Kärnten vom Standpunkt des Dichters

Längst war es Nacht; aber wir hatten uns keine Leuchte in die Stube bringen lassen. Die glühenden Augen der gegenüberliegenden Gußwerke und Schmelzöfen warfen so viel rötlichen Schein in das Gemach, daß wir die Lampe entbehren wollten.

Das Gespräch, welches wir führten, schien der Seltsamkeit des Ortes und der Beleuchtung angemessen. Mein Freund führte mich in die Zauberwelt Kärntens ein. Seine Belehrung bezog sich auf den Abglanz, den die Täler, die Wälder, die Eisberge, die alten Schlösser und Städte des Landes in der menschlichen Einbildungskraft hervorgebracht haben. Innerhalb der Grenzen Österreichs gibt es kein Land, in welchem das Gold des Dichtungsstoffes in so wunderbarer Umgebung gleich reichhaltig zutage liegt als in dem kleinen Herzogtum zwischen dem eisigen Tauern und den blauen Zuflüssen der Save.

In Tirols rebenumgrünten Burgen scholl einst Minnesang. Es hat den größten Sangesmeister geboren, und in den Gärten des warmen Etschlandes vereinte sich deutsches Lied mit welschem Prunk.

Der Dichtung, welche ich 'Kärnten' nenne, liegt ein rauherer, männlicherer, nordischer Ton zugrunde. Sie ist tannenfrisch und quellenreich. Es fehlt ihr, von den Wänden der Karawanken abgehalten, jener mittägliche Hauch, der dort ohne Hemmnis die ebene Bahn des Etschtales aufwärts dringt.

Der Dichter wüßte nicht, wo er zugreifen soll, wenn man ihn vor die Vielgestaltigkeit der Stoffe führte, welche hier Vergangenheit und Gegenwart bieten.

"Vom Zirmsee und seinen alten Goldzechen, die so hoch über dem Meere liegen wie das Stilfser Joch, bis zu den waldigen Ufern der großen Seen, welch eine Buntheit des Lebens!" sagte der Freund. "Ja", erwiderte ich, "daß aus der Fleiß, aus Fragant und der Zirknitz noch ganz andere Studien geholt werden können als die notdürftigen Gemeinplätze, mit denen unsere Stubenpoeten die Vorratskammern der Leihbibliotheken zeitweilig heimsuchen, ist gewiß. Zu ihrer Entschuldigung kann indessen gesagt werden, daß sich das vaterländische Publikum um den gewissenhaften Realismus des Dichters nicht kümmert und überhaupt lieber Romane liest, in denen hohe Herrschaften auftreten und Hofbälle beschrieben werden."

"Begeben wir uns", fuhr mein Freund fort, "hinab in die waldigen Täler, auf das Mittelgebirge über den Flüssen und an den Strand der Seen, wo die Wellen gegen das Mauerwerk alter Abteien und lustiger Landsitze schlagen. Wohin man blickt, krönen Türme und Zinnen die waldigen Kuppen. Freilich gibt es überall Burgen, auch in den tirolischen Tälern fehlt es nicht an malerischen Trümmern. Aber von den alten Schlössern Kärntens strahlt der Glanz einer reichen, anziehenden und inhaltvollen Geschichte. Mit sehr geringen Ausnahmen hat das Nachbarland Tirol keine Geschlechter gehabt, die so wirksam mit den Schicksalen Österreichs verflochten sind als die Auf-fensteine und Kraiger, die Ortenburger und Colnitzer, die Salamancas und Scherfenberger, die Heimburger und Khevenhüller, die Herren v. Treffen und Dietrichstein. Was alle diese Namen in den Staatsaktionen und in der langen Schlachtengeschichte Österreichs bedeuten, das zeigt jedes Schulbuch. Was es aber leider nicht zeigt, das ist die Sagenwelt, die sich um das Tun und Treiben dieser Geschlechter rankt, gleich den wilden Rosensträuchern um altes Mauerwerk."

"Du meinst also", entgegnete ich, "es müsse ein leichtes sein, das grüne Bergland ebenso durch den anmutigen Spuk jener Gestalten des Mittelalters zu beleben, wie es sogar mit den langweiligen Ebenen der brandenburgischen Mark geschehen ist!"

"Gewiß", entgegnete mein Freund, "viele behaupten zwar, die Zeit für Erzählungen und umfassende Lebensbilder, welche bis in jene uns bereits so entfernte Welt zurückgreifen, sei vorüber; aber es muß doch viele Leute geben, welche an der Vorführung von ursprünglicheren Menschen und farbenreicheren Ereignissen mehr Freude haben als an der poetischen Darstellung unserer Zustände, in welchen es leider nicht nur eine körperliche, sondern auch eine abgeschmackte Gesellschaftstoilette gibt, die man mit Recht Uniform nennen sollte. Es muß doch ein Rückschlag eintreten gegen das Handwerk der Dichterei, wie es heutzutage betrieben wird. Denn im menschlichen Gemüt gibt es Triebfedern und Neigungen, welche zeitweilig durch bestimmte Einflüsse niedergehalten werden, alsdann aber mit verstärkter Gewalt ihr Recht fordern. Es wird nicht gelingen, die Leute so phantasielos zu machen und sie auch in der Belletristik mit dem Kultus der Gewalt und des Geldes abzuspeisen, wie es die Federhelden des 'Tages' sich einbilden. Man wird auch einmal an den Wochenschriften genug bekommen. Die Hegemonie der Norddeutschen, in politischer Beziehung so segensreich, erscheint mir in den Fragen der Ästhetik als ein Unheil. Ihr Positivismus erzeugt tapfere Soldaten, eine vortreffliche Verwaltung, kurzum, eine Masse von löblichen Dingen, welche nach dem Gesetze der psychologischen Beschränkung gerade aber mit denjenigen Eigenschaften unvereinbar sind, welche ein erfolgreiches Schaffen in den schönen Künsten bedingen. Man hat gesagt, das norddeutsche Wesen, als dessen vorzüglicher Ausdruck der Staat Friedrichs des Großen dasteht, vertrete im Germanentum das klassische, Österreich aber und die übrige süddeutsche Vielgestaltigkeit das romantische Wesen. Nun wohl - ich sage, das Romantische wird wieder zu Ehren kommen."

"Es sollte nur einmal mit vollen Händen aus dem Reichtum geschöpft werden, welcher in Höhen und Tiefen dieses Landes ausgebreitet liegt. Der heilige Thomas von Aquino ist mit seiner Geschichte verflochten, wie Paracel-sus mit der des wundersamen St. Veit. Wo gibt es Burgen wie Frauenstein oder gar Hoch-Osterwitz? Der alte Herzogstuhl auf dem Zollfelde, die begrabene Stadt Virunum und die Veste Tiburnia, das blutgetränkte Lurnfeld mit den Zauberbäumen und den Blutmulden, wo an den Ufern der eisigen Moll Bajuwaren die Geschicke des Slawenvolkes in diesen Bergen besiegelten, die verwunschenen Seen auf den Kolbnitzer Hochalpen, Arnoldstein, das uralte Kloster mit seiner Weißen-Rose-Sage und dem zusammenstürzenden Dobratsch, die Märchen von Rabenstein und den Schätzen der Freimannsgrube, die Gründung von Maria-Elend, kurzum, durch die Zeiten der Römer des Mittelalters bis zu uns herab. Die wir noch das Treiben der Knappen am Rande der Gletscher, das der Eisengewerke in walddunkeln Hochtälern sehen, hat dieses Land kaum jemals der Verklärung durch die Poesie bedurft."

"Du vergißt ganz und gar auf die Seen", fügte ich hinzu. "Welchen Vorzug geben diese blauen Flächen dem Lande vor dem benachbarten Westen! Des freut sich der Bergsteiger der Villacher Alpe aus der Vogelperspektive wie der Schwimmer mitten im lauen Gewässer."

"Vergiß nicht das Wasser, welches stürzt! Wo gibt es außerhalb der Einöden Norwegens Wasserfälle, in Nebel aufrauchend, in Schaumbergen zur Tiefe quirlend, in himmelblauen Becken sich sammelnd, in solcher Anzahl als im kärntnerischen Maltatal und in seinen Verästelungen, die bis zum ruhigen Eise der Tauern hinaufreichen? Das Volk könnte dort unsere Dichter lehren, wie man den Geist der Dinge verdolmetschen muß. Mögen diese unserem Stifter gleich, welcher aus den bescheidenen Reizen des Böhmerwaldes unsterbliche Bilder zusammenstellte, auch einmal die Pracht Kärntens mit ihrem Skizzenbüchlein durchwandern!"

"Amen!" sagte ich. "Jetzt aber laß die Lampe hereintragen. Wir wollen uns noch ein Stündchen im 'Hochwald' ergehen. Ich gebe sämtliche Familienromane dafür her."

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 170 - 174.