Schneewittchen am Hintersee

Im vergangenen Winter veranstaltete Rudolph Hinterhuber zu Mondsee, welcher die Blüten und die Berggipfel des Salzburger Landes so gut kennt wie irgendein jetzt Lebender, in dem kleinen Ort eine Darstellung des Märchens vom schönen Schneewittchen. Sie wurde von Kindern aufgeführt und gereichte allen denjenigen Zuschauern zum Vergnügen, in welchen die beste Eigenschaft kindlichen Wesens, die Fähigkeit des Anschauens und Genießens ohne bewußte Beziehung auf das Wissen und Wünschen des anschauenden Subjektes, noch nicht erstorben war. Es werden unter einer großen Anzahl Erwachsener deren stets wenige sein, welche in diesem Sinne Kinder genannt werden können. Die Bestrebungen, welche den Kampf des einzelnen mit der Notwendigkeit, sich Nahrung und Vermögen zu sammeln, begleiten, dörren und versengen das heitere Behagen am Zwecklosen und Ewigen. Die auserlesene Natur kennzeichnet sich der ungeheueren Mehrzahl von Individuen gegenüber durch ein kindisches Vermengen oder Gleichstellen von Erscheinungen, von welchen die einen, nach der allgemeinen Meinung, sehr wichtig, die anderen von lächerlicher Unbedeutendheit sind. Den Ellenstab, mit welchem die letztere mißt, kennen jene wenigen nicht; Schranken und Zweckbedürftigkeiten däuchen ihnen im Wachen so unwesentlich als jenen anderen im Traume. Das Mehl, welches aus dem Gescheitigkeitsräderwerk ihres klappernden Alltagsverstandes zum Vorschein kommt, unterscheidet sich für die anderen nicht von tauber Kleie.

Ich kenne einen armen Menschen, dessen Erziehung und Unterricht nach landläufigen Begriffen vernachlässigt worden sind. Aber er gehört zu jenen Sonntagskindern, für die an jedem Gesichtskreis ein Regenbogen funkelt, unter welchem sie eine goldene Schüssel finden. Ihre Augen besitzen die Kraft, nach welcher die Scheidekünstler des Mittelalters vergeblich forschten: das große Elixier oder die Kunst, das unzerstörbare Metall aus seiner Verkleidung in Staub und Fäulnis zu befreien. Ihr inneres Auge gleicht den Irrtum des äußeren aus, welches durch seinen Bau an die Wertschätzung der Perspektive und an den Glauben gewiesen ist, daß es große und kleine Dinge gebe. Sie wissen, daß sich in der unendlichen und ewigen Welt ein Planet oder eine Sonne an Größe nicht über eine Kristallnadel, einen Wassertropfen oder Strahl erhaben dünken können. Nun, eben dieser Mensch war gestern in der Gesellschaft einiger Bauern, welche von der großen Prüfung sprachen, die ihnen Gott durch die wohlfeilen Holzpreise auferlegt habe. Er schien ihnen zuzuhören, aber wenn man ihn genauer betrachtete, konnte man bemerken, daß er an andere, wahrscheinlich wichtigere, Dinge dachte. Endlich drängten sich die angewachsenen Gedanken auf die Zunge, und er schilderte mir, wie der Mond, während er vorhin ganz durchnäßt auf der Straße dahergegangen sei, sich in seinen feuchten, angeregneten Schuhen gespiegelt habe. Das verursachte dem Mann, der keinen Gulden in der Tasche hatte, eine wohlfeile Freude, deren die anderen kaum in solchem Maße teilhaftig geworden wären, wenn die Stadtbewohner ihnen plötzlich das Holz um das Doppelte des hergebrachten Preises bezahlten. Man sieht daraus, wieviel es auf sich hat, wenn humanisierende Moralisten die Weckung eines verständigen Egoismus' als einen der vorzüglichsten Hebel zur Hervorbringung menschlichen Glückes anpreisen. Jenem Armen lag ein bequemeres Mittel an der Hand: er unterhielt sich mit und freute sich an allem, was er draußen sah. Nur in möglichster Lostrennung von Gedanken und Bestrebungen, welche sich auf das gröbere Selbst beziehen, können die Augenblicke der Befriedigung gedacht werden, welche uns überhaupt die Welt gewährt.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 88 - 90.