Vorwort

Die genaue und allseitige Erforschung des geistigen Lebens, des Glaubens und der Sitte des Volkes Ist eine jener Aufgaben, deren Lösung die heutige Wissenschaft sich zum Ziele gesezt und zum grossen Theile bereits erreicht hat. Nachdem unser theures Heimatland Tirol in seinem deutschen Theile in dieser Hinsicht schon von Beda Weber, I. V. Zingerle, J. v. Alpenburg, M. Meier, P. Moser, L. v. Hörmann u.a. durchforscht und das Ergebniss dieser Forschungen bereits Gemeingut der gebildeten Welt und der Wissenschaft geworden ist, durfte es für eine lockende und lohnende Aufgabe gelten, auch Wälschtirol anzuschliessen. Ein fast zwölfjähriger Aufenthalt daselbst hat es dem Herausgeber dieser Beiträge möglich gemacht, den diesbezüglichen Wünschen wenigstens zum Theile zu entsprechen.

Mit einem solchen Unternehmen erfolgt kein Uebertritt auf ein ganz fremdes nationales Gebiet, wol aber, um bildlich zu sprechen, ein Schritt auf eine Brücke, welche von Deutschland hinabführt nach Italien, dem alten Lande der Poesie und Kunst, dem viel umkämpften Garten Europa's. Die nationalen und ethnographischen Verhältnisse Wälschtirols sind in neuester Zeit Gegenstand so vielfacher Erörterungen in öffentlichen Blättern und Zeitschriften geworden, dass es wol nicht mehr nöthig ist, auch hier wieder auf dieselben zurückzukommen. Zudem geben ja die Märchen, Sagen und Gebräuche schon in und an sich selbst jedem Sachverständigen einen Massstab an die Hand, dessen Bedeutung für solche Fragen nicht verkannt werden kann.

Die vorliegende Sammlung besteht überwiegend aus Märchen und Volksgeschichten. Es ist dabei das Bestreben des Herausgebers gewesen, der Erzählung eine gedrungene, jede Weitschweifigkeit und unnöthige Ausschmückung vermeidende Form zu geben, ohne jedoch irgend einen wesentlichen Charakterzug zu überspringen. Der Märchenreichtum Wälschtirols ist sehr gross. Wie die Deutschen ihre Spinnstube, so haben die Wälschtiroler ihr „filò“,  welches in der Regel ein reinlich gehaltener mit Bänken besezter Vorraum im Stalle des Hauses ist. Die Pflege der Märchenpoesie liegt zwar nicht aus-schliesslich, aber doch ganz vorzugsweise dem weiblichen Geschlechte ob. Da soll es mitunter Weiber geben, denen man die Möglichkeit zuschreibt, einen Monat lang Abend für Abend immer neue Märchen und Geschichten erzählen zu können — also ein thatsächlicher Triacontamerone! Von einem Papageimärchen hörte der Herausgeber, dass es im Munde des Erzählers ausschliesslich die sieben Abende einer Woche ausfülle! Dazu ist noch zu bemerken, dass die Erzählungsweise eben so wenig eine knappe, als eine weitschweifige ist. Allerdings aber kommt es häufig vor, dass manche Märchen, welche denselben Kern in sich schliessen, mit so abweichender Einkleidung und Ausschmückung erzählt werden, dass sie auch für verschieden und für selbständig gelten dürfen. Mehrere solcher Variationen wird der Leser auch in der hier gebotenen Sammlung finden.
Bezüglich der Sagen und Volksgebrauche bleibt gewiss noch sehr viel zu sammeln und zu ergänzen übrig. Indessen, glaubt der Herausgeber wenigstens die wichtigsten und wahrhaft typischen Sagen, deren Erforschung und sichere Feststellung keine kleine Mühe verursachte, mitgetheilt zu haben. Das überwuchernde Märchen hat, wie es scheint, mit Ausnahme jener Thäler und Ortschaften, in welchen vor kürzerer oder längerer Zeit nachweislich deutsch gesprochen wurde oder noch gesprochen wird, die einfachen Sagenstoffe in sich aufgesogen und in unverkennbarer, aber auch leicht erklärlicher Weise verquickt und abgeschwächt, wobei das Criterium der ursprünglichen Heimat spurlos verloren gegangen ist. Das 13. Märchen dieser Sammlung ist ein deutlicher Beweis davon.

Von Reimsprüchen u. dgl. hätte sich leicht noch mehreres mittheilen lassen; doch schien dies dem Herausgeber in's Gebiet der Volkspoesie und der Volkslieder zu gehören, an welchen Wälschtirol ebenfalls sehr reich ist. Die Veröffentlichung einer gleichfalls seit längerer Zeit angelegten Sammlung solcher Volkslieder werden günstige Umstände vielleicht auch noch ermöglichen.

Allen denen, die den Herausgeber beim Sammeln dieser Märchen und Sagen freundlichst unterstüzt haben, sei hiemit der beste Dank ausgesprochen. Er darf sich wol nicht der Befürchtung hingeben, durch diese Veröffentlichung in Wälschtirol selbst Anstoss zu erregen. Der lebendige Sinn für die Poesie, die fromme Pietät gegen Geschichte und Vergangenheit, wie sie beide im Märchen und in der Sage ihren Ausdruck finden, ehrt jedes Volk und an dieser Ehre verdient gewiss auch das wackere und tüchtige Volk in Wälschtirol seinen Antheil.

So mögen denn diese Beiträge freundliche Aufnahme finden! Vielleicht wird damit der Wissenschaft bescheidenst ein kleiner Dienst erwiesen: nicht minder aber will der Sammler den schönsten Lohn für die langjährige Mühe darin finden, dass er vielleicht so glücklich ist, den zahlreichen Freunden des schönen Landes und seines wackern kernhaften Volkes damit einige Freude und Befriedigung zu bereiten. Ihnen allen in der liebwerthen deutschen Heimat einen freundlichen Gruss! —

Roveredo am Pfingsttage 1867.
Der Herausgeber.

Quelle: Chrsitian Schneller, Märchen und Sagen aus Wälschtirol, Innsbruck 1867, S. V-VII.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Helene Wallner, 2007.
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