Der Zöllner.

Und Großmutter hat sie Euch gewiß in der alten Stube vorgelesen beim leisen Uhrgetick, Stricknadelgeklapper und dem behaglichen Katzengeschnurr, das von dem auf dem Schloß der alten Frau sich breitmachenden Kater „Schwarzele" ausging. Mir wenigstens hat es die alte Frau aus einem noch älteren Buche vorgelesen, dies und noch vieles andere aus der heiligen Schrift — denn diese war der schwere schweinslederne Foliant, dessen große Buchstaben selbst den Augen der alten halbblinden Frau keine Schwierigkeit mehr machten.

Und was mir meine Großmutter vorgelesen hat, wird Euch die Euere wohl auch vorgelesen haben, darum brauche ich Euch eigentlich die Geschichte gar nicht vorzulesen, die da heißt: „Unser Herr und der Zöllner."

Aber ich weiß noch eine andere Geschichte, die denselben Titel hat und auch im heiligen Lande spielt. In diesem Lande aber sind keine Palmen und Zedern, sondern Fichten und Zirbeln, kein Jordan wälzt schwer seine Fluten durch ebene Wüsten, sondern zornig singt der wilde Inn sein Lied vom toten Meere, von den erstarrten Gletscherwogen mit ihrem Märchenblau und Diamantenglanz, denen seine Wellen entstammen. Das heilige Land ist das heilige Land Tirol. Was? Tirol sollte kein heiliges Land sein? Altar an Altar ragt in die Höhe und morgendlich und abendlich zündet ein unsichtbarer Küster auf marmornen Felsen und silbernen Eisleuchtern rote Kerzenflammen an zu einer feierlichen Andacht, die in einem gewaltigen Tedeum laudamus in den steigenden Tag, in die sinkende Nacht verklingt.

Dort drüben der „Wilde Kaiser", wenn er im Abendscheine flammt, was ist er anderes, als ein steingewordenes Lied, das die Worte klingt: „Großer Gott, wir loben Dich . . ."

Drunten im Tale klingt der Inn die alte Schöpfungsmelodie in seinen Wogen mit.

Also eine Geschichte aus diesem heiligen Lande will ich erzählen, die Geschichte von unserm lieben Herrgott und dem Zöllner.

Das ist jetzt freilich schon lange her, daß die Tiroler Buben, die Hände in den Bauchbinden, die Dianln mit dem Schnaderhüpfel verhöhnten, welches

da lautet:

"Die Buabn und d' Dianln
Sein mit'nander in Gstrit;
Die Dianln wölln boarisch sein.
Die Buabn aber nit."

Das stammt aus jener unheilvollen Zeit, als der Tiroler in unseligem Kampfe auf seine deutschen Stammesbrüder schoß, und jener doch so schönen Zeit, in welcher jeder in den Klüften Tirols widerhallende Flintenknall nur als Signalschuß für die große, befreiende Völkerschlacht von Leipzig klang. Auch schon damals hatte es manchem Dianln das bunte militärische Gewand angetan und der - Spielhahnstoß am Jägerhütel galt weniger als der Tressenhut, Aber auch die leichtfertigen Dianln sanken an Wert und Ansehen, wie obiges Trutzlied, das oft genug zu hören war, bezeugt.

Seit jenem, unglückseligen Bruderkampfe ist manch' Jahr und Tag vergangen, die schwere, blutige Zeit ist vergessen, von den Bayern und den Tirolern, und beide hoffen zuversichtlich, nie mehr in den Felsenpässen die Stutzenrohre gegen einander richten zu müssen.

Aber zwischen Grenzlern gibt es immer kleine Spöttereien und Reibereien; als eine solche erhielt sich das alte Liedel, als eine solche der in Tirol gebräuchliche Ausdruck „Boarsäu", welcher aus der häufigen Umfangstüchtigkeit unserer Nachbarn das unhöfliche Bild abzuleiten sich berechtigt fühlt.

Ja richtig, ich soll erzählen.

***

Es ging gegen Abend . . . diese Zeit weiß ich, aber weder das Jahr, ja nicht einmal das Jahrhundert weiß ich, in dem sich die Geschichte zugetragen hat.

Das ist mir ein netter Erzähler, sagt Ihr; aber Großmutter wußte die Zeit auch nicht, und die war viel, viel älter als ich und hat fast hundert Jahre gelebt. Nachdem man von mir nicht verlangen kann, das zu wissen, was nicht einmal die Großmutter wußte, noch weniger aber verlangen kann, daß ich vor der Großmutter auf die Welt komme, müßt Ihr es halt eben mit der Zeit nicht so genau nehmen. Einige Bestimmungen kann ich Euch aber doch geben.

Erstens war es zur Zeit, als schon Zöllner existierten, und zwar österreichische, zweitens zur Zeit, als:

"Noch verkannt und sehr gering,
Unser Herr auf Erden ging..."

Dafür weiß ich aber den Ort sehr genau, es war am Zollhause zwischen Kufstein und Kiefersfelden.

Jetzt muß ich aber wirklich erzählen, sonst werdet ihr ungeduldig.

Also es war Abend. Der „Kaiser" begann zu lohen, während die Abendglocken der beiden Grenzorte ihre zollfreien Töne ineinanderschwimmen ließen. Da kam auf der Kufsteiner Straße ein Mann daher, mit einer Lodenjoppe bekleidet, und der trug einen Stab in der Hand. Unter dem Filzhute hervor quoll eine Fülle lockiger, blonder Haare und sein blaues Auge sah offen und groß in die Abendröte.

Dem alten Zöllner, der auf der Bank vor dem Mauthause beim schwarzgelben Grenzpfahle saß und seines Amtes waltete, kam es vor, als wäre heute das Abendleuchten viel stärker als gewöhnlich.

Die Augen des alten Mannes merkten nicht, daß mit dem Hirten selbst ein seltsames Leuchten schritt.

„Guten Abend", sagte der alte Zöllner.

„Friede sei mit Dir", erwiderte der Hirt.

„Wo denn hin heut' noch?" „Ins Bayrische muß ich ... ich habe ein Schaf verloren."

„Geh' nit hinaus! Du findest es doch nicht! Es wird schon bald dunkel. Wer bist Du denn?"

„Ich bin der gute Hirt", sprach der Fremde und ein Goldleuchten zitterte in die Tannen, die zu Seiten des Weges standen.

„O mei' lieber Herr! Geh' nit in's Bayrische, da findest Du Dein Schaf nit! Da außen, lieber Herrgott, da sein lauter — Säu."

***

Da erwachte der alte Zöllner Mathias, denn sein bayrischer Kamerad hatte ihn aus dem Schlafe wachgerüttelt:

„Du hältst heut' rechte Zollwacht! . . ." „Ja, ich bin alt ... Mir fallen so bald die Augen zu ... wer weiß, was für ein verlorenes Schäflein der gute Hirt heut' da am Mauthause gesucht hat ... Vielleicht hat er's gefunden und steht er damit bald am himmlischen Mauthause „Ja, was red'st denn Du heut' für ein Zeug daher?" meint der Bayer.

„Ich weiß, was ich weiß", erwiderte der Alte. Die Flammen des Kaisers aber verloschen langsam in die Nacht.

Weiteres weiß ich nichts mehr, als daß der alte Zöllner wohl längst schon das himmlische Mauthaus passiert hat, denn meine Großmutter hat fast hundert Jahre gesehen und weiß auch nicht mehr, wann die Sache sich zugetragen hat.

Quelle: Anton Renk, Kraut und Ruebn. Kleine Geschichten aus Tirol. Linz 1904, S. 87 - 93
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, September 2005.
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