Altausseer See

Diejenigen Häuser von Altaussee, welche unmittelbar an dem rundlichen Gewässer liegen, werden mit dem Namen Fischerndorf bezeichnet. Der See füllt mit seiner grünen Flut den Abgrund aus, der sich zwischen ihnen und der steilen Trisselwand in den Kalkboden hineinsenkt. Schon wenn man von der Pötschen herabkommend den Hügel erreicht, dessen Name das Andenken des unglücklichen Lenau auch in diesem abgelegenen Tal hüten soll, drängt uns die voreilige Phantasie den Wunsch auf, es möge sich dort an dem Fuß der kühn abfallenden Wand ein stiller Alpensee hinziehen. Die Natur ist seit vielen Jahrtausenden einem solchen Wunsche zuvorgekommen.

Betrachten wir uns den See, indem wir an seinem Nordrande hingehen. Eine kleine Strecke weit stellen noch abschüssige Wiesen das Ufer dar; dann klemmt sich ein schmaler Fichtenwald zwischen den Fels und den Wasserabgrund ein, dann berührt dieser mit seinen schwarzgrünen Wellen die Wand selbst, welche mehr als dreihundert Klafter über ihn hinaufragt.

Im Walde, dessen Unterholz von Schnee befreit ist, erfreut uns das Klingeln von Glöckchen am Halse weidender Ziegen. Sonnenbeglänzter Nebel verhüllt uns die Berge und läßt den gefrorenen schillernden See als ein arktisches Märchen erscheinen. An einzelnen Stellen scheint das Gestirn, Meister des Nebeldunstes geworden, tief aus dem klaren Eis herauf. Von diesem heben sich am erhellten Strande Dampfwölkchen nach der Frühlingssonne. Wir erraten ihr Dasein an den Kreisen von siebenfarbigem Glanz, die mit uns vor dem leichten Westwind langsam das Gestade hinabwallen. Derselbe Glanz begegnet uns von den Zweigen der Bäume herab. An diesen sind die Regentropfen der Nacht zu Eiskügelchen geworden.

Dort wo ein vom Schneewasser geschwellter Bergbach, dessen Wellen eine graue Hütte, einen Fischbehälter, durchrauschen, in den See stürzt, hat sich das Eis weithin in den wärmeren Fluten gelöst. Weit draußen erst schwimmt die silberstrahlende Fläche des Eises, wie ein fernes Land jenseits des Meeres, von Wundern und Geistern bewohnt. Über ihm hat sich der Nebel zu langgestreckten Wolken verdichtet, schimmernde Phantome, welche über dem seligen Lande schweben und es hüten wollen. Dazwischen aber wallt die endlich erlöste tiefgrüne Flut hin, von manchem verstreuten Sonnenstrahl belebt. Aus ihr schnellen große Fische auf, die aus dem noch vom Eis verdunkelten See gekommen sind, um sich hier am Lichte zu erfreuen. Endlich sind die Dünste zerronnen, der Dachstein ragt als Kristall in die unermeßliche Bläue. Er scheint jetzt eine Höhe aus dem Zauberlande zu sein, welches wir vorhin in träumerischem Glänze auf den Wassern schwebend glaubten.

Und in noch weiteren Fernen der Bläue steht der tote Mond, die schönste aller Leichen.

Stellen wir uns denselben Schauplatz in anderer Beleuchtung vor. Ein feuchter Südwind senkt sich vom trüben Himmel in diese Schluchten. Das Eis ist glanzlos und schwarzgrau geworden, weil die dunkle Flut schon durch die dünnere Decke heraufzuschauen vermag. Ein schwarzer Streifen zieht sich in unendlichen Krümmungen, einer Schlange ähnlich, über dieselbe hin. Er bezeichnet die Spaltung der Decke, welche der Bewegung der Lust und den von ihr unter dem Eise beunruhigten Gewässern geglückt ist. Bald erscheint der Streifen als breiter Fluß. In wenigen Augenblicken zieht sich ein ebenso gestalteter Fluß am Ufer hin. Die Wellenbewegung erreicht die Oberfläche; der See ist aufgegangen. Die Dünste, welche aus einsamen Becken der Bergseen sich erheben und an den Felswänden hinziehend im Verein mit anderen Wolkenballen, welche ihnen begegnen, unvermerkt Gewitter veranlassen, haben sich in den Köpfen der Menschen zu seltsamen Meinungen verdichtet. Sie glauben, es seien unholde Geister, welche aus den 'Wetterseen' heraus denjenigen mit rachsüchtiger Wut nachjagen, welche einen Stein in die Tiefe geworfen haben. Es ist nicht schwer, sich eine Vorstellung von dem Aussehen der Flut und ihrer Felswände zu machen, worin die Gewalten argwöhnisch brüten, welche dem Menschen, der sie in ihrer Abgeschiedenheit schon durch seine Gegenwart neckt, abhold sind. Das schwarze Wasser, welches sich heute befreit hat, läßt uns den Aussee für einen solchen tückischen Wasserabgrund anschauen.

Wir nehmen die Ruder zur Hand und fahren hinaus bis dahin, wo eine schwimmende Eisevelade noch hartnäckig die Mitte des Sees behauptet. Die umgebenden Bäume und Felsblöcke erscheinen aus dem See heraus in einer Färbung und Bestimmtheit, welche sie durchaus mit keinem anderen Bilde vergleichen lassen als mit den Widerspiegelungen in den schwarzen Gläsern der Landschaftsmaler. Das Wasser, welches aus dem Lärchendickicht gegen den 'kalten Brunnen' am Fischbehälter herabstürzt, tritt oben im Gewand zum ersten Mal unter Umgebungen an den Tag, welche in diesen Kalkgebirgen nicht ungewöhnlich sind. Schaut man in einiger Entfernung südlich von Altaussee nach dem Gipfel der Loser, so erblickt man zwischen diesem und dem Adlerkogel eine mächtige Wassersäule, welche jäh aus einer Höhlung herausbricht, in ununterbrochenem Sturz an der Wand hinabfällt und in einer anderen Höhlung spurlos verschwindet, bis wir sie hier als Bach wieder um die Blöcke schäumen sehen. Merkwürdig ist das Leben der Wasseradern an den umgebenden Wänden der Seewiese. Wenn gegen Ende des Aprilmonates das Eis im kleinen Augstsee, welcher dort oben in einer Mulde des grauen Gipfels liegt, zerrinnt und wenn der Schnee von den Bräuning-Alpen wegtaut, dann rauscht durch die unbekannten Klüftungen des Berginnern ein Fluß. Wir sehen hoch an der Kogelstellerwand die dunklen Mündungen dreier Röhren. Aus diesen bricht der kurzlebige Strom, den Sonne und Südwind erzeugt haben, zutage. Der Donner der Lawinen, welche jetzt ununterbrochen in den tiefen Falten der Trisselwand hinabrollen, verhält sich zum Geräusch der Kaskaden wie ein sanftes Summen. Die Seewiese erscheint in jenen Tagen als ein Teil des Sees selbst, und nur die höchsten Blöcke ragen daraus hervor, lärchenbewachsene Felsinseln, zwischen welchen hindurch der Kahn bis zu der Felswand mit den Wasserstürzen vorzudringen vermag.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 110 - 113.