Die Zirbel

Kennst Du die Waldrasterspitze bei Innsbruck?

Das ist ein steingewordenes Gedicht in drei Strophen, die so schön gebaut sind, wie sie nur der große Dichter des Alls, der diese ganze schöne Welt gedichtet hat, der liebe Herrgott bauen kann. Das ist ein marmorner Hymnus an das Unendliche, das sich um ihn weitet, an das Licht, das über ihm lodert.

Und da unten, wo die Sill und die Rutz [Ruetz-Bach] mit brausendem Getöse sich vereinigen, fährt in einer Postkalesche ein Dichter vorbei; er folgt einem Sehnsuchtwillen seiner Seele, die blaue Weiten und Tiefen sehen will, das Meer und den Himmel Italiens!

Und seine Sehnsucht ist vielleicht schon drinnen in den blauen Wundern von Capri, so daß er die Waldrasterspitze, das steinerne Gedicht nicht einmal sieht.

Wenigstens zieht er sein Merkbüchlein nicht heraus und schreibt sich nicht auf, was da Wunderbares vor ihm in den leuchtenden Himmel ragt.

Und dieses steinerne Gedicht sollte er doch bewundern. Ist er ja selbst ein großer Dichter, freilich nicht so groß, wie der liebe Gott, der diese Strophen baute, aber immerhin ist er - Wolfgang Goethe...

Tiefer ist das Bachrauschen im Tale versunken, der steile Weg ist immer höher angestiegen, fernher aus dem Talgrunde leuchten bleiche Firne, der Wagen fährt schneller, weil die Berghöhe erreicht ist; rechts vom Wege steht ein hochkroniger, schlanker, dunkler Baum, der in's Dunkelblau ragt. Da zieht der Herr in der Kalesche sein Merkbüchlein und schreibt:

"Den Brenner herauf sah ich die ersten Lärchenbäume, bei Schemberg [Schönberg] den ersten Zirbel."

Also geschehen anno domini 1786, als Herr von Goethe nach Italien fuhr im Monate September.


Heute nennt man den Baum "die Goethezirbel". Der Verschönerungsverein hat ihn angekauft und eine Tafel trägt die Inschrift über das Geschehnis.

Die Fremdenführer und die Kutscher machen die Fremden auf den Baum aufmerksam, begeisterte Gymnasiasten heben den Hut, wenn sie an dem Baum vorbeigehen, oder singen in seinem Schatten ein Goethesches Lied: "Hier sind wir versammelt zum löblichen Tun", während naturwissenschaftliche Skeptiker behaupten, es habe weder Goethe diesen Baum gesehen, noch umgekehrt, weil der Baum damals noch nicht auf der Welt war. Die Jugend des Baumes dränge zur Annahme, daß ein anderer Baum höheren Alters, der heute nicht mehr besteht, und so weiter ....

Wir aber lassen uns den Baum als Goetheerinnerung einmal nicht nehmen, was schon einmal bewiesen worden ist, als die Säge, die ihn töten sollte, schon zum Stamme getragen wurde.

Das ist eine ganz verwickelte Geschichte, wie der Baum uns erhalten blieb, und diese Geschichte will ich erzählen, so lange wir den Baum noch haben.

Also die Geschichte war so:

Stieg da eines Nachmittags ein Herr, ein Arzt aus Innsbruck, über die alte Brennerstraße hinauf, reichlich mit dem Schweiße seines Angesichtes gesegnet, und atmete auf, als er die Berghöhe erreicht hatte.

Es ist schön heroben. Die Straße ist aus dem Walde getreten. Das erste Häuslein rechts liegt bereits hinter dem Wanderer; behäbige, weißgetünchte Bauten, denen man es ansieht, daß sie einst eine größere Bedeutung als heute hatten, stehen am linken Straßenranft. Hier hielten vor hundert Jahren die Postkaleschen.

Der Weg teilt sich bei einer Kapelle, hinter welcher die schlanke Zirbel steht.

Der, dessen Augen ins Höhere und Weitere wandern, sieht aber noch mehr . . . . er sieht eine göttliche, sonnenumflutete Dreieinigkeit, ein steinernes Riesensymbol des Geheimnisses, das die Natur mit starkem Meißel aus dem Urfelsen in den ersten Schöpfungstagen schlug, in's glänzende Blau ragen. Das ist die Waldrasterspitze! Und ferneher sieht der Wanderer die Eisberge wie schimmernde, silberne Märchenschlösser aus zauberhaften Talgründen funkeln. Das sind die Stubaier Firne!

Als unser Wanderer also vor dem Baume stand, sah er einige Bauernknechte mit Säge, Seil und Beil in nicht mißzuverstehender Weise darangehen, den Baum zu fällen. Da bin ich gerade noch recht gekommen, dachte sich der Doktor und fragte einen Burschen:

"Was macht Ihr denn da?"

"Den Bam tuen mir umsag'n."

"Ja warum denn?"

"Weil's die Bäurin geschafft hat."

"Aber der Baum ist so schön, er ist eine Zierde der Gegend . . . ."

"Mir müess'n tuen, was die Bäurin anschafft."

"Ja, habt Ihr denn nie Fremde da gesehen, die den Baum anschauen?"

"Woll, woll! Sell schon!"

"Das ist, weil er die niederste Zirbel ist und Fremden den Alpenbaum sehen wollen und weil er schon hundert Jahr alt ist und weil --- "

"Wenn Oes a no zwanz'g Weil wisset's, mir müess'n tuen, was uns die Bäurin anschafft."

"Wo ist denn die Bäurin?"

"Da drüben im Haus unterm Weg."

"Also horcht's, Burschen, da hat einer Geld für einen Doppelliter Wein. Er soll beim Domanig einen holen; den trinkt's Ihr auf meine Verantwortung, bis ich mit der Bäuerin geredet hab'. Derweil dürft Ihr aber den Baum nicht anrühren, und Ihr werdet schon sehen, der Baum bleibt stehen, wo er steht!"

Das waren die Burschen zufrieden, denn sie taten auch lieber Wein trinken, als Bäume fällen, und erfreuten sich am Tiroler Rötel, während der Doktor mit der Bäuerin sprach.

Der saß schon in der Stube auf der Ofenbank und redete auf ein hutzeliges, altes Weiblein, das emsig das Spinnrad surren ließ, nach Kräften ein. "O mein, Bäurin, Ihr wißt gar nicht, was Ihr mit dem Baum da umbringt! Der Baum ist ehrwürdig alt und 's Alter soll man ehren, g'rad so wie beim Menschen! Denkt nur, Bäurin, was der Baum in die fast zweitausend Jahren, die er da steht, alles g'sehen hat! Der ist schon dagestanden, wie im Stubai noch lauter wilde Leut' waren, deren Geister, weil sie nicht getauft waren, in den Bergen und Wäldern umgeh'n und Wetter ansagen und hüten helfen. Wißt schon, die "wilden Männer und Weiber" und die "Wichtelen".

"Ja, der Nähne hat oft verzählt, daß er a Wichtele im Haus g'habt hat."

"Also damals waren im Stubai lauter Heiden, und es war' leicht heut' noch so, wenn niemand kommen war', der den Waldleuten den rechten Glauben verkündet hätte. Und seht, Bäurin, da war der Baum auch dabei, und d'rum ist es nicht bloß ein ehrwürdiger, sondern auch ein heiliger Baum! - Da ist nämlich im Land Tirol ein heiligmäßiger Bischof, der schon viele Heiden bekehrt hatte, herumgezogen, um's Christentum zu verkünden, und hat sich denkt: Jetzt geh' ich halt einmal in's Stubai! Die schrecklichen Felsen bei der Sill haben ihm freilich nicht recht gefallen und die bekehrten Christen vom Inntal haben ihm gesagt, er soll lieber heraußen bleiben, denn wenn er nicht über einen Felsen in die Sill sich zu Tod falle - Wege hat's ja damals keine gegeben - nachdem erschlagen ihn die wilden Löter im Tal gewiß. Aber der fromme Mann hat sich nicht abschrecken lassen und hat sich denkt: Die armen Seelen darf ich nicht dem Teufel überlassen, und wenn ich halt stirb, dann stirb ich einen gottseligen Märtyrertod für meinen Glauben. Also stieg er in die Felsen der Sill ein, alle Augenblick meinte er, "jetzt und denn" sei er im Bach drunten, dann fand er wieder im Urwald nicht aus; ein Unwetter, ein fürchterliches, ist auch noch losgebrochen - kurz. er hat geglaubt alle Augenblick, jetzt war' das letzte End da, bis er auf einmal vor dem Baum gestanden ist und gesehen hat, daß er gerettet und auch am rechten Ort angekommen sei. Nun setzte er sich ganz erschöpft im kühlen Schatten nieder und rastete sich aus. Und es dauerte nicht lange, da kamen die wilden Heiden und wollten ihn töten. Da aber kam Gottes Kraft über den Mann, und er predigte den Wilden das Wort vom ewigen Heile, und immer mehr Heiden strömten herbei, und der Bischof taufte sie alle mit klarem Quellenwasser und machte sie der ewigen Gnaden teilhaftig."

"Wie hat denn der Bischof g'hoaßen?" fragte die Alte.

Der Doktor war freilich nicht sehr bewandert in der Legende, er nannte schnell einen Namen; ich glaube den des heiligen Kassian, und sagte noch:

"Und Ihr, Bäurin, wollt den heiligen Baum, unter dem die Heidenbekehrung im Stubai angefangen hat, umsägen lassen? Das wird Euch der heilige Kassian aber arg verübel haben!"

Bei diesen Worten war die Alte aber auch schon vor die Haustüre hinausgehumpelt und rief den Burschen zu:
"Rührt's den Bam nit an, der bleibt steh'n!"

Und so steht er heute noch und wurde Eigentum des Verschönerungsvereines, denn alle Besitzer dürften am Ende die erbauliche Bischofsgeschichte nicht glauben.

Goethe hätte sich nun Wohl nicht träumen lassen, daß ihm einmal eine bischöfliche Würde angedichtet werde; zu derlei eignete sich der große Heide, der göttliche Olympier, nun einmal gar nicht.


Es ist mehr als hundert Jahre nach der Goethedurchfahrt. Vor dem Baume steht ein alter Mann mit großen ruhigen Kinderaugen und schaut lange, lange auf den Baum. Er rührt sich nicht; die Hände, welche seinen Hut tragen, hat er über dem Griff des aufgestemmten Stockes gefaltet... es ist fast, als ob der Mann bete.

Und er betete auch. Hier sein Gebet:

Immer noch am alten Wege
Steht die hohe Zirbel da,
Eingefriedet vom Gehege,
Wie sein Auge einst sie sah.

Immer noch im grausen Schlünde
Tost der schäumend wilde Bach,
Und wie einst in jener Stunde
Ruft er noch sein Echo wach.

Immer noch und immer wieder,
Teuer jeden Alters Kind,
Tönen Goethes gold'ne Lieder,
Die, wie er, unsterblich sind.

Der alte Mann, der dieses Lied betete, ist der deutsche Dichter Martin Greif. Er betete es in tiefem Glauben. Er glaubte an den Baum, er glaubt an Goethe, er glaubt Goethes Glauben, und wir Jungen wollen es auch so halten.

Quelle: Anton Renk, Kraut und Ruebn. Kleine Geschichten aus Tirol. Linz 1904, S. 3 - 12.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, September 2005.
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