Mittlerer und Oberer Gosausee

Der kleine mittlere See ist ausgetrocknet. Sein Becken stellt jetzt eine Mulde dar, in welchem zahllose Felsentrümmer im Schlamm unter dem freien Himmel liegen. Über die Wipfel des Forstes hinweg schaut dagegen das tiefe Wasserbecken herauf, dessen Strand wir eben verlassen haben. Diesem vermag die Dürre viel weniger anzuhaben.

Der zweite, obere, See, den wir nun erreichen, verhält sich zum ersten wie der wilde Traum zum klaren Gedanken. Der weite Blick in die hohe Welt ist gehemmt. Wir sehen die Größe der Eisbucht, die sich zwischen die Giebel eindrängt, wir sehen den höchsten dieser selbst, den Dachstein, nicht mehr. Erhebungen und Senkungen vom winterlichen Berg bis zum See stellen hier ein ungeheueres Gewirr dar. Es mag sich ein Streit erheben über die Schönheit beider Seen. Dieser wird natürlich nach der Anlage des Betrachtenden entschieden sein, Byron die höhere Mulde, Goethe die tiefere als ein preiswürdigeres Werk der Kräfte erklären.

Die erstere zeigt so recht die Kennzeichen hochgelegener Bergseen. Ein runder wirklicher Kessel, dessen Ufer sich nach oben fortsetzen, bis das Eis auf ihnen lagert - ein Streifen, von diesem nahe herablangend, ein Bach, ihm entgegenstürzend, der nach kurzem Jagen den Spiegel erreicht, ein kaltes Wehen über nackte Felsränder, des Trichters Gestade. Auch hier läuft der Eisstreifen von der starren Wasserflut trügerisch in unendliche Tiefen fortgesetzt so auf dem Berge wie im Seespiegel, auch hier liegt dieser weit unter den Rändern seines Sommerstandes. Auch hier hallt es wider; aber es ist mehr ein vielstimmiges Klagen und Lispeln als der kräftige Schall von dort. Wenn wir von dem gewöhnlichen Uferrand bis dahin hinabsteigen, wo jetzt das grasgrüne Wasser anhebt, so empfinden wir Kälte, je weiter wir in den Kessel hineingeraten. Wir gehen über Schlamm und an Blöcken vorbei, die, sonst im Getriebe der Uferwellen liegend, von diesen durchbohrt und zernagt sind.

Der Nachmittag sinkt - der Gletscher rüstet sich, die Höhen rüsten sich zur wundersamsten Beleuchtung, während es um uns herum trauriger und dunkler wird. Wir schauen getröstet hinauf.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë , München 1867, S. 61 - 64.