Das schönste Panorama

Wer in der Nähe einen Punkt sucht, von dem er alle Eisspitzen Tirols mit einem Blick überschauen kann, der steige drüben am Eingang des Zillertales bei Fügen auf das Kellerjoch. Den Eindruck, welchen ihm da die unendliche Welt der Alpen machen wird, vergißt er nie.

Für diejenigen, welche den Achensee in seiner ganzen Ausdehnung sehen wollen, empfiehlt sich der Weg zu Schiff nach Norden. Denn wer auf der Straße drüben geht, verliert die Gesamtwirkung, welche Wasser und Gebirg im Verein miteinander hervorbringen. Da er hart an dem einen Felsgestade geht, sieht er nur das andere. Wer aber auf dem See schwimmt, hat den Anblick der beiden Mauern. Wir dagegen setzen, da wir am Ufer drüben mancherlei zu sehen haben, geraden Weges über.

Die schönste Stelle am See ist unstreitig die, wo die von Jenbach heraufkommende Straße sich mit einem Ruck nach Norden wendet. Von dort aus sieht man noch die Gebirge des Inntales; das Stanzerjoch, die Pertisau und ihren großartigen Hintergrund hat man zur Linken, und vor Einem wallt die blaue Flut gegen Süden heran. Die drei Veduten zusammen sind das wahre Bild des Sees. Nur von hier aus sollten Maler ihn aufnehmen, und dies ist, wie ich bemerkte, auch schon öfter geschehen.

Von einem hart am Ufer stehenden Hause, das auf den ersten Blick das ehemalige Jägerhaus verrät, zieht sich dieser Weg gegen das Nordende des Sees fort. Links der See, der sofort in die Tiefe von drei- bis vierhundert Fuß abfällt und die größten Abgründe noch mit unheimlicher Klarheit zeigt, rechts die Legföhren und die Alpenrosen der Felswand, die in dichten Büschen bis an die Straße herabreichen.

Man erinnere sich, daß wir uns mehr als dreitausenddreihundert Fuß über der Meeresfläche befinden. Oben auf diesen Wänden, die sich vom Spieljoch und der Kotalpe herabziehen, bemerkt man nicht selten Terrassen und Absätze, welche mit Festungsmauern und zinnentragenden Schutzwällen viel Ähnlichkeit haben. Auf einem dieser Felsenabsätze hockt in manchem März die gefürchtetste Lawine des Achentals, die sogenannte Haselbacherin. Es ist dort eine jähe Wand und unter ihr eine tief in den Felsen eingeschnittene Furche, welche im Sommer von herabgeschlämmtem Gries bedeckt ist.

Auf der Westseite des Sees fallen die Wände noch steiler und deshalb noch kahler und unfruchtbarer in den See. Viele Streifen, herabgeschossene Gießbäche und Steinrutschungen bezeichnend, sind in den Rücken des Seekor eingegraben, welcher den See von seinem Nordende bis zur Pertisau begrenzt. An manchen Stellen hat der Kalkschutt an seinem Fuße ganze Hügel gebildet; einem solchen Hügel entspricht immer eine besonders tiefe Furche, die sich von der Jochhöhe gegen sie herabzieht. Solche Furchen sind die Rinnsale für die Wasser der sommerlichen Gewitterstürme und die Rutschbahnen der Frühlingslawinen. An den gerade über dem Wasser auf den untersten Felsenplatten aufgehäuften Geröllhügeln sammeln sich diese dann, bis sie, aus turmähnlicher Höhe sich überstürzend, den Schaum der kalten Wasser aufpeitschen.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 291 - 293.