost nach West abfallende, etwa anderthalb Stunden lange Malbunthal [Malbuntal] bietet sonst nicht viel des Interessanten. Desto schöner entfaltet sich am Ausgang der Weideboden des Saminathales [Saminatales], in welches es fast senkrecht einmündet. Diese grüne mit Reihen von Almhütten belebte Ausweitung, in welche der langgestreckte und unwirtliche Runst genannten Tales ausläuft, hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der weitgedehnten Wiesenfläche des "Nenzinger Himmels", nur ist letztere größer. Hingegen ist das rückwärtige Gebirgshalbrund mit dem gewaltigen Naafkopf fast noch effektvoller, als das vom Gamperdonathal [Gamperdonatal].

Es ist überhaupt schwer zu sagen, welches der drei parallel laufenden Schwestertäler Brandner-, Gamperdona-, Saminathal landschaftlich das schönste sei. Jedes derselben weist eigentümliche Schönheiten auf. Besuchenswert sind sie alle drei. Und gerade das Saminathal [Saminatal] hat dadurch, daß es, wie wir gleich sehen werden, von Vaduz aus so spielend leicht zu erreichen ist und gute Unterkunft bietet, einen gewissen Vorzug voraus. Letzterer fiel diesmal für mich weg, denn das Gasthaus "zur Sücca", das von der Westflanke des Tales so verführerisch herabblickte, war noch geschlossen und mit ihm das gute Nachtquartier, von dem ich sicher Gebrauch gemacht hätte. Aber zur schönen Jahreszeit, wenn alle Wiesgründe und Almplätze ringsum von weidendem Vieh wimmeln, da herrscht in diesem herrlichen Alpenwinkel ein reges Treiben. Durchziehende Touristen und fröhliches Jägervolk nehmen hier Nacht- und Standquartier, und von der luftigen Veranda, von wo aus der Blick auf den untenliegenden samtgrünen Weideboden und auf die ernstheiteren Gebirgshäupter im Kreise schaut, blinken die lichten Kleider der Sommerfrischlerinnen, welche da ihren abendlichen Heimgarten halten. Besonders schön ist die Sicht talauswärts durch und über die schattige Saminaschlucht zu den sonnigen Höhen von Gövis, Dums und Übersaxen, ja selbst ein blauer Streifen des Bodensees ist zeitweilig noch zu erschauen, doch gilt dies als kein gutes Wetterzeichen.

Solchen Erwägungen gab ich mich hin, als ich nach Durchquerung der Talweite gegen das einsam dastehende Süccagasthaus stieg. Die Straße führt knapp an ihm vorbei, um dann in wenigen Serpentinen zur Höhe des Kulmtunnels hinanzusteigen, der das Saminathal [Saminatal] vom Rheinthal [Rheintal] trennt. Noch einmal warf ich einen Blick auf das dunkelnde Alpengefilde, dann umhüllte mich die kühle Dämmerung des Tunnels, nm mir nach beiläufig sechzig Schritten mit einem Schlag den im Abendschein daliegenden Garten von Liechtenstein zu zeigen.

Der unvermittelte Gegensatz zwischen der großartigsten Hochgebirgsszenerie und dem südlich heiteren Landschaftsbilde des Rheinthales [Reintales] gehört unstreitig zu den größten touristischen Überraschungen, welche man erfahren kann. Aber auch für sich allein ist der Blick vom Ausgang des Tunnels einzig schön. Die wunderbar geschlungene Kette der Schweizer Gebirge, die zackigen Riffe am St. Luciensteig [Luziensteig], die malerische Einsenkung gegen den Wallensee, die breite dörferbesäte Fruchtfläche des Rheinthales [Rheintales] mit dem majestätisch dahinwogenden Strome - alles dies über den grünen Vordergrund des Trisenerberges hin betrachtet, läßt einen unlöschbaren Eindruck zurück.

Lange stand ich vor diesem Bilde, dann trabte ich in der abendlichen Kühle die vielfach gewundene Straße nach Vaduz hinunter und von da zur Bahnstation Schaan, um nach einer halben Stunde im freundlichen Feldkirch mich von den Strapazen dieser Hunger- und Durstcur [Durstkur] zu erholen.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Wanderungen in Vorarlberg, 2. Auflage, Bregenz 1901, S. 130 - 141.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Mag. Veronika Gautsch, Dezember 2005.
Rechtschreibung behutsam neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht.
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