Lüner See

Zwischen dem Bodensee und dem Arlberg dehnt sich ein Bergland hin, welches in allen Schönheiten, die man von den Hochalpen erwartet, mit den berühmteren Nachbarländern sich vergleichen darf. Bludenz ist der Standort für denjenigen, der nach den Richtungen der Windrose in die vielfachen Korridore eindringen will, die nach den Schaustücken führen. Von dort kann man binnen wenigen Stunden zum Rande der Gletscher oder in waldduftige, von Wasserstürzen durchfeuchtete Talgründe, auf Spitzen von endloser Fernsicht und auf heimliche Hirtenböden gelangen. Vom stillen Hafen des 'Kreuz' aus werden solche Fahrten noch behaglicher, wenn man der erquickenden Gastlichkeit gedenkt, die den Rückkehrenden erwartet. Wohin soll man zunächst seine Schritte richten? denkt der Fremdling, der von jenem Hause aus in das weite grüne Tal schaut und dem die Falten nicht entgehen, welche seine Hänge unterbrechen, Einklüftungen anzeigend, die sich gegen die innersten Herrlichkeiten hinaufziehen. Und hat er sich für das Brandner-, das Klostertal oder Montafon entschieden, dann beginnt die Verlegenheit des Reichtums erst, denn in diesem zweigen sich die Hochtäler ab. Er kann durch das Brandnertal zum tiefblauen Lüner See, dem Spiegel der Eisfelder auf der Scesaplana, durchs Gauertal zum Drusentor oder zum Essigwirt nach Pattenen und auf die herrliche Fermunt-Alp, oder von Schruns ins Silbertal, oder zum hohen Piz Buin, zu den Eiswüsten der Übergänge ins Engadin - kurzum, nach Örtlichkeiten pilgern, deren namentliche Anführung allein einen Band füllte.

Für den ganz Bequemen gibt es die Eisenbahn. Sie bringt ihn nach dem gartenreichen Feldkirch, wo Rebengelände sich um braune Stadtmauern ziehen, Rosen und Efeu vor einsamen Erkern wuchern und Springbrunnen dort plätschern, wo einst die Öde mittelalterlicher Gräben klaffte. Sie bringt ihn hinüber durch die Buchenwälder von Nendeln zur breiten Riedau des Rheins - dann erblickt der Reisende von seinem Waggon aus die vielen Burgen der alten Vögte zwischen Buchs und Sargans, deren Trümmer jetzt auf die Eisenbahn und den freien Verkehr der Völker herabschauen. Von dort bringt ihn der Dampfwagen in kurzer Frist nach Ragaz und zu den Schauern der Taminaschlucht, der schönsten 'Klamm' in den europäischen Hochgebirgen; oder er fährt in einem Wagen nach Schruns, nach Latz und Nütziders, nach Blumenegg und Nenzing, ja von dem letztgenannten Orte aus kann er sogar rasch in den Himmel kommen, freilich nur in den 'Nenzinger Himmel', wie das Gamperdonatal wegen seiner herrlichen Triften vom Volke genannt wird.

Das prächtigste Hochalpenbild gewährt der Lüner See. Jetzt ist ein bequemes Unterkunftshaus an sein Gestade gebaut, und ein Kahn trägt den Wanderer über die Flut, die weit mehr als tausend Fuß über das Meer erhaben ist als der Gipfel des Feldbergs im Schwarzwald.

Dies ist ein gefeiter Ort alpenländischer Sage. Allerlei Geister bewohnen seine unergründliche Tiefe. Auch im benachbarten Schwarzen See des Saminatales hausen Gestalten längst vergangener Tage. Gern steigen sie um Mitternacht aus den dumpf rauschenden Gewässern.

Nicht minder hat der Zauber des hochgelegenen Waldunasees die Einbildungskraft der Menschen angeregt, daß sie unsterbliche Weiber mit grün-blonden Haaren und hellen Augen in seine Abgründe versetzte.

Nicht zu vergessen ist, daß uns der Mensch in Vorarlberg, wenngleich nicht so sehr in Liedern und Romanen, bei deren Schöpfung leider meist Unwissenheit und schöngeistige Überspanntheit sich beteiligten, gefeiert, als das östliche Nachbarvolk, ebenso mächtig anzieht wie die Natur des Landes. Es ist ein kräftiges und kluges Geschlecht. Die sauberen Häuser, die Bestellung der Felder, die Reinlichkeit der Kleidung bekunden es. Den Fremdling mutet die Wirklichkeit selbst der entlegeneren Täler an, und es denkt wohl so mancher Sommerwanderer mit Freuden an den Löwen in Schruns oder auch an das bescheidene Rößl in Gaschurn.

Wohl hat man in neuerer Zeit den Bregenzer Wald in die Mode gebracht, und auch ich habe an mehr als einer Stelle auf seine merkwürdigen Täler hingewiesen, in welchen sich die Natur der waldreichen deutschen Mittelgebirge mit jener der Hochalpen zu einem erfrischenden Ganzen vereinigt. Aber den südlichen Tälern, die vom Kloster- und Illtal sich gegen Mittag bis zu den Engadiner Pässen hineinziehen, gebe ich weitaus den Vorrang. Dort ist die Poesie dieses Ländchens, von den eisblinkenden Höhen, auf denen einst die märchenhafte Jungfrau Silvretta, ihren Namen der Wildnis hinterlassend, von dem Alpenlande Abschied nahm, um dem Lande der Zypressen und der Rosen zuzueilen, bis zu den Obsthainen von Vandans und Schruns herab, von den umwetterten Höhen der Drusen- und Sulz-Fluh bis zu den grünen Auen der Ill um Straßenhaus oder Frastanz, vom Piz Buin bis zur Frauenkirche von Rankweil, die von steiler Höhe über Wälder von Fruchtbäumen und über die glänzend reinen Wohnstätten eines fleißigen Volkes schaut.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 332 - 334.