Rund um Archangelsk - Ljawlja - Die Nikolauskirche
© Oksana Fedotova

In der Umgebung von Archangelsk gibt es noch Dörfer und Siedlungen mit alten Denkmälern der Holzarchitektur. Ein solcher Ort befindet sich nur etwa 35 km südlich von Archangelsk. Das ist die alte Siedlung Ljawlja am Ufer des kleinen Flusses Ljawlja, nicht weit von der Stelle ihrer Einmündung in die Nördliche Dwina.


Ljawlja Fluss © Oksana Fedotova

Fluss Ljawlja.

Heute versteht man unter Ljawlja eigentlich eine Vereinigung von 5 kleineren Dörfern. Sie sind nicht besonders interessant, da gibt es keine alten traditionellen Holzhäuser, nur modernere Häuser oder Datschas (russische Landhäuser). Ljawlja ist aber für ihre größte Sehenswürdigkeit bekannt – die Nikolauskirche, eine der ältesten (in manchen Quellen steht: die älteste) bis heute erhaltenen Holzkirchen solchen Typus in Russland.

Diese Gegend war schon seit uralten Zeiten besiedelt. Der Fluss war reich an Fischen und der Wald an Tieren, der Boden war für Ackerbau sehr gut geeignet. Seit dem 14. Jahrhundert begann der Kampf zwischen Nowgorod und Moskau um dieses fruchtbare Land. Gerade in diese Zeit fällt die Gründung des Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Klosters *) in Ljawlja, mit dem die Geschichte der Nikolauskirche eng verbunden ist.

*) Entschlafung der Gottesgebärerin / Entschlafung der Gottesmutter – ein Fest der russisch-orthodoxen Kirche, entspricht der Mariä-Himmelfahrt in der katholischen Kirche.


Blick auf die Nördliche Dwina und Autostraße Archangelsk-Pinega mit einer kleinen Brücke über Fluss Ljawlja (von links nach rechts geht es Richtung Archangelsk) © Oksana Fedotova
Blick auf die Nördliche Dwina und Autostraße Archangelsk-Pinega mit einer kleinen Brücke über Fluss Ljawlja (von links nach rechts geht es Richtung Archangelsk)


Dank seiner geografischen Lage – die Nördliche Dwina war damals der Haupthandelsweg im Russischen Norden – entwickelte sich das Kloster wirtschaftlich und gesellschaftlich schnell und spielte jahrelang eine große Rolle im Leben der Region. Anfang des 17.Jahrhunderts mit der Verstärkung eines anderen nördlichen Klosters – Antonij-Sijskij-Klosters – begann der Niedergang des Klosters von Ljawlja. Es wurde dem Sijskij-Kloster angegliedert, fast alle Mönche mussten umziehen, alle Werte, einschließlich einer reichen kirchlichen Bibliothek, wurden ins Sijskij-Kloster gebracht. 1764 wurde das Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kloster in Ljawlja endgültig geschlossen und an seiner Stelle wurde nur eine Pfarrei gegründet.

Es gibt keine Beschreibungen des Klosters in Ljawlja aus dem 14.-16. Jahrhundert. Es ist nur bekannt, dass alle Klosterbauten damals aus Holz waren. Das ist natürlich, wenn man daran denkt, dass die Stadt Archangelsk selbst erst 1584 gegründet wurde und für viele Jahre eine Holzstadt blieb. Die heute in Ljawlja existierende Holzkirche gehört in das Ende des 16. Jahrhunderts. Ihr Aufbau begann 1581, und nur drei Jahre später, 1584, wurde sie dem Fest Entschlafung-der-Gottesgebärerin zu Ehre eingeweiht.


Die Nikolauskirche, ehem. Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche © Oksana Fedotova

Die Nikolauskirche, ehem. Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche

Das war eine etwa 40 m hohe Holzkirche mit einem Zeltdach. Das Holzbau und die Dekoration der Kirche wurden mit einfachen Instrumenten – Axt und Handbeil – angefertigt. Im Grundriss der Kirche liegt ein "wosmerik" *, vom Westen und Osten wird er durch zwei gleiche "tschetweriki" ** ergänzt, abgeschlossen durch das Element "Fass" ***. Im östlichen "tschetwerik" befindet sich der Altar, im westlichen – ein "pritwor" ****. Ursprünglich gab es noch eine den „wosmerik“ von drei Seiten umlaufende überdachte Außengalerie auf Konsolen mit Bänken, wo sich die Kirchengänger erholen konnten, denn in den russischen orthodoxen Kirchen gibt es traditionell keine Stühle oder Bänke, so dass die Menschen während des Gottesdienstes stehen müssen.

*) Wosmerik, Pl Wosmeriki – in der russischen Architektur ein im Bauplan achteckiger Bau oder sein Teil; vom russischen Wort „wosem“ – „acht“. In der russischen Kirchenarchitektur (zuerst in der Holzarchitektur, später auch im Steinbau) war die Konstruktion „wosmerik auf tschetwerik“ sehr verbreitet. Der untere Teil der Kirche ist ein viereckiges Balkengefüge, darauf stellt man ein achteckiges Holzwerk. Oben können noch ein oder zwei kleinere „wosmerik“ sein, mit Endung in Form von einem Zelt oder einer Kuppel.
**) Tschetwerik, Pl Tschetweriki – ein im Bauplan viereckiger Bau; vom russischen „tschetire“ – „vier“.
***) Fass – eine Deckungsform von zwei vom First ausgehenden abgerundeten Dachflächen.
****) Pritwor – der westliche Teil einer christlichen Kirche, von seinem mittleren Teil durch eine Wand getrennt. Während eines Gottesdienstes konnten in diesem Raum auch Nichtchristen stehen. Der andere Name dieses Kirchenteils – „trapesnaja“ (vom griechischen „trapesa“ – Mahl), denn hier wurde das Essen für die Bettler an Festtagen oder auf Totenfesten bereitgestellt.

Das Fenster der Nikolauskirche © Oksana Fedotova

Das Fenster der Nikolauskirche

Die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche war nicht der einzige Kultbau des Klosters. Daneben gab es noch eine andere Holzkirche – die Nikolauskirche – und einen Glockenturm. So ein Dreier-Ensemble (zwei Kirchen und ein Glockenturm) war im Russischen Norden sehr verbreitet. Leider konnte im Laufe der Geschichte dieses Kirchenensemble nicht erhalten werden. Der Glockenturm ging bis Anfang des 19.Jahrhunderts verloren und die beiden Kirchen waren in einem beklagenswerten Zustand.

Holzschmuck der Nikolauskirche, Blick von unten © Oksana Fedotova

Holzschmuck der Nikolauskirche, Blick von unten.


Im Jahre 1804 wurden alle Gottesdienste von der Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche in eine neu gebaute Steinkirche übertragen. 1844 besuchte der Archangelsker Militärgouverneur Marquis Alexander de Traverse Ljawlja und äußerte den Wunsch, die alte Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche auf eigene Kosten zu restaurieren. Es wurde erzählt, dass die Frau des Marquis im Traum gesehen hatte, dass ihr schwer erkranktes Kind gesund wird, wenn ihr Mann eine alte Kirche in der Gemeinde von Ljawlja restauriert. Während der Restaurierung wurde die Außenansicht der Kirche leider stark verändert. Die unteren verfaulten tragenden Stammlagen wurden nicht durch neue ersetzt, sondern einfach weggenommen, dabei hat die Kirche 2,5 m an Höhe verloren. Die gesamten Bauproportionen waren gestört, die schöne Außengalerie war verschwunden. Die renovierte Kirche wurde am 1. Juli 1845 erneut dem Nikolaus-Wundertäter geweiht, denn die alte Nikolauskirche war schon geschlossen. Nikolaus-der-Wundertäter, der Schutzpatron der Seeleute und aller Reisenden, war einer der beliebtesten Heiligen in Russland und besonders im Russischen Norden, ihm waren sehr viele Kirchen an der Nördlichen Dwina und am Weißen Meer geweiht. Es gab früher sogar einen Spruch:
"Von Cholmogory *) bis Kola **) sind drei und dreißig Nikola".

* Cholmogory – eine Siedlung im Archangelsker Gebiet im unteren Flusslauf der Nördlichen Dwina, heute das Zentrum des Cholmogorskij Bezirks. Die Siedlung ist seit dem 14.Jahrhundert bekannt uns spielte eine wichtige Rolle im Norden Russlands vor der Gründung von Archangelsk, das zuerst den Namen Nowocholmogory (=die Neuen Cholmogory) hatte.
**
Kola – Halbinsel am Nordrand des Weißen Meeres im Murmansker Gebiet.


1943 wurde die Siedlung von einem Truppenteil besetzt und in der Kirche wurde ein Klub eröffnet. Dann verwahrloste das Kirchengebäude lange Jahre in der Sowjetzeit, aber Anfang der 1970-er Jahre wurde die Kirche dem Freilichtmuseum „Malye Korely“ übergeben. Während der neuen Restaurierungsarbeiten wurde die spätere Umkleidung der Kirche weggenommen und die ursprüngliche Lemech-Dachdeckung *) wiederherstellt.

* Lemech – eine besondere Holzdeckung russischer Kirchenkuppeln. Die Holzschindeln wurden meistens aus Espenholz angefertigt. Dieses Holz bekommt mit der Zeit eine schöne silberne Farbe und die Kuppeln der Holzkirchen spielen dann in der Sonne wie Silberschuppen.

Das mit Lemech bedeckte Zeltdach der Nikolauskirche © Oksana Fedotova

Das mit Lemech bedeckte Zeltdach der Nikolauskirche

Die 1804 daneben aus Stein gebaute Kirche wurde auch als Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche geweiht. Ihr äußeres Aussehen hat sich seit dem Bau nicht sehr stark verändert. Vor ein paar Jahren hatte diese Kirche noch eine schöne rosa Farbe, jetzt kann man es sich nur vorstellen, wie schön es von der Strasse ausgesehen hatte: eine dunkle Holzkirche und eine rosa Steinkirche.


Die Nikolauskirche und die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche © Oksana Fedotova
Die Nikolauskirche und die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche

Die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche © Oksana Fedotova

Die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche.

Etwas hangabwärts befindet sich hinter der Holzkirche eine Wasserquelle.

Die Geschichte der Heiligen Quelle oder des Heiligen Brunnens, wie man sie noch nennt, beginnt schon in den 1580-90-er Jahren. In den alten Zeiten wurde über der Wasserquelle ein Holzhaus mit zwei getrennten Abteilungen für Frauen und Männer gebaut, da haben sich die Gläubigen mit dem Wasser aus der Heiligen Quelle übergossen. Man erzählte von vielen Heilungsfällen.

In der Sowjetzeit wurde die Quelle verschüttet, heute ist der Heilige Brunnen wieder da und über der Quelle steht noch eine kleine Holzkapelle. Das Wasser aus diesem Brunnen wird von den Einwohnern und Pilgern nicht getrunken, man wäscht sich nur das Gesicht und die Hände damit.

Die Kapelle über der Heiligen Quelle © Oksana Fedotova

Die Kapelle über der Heiligen Quelle

Die Fachleute von der „Archangelsker Geologischen Förderung“ haben vor einigen Jahren die Quelle untersucht und Folgendes festgestellt – das Wasser kommt aus einer 18 - 20 m tief liegenden Sandlinse, die vom Oberwasser durch eine große Schicht vom blauen Ton getrennt ist. Das Wasser in der Quelle ist immer sauber und klar.

Der Heilige Brunnen © Oksana Fedotova

Der Heilige Brunnen


Ikone der Entschlafung-der-Gottesgebärerin in der Holzkapelle über der Heiligen Quelle © Oksana Fedotova

Ikone der Entschlafung-der-Gottesgebärerin in der Holzkapelle über der Heiligen Quelle

Nicht zufällig wurde noch ein Seitenaltar in der Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche den Märtyrern der Neuzeit geweiht.

In Ljawlja befand sich in den 1930-er Jahren die Verwaltung der Nördlichen Sonderlager (USELON). Das war eine Etappenstation, hier wurden die inhaftierten Kulaken *) aus der ganzen Region Archangelsk gebracht und von hier aus weiter in die Sonderlager von Pinega, Kuloj usw. geschickt.

*) in Russland nach der Revolution 1917 die Bezeichnung für ländliche Groß- und Mittelbauern. Im Rahmen der Kollektivierung der Landwirtschaft seit 1928 wurde den Kulaken ihr Eigentum enteignet und sie selbst, oft mit Familienangehörigen, wurden in die Arbeits- und Sonderlager geschickt.


Neben dieser Funktion erfüllte die Behörde noch eine andere schreckliche Aufgabe – sie funktionierte als Exekutionskommando. In den naheliegenden Dörfern Tschernij Jar, Babonegowo, Psarewo, Malye Korely sind die Massengräber von Hunderten von hier erschossenen Menschen. An der Elnitschnij-See wurden z.B. 1925 nur in 2 Tagen etwa 700 Menschen erschossen, die Mehrzahl davon waren Geistliche. 1929 wurden an der Nördlichen Dwina gerade gegenüber dem Dorf Erschowka (gehört zu Ljawlja) mehrere Schleppkähne mit Häftlingen versenkt.

An diese traurige Seite unserer Geschichte erinnert heute das Gedenkkreuz „an alle unschuldig Ermordeten“ in Ljawlja.


Das Gedenkkreuz „an alle unschuldig Ermordeten“ und die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche © Oksana Fedotova
Das Gedenkkreuz „an alle unschuldig Ermordeten“ und die Entschlafung-der-Gottesgebärerin-Kirche

Alle Fotos: 12.Juni 2009, Ljawlja, Archangelsker Gebiet, Russland.

Quellen:
1. Gnedowskij B., Dobrowolskaja E. „Rund um Archangelsk“. Verlag „Kunst“, 1978.
2. „Denkmäler des Russischen Nordens“. Archangelsk, 1991.
3. [Link] www.svyato.info (die heiligen Quellen von Russland)

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