Schwabenkinder

Ich wanderte auf winterlicher Straße in Richtung Landeck. Welche wunderliche Gesellschaft kommt da herab? Es sind ihrer wohl ein halbes hundert Gestalten. Vorsorglich weichen sie nicht einen Schritt von den Schneemauern gegen die Mitte der Straße zu. Sie lassen die Steine, welche aus den erweichenden Lawinenteilen von oben herabkommen, in lustigen Bogensätzen über ihre eigenen Köpfe hinwegfliegen.

Eine Schar von Kindern ist es, welche den Galgenbühel herabkommt. Ihre Gesichter haben sich unter der Wechselwirkung des Sonnenlichtes und der Eiskörner, die ihnen der Wind ins Gesicht trug, halb mit rötlicher, halb mit blauer Färbung überzogen. Die Buben stecken die Hände in ihre Hosentaschen, die Mädchen halten sie gehöhlt vor den Hauch ihres Mundes. Alle gehen gekrümmt, als ob sie mit den Köpfen ein Hindernis vor sich herzuschieben hätten. Keines der Kinder überschreitet in der Anzahl seiner Jahre das Alter, welches zwischen acht und dreizehn liegt. Mitten unter ihnen ragt aber ein stämmiger erwachsener Bursche hervor.

Ich wurde nun auch gewahr, daß mich der Zufall hier einer jener Kinderscharen entgegengeführt hatte, welche im Märzmonat aus den ärmsten Tälern von Tirol hinauswandern nach den Ebenen Deutschlands, um sich durch leichte Arbeit den Sommer über durchzuschlagen und die Eltern der Sorge um die große Suppenschüssel zu entheben.

Der Anführer der Truppe war der Vertrauensmann, welchen die Eltern zweier Dörfer gewählt und bezahlt hatten, um die Kinder wohlbehalten nach Ravensburg in Württemberg zu bringen, wo am Josephitage (dem ig. März) der große Markt stattfindet, zu welchem die Bauern von weit und breit zugereist kommen, um sich von den kleinen Fremdlingen solche auszuwählen, die ihren Absichten entsprechen.

Dieser große starke Bursche grüßte mich und meinte, es sei heute ein wenig mühsam für die ganz Kleinen auf dem glatten, eisigen Wege. In der Tat schauten mich manche recht trübselig an, mit ihren dünnen Kleidern und ihrem kleinen, zwilchenen Säcklein voll gebranntem Mehl. Der Zugwind, der manchmal das Inntal heraufkam, machte diese zu einem ungeeigneten Platz für das Ausrasten der Kinder. Da auch ich auf dem Wege nach Landeck war, so schloß ich mich dem Trupp an.

"Was tut Ihr mit den Allerjüngsten, die Ihr habt? Zu welcher Arbeit mögen die zu gebrauchen sein?" fragte ich den Führer.

"Ja, sehen Sie, lieber Herr, der Arbeiten gibt es gar mancherlei. Die Bauern kennen es gleich auf den ersten Blick, wozu einer tauglich ist. Die da hinten zum Beispiel (er deutete auf mehrere der Kleinsten, deren Gesicht auch am meisten blau war), die werden gleich vorgeholt und gefragt, ob sie Gänse hüten wollen. Andere aber, wie der Dicke dort mit dem weißen Haar, der bekommt schon eine Arbeit, wo er mehr aufpassen muß, wahrscheinlich eine Herde Schweine zu hüten. Die Mittleren müssen mengen, das heißt, daß man neben den Ochsen geht, die Arbeiten beim Geschirr und ähnliches, Aufsicht auf die Rinder beim Feldbau."

"Ist es wahr", fuhr ich fort, "daß es da zugeht wie auf einem Sklavenmarkt? Ich habe gelesen und gehört, daß die Kinder dort betastet und befühlt werden, um ihre Stärke zu prüfen."

"Ach Gott, nein!" entgegnete der Bursche. "Die schwäbischen Bauern sind viel zu gute Leute, als daß sie mit den Kindern so wie mit dem Vieh umgingen."

"Und was bekommt ein Kind für den Sommer, den es draußen zubringt?"

Statt der Antwort rief er einen etwa zehnjährigen Burschen her, der keck in die Welt schaute.

"Nu, Joos, sag einmal, wieviel du voriges Jahr bekommen hast, ob dir nichts abgegangen ist und du zufrieden warst mit der Behandlung des Bauern."

"Wohl", entgegnete der Bursch, mit einer fast trotzigen Miene. "Ich hab' gemengt, war von Josephi bis Martini bei meinem Bauern, habe zwanzig Gulden bekommen und ein doppeltes Gewand, und gefehlt hat mir gar nie etwas. Mein Bauer war gut, und ist mir's dort leicht besser gegangen als daheim."

"Wer hat dich denn voriges Jahr hinausgeführt?"

"Meine Mutter", entgegnete Joos unverdrossen. "Wir waren so gar arm, wie wir fortgegangen sind. Die Mutter hatte nur dreißig Kreuzer, aber wir haben uns doch nit gefürchtet. Wir haben es gemacht wie jetzt und sind auch immer bei den Bauern über Nacht geblieben, und wo wir hingekommen sind, haben wir etwas zu essen bekommen. Zwölf Tage waren wir auf dem Weg von Oberinntal bis ins Schwäbische hinaus."

"Hast du denn nicht geweint", fragte ich, "wie eure Mutter von euch Abschied genommen hat, in Ravensburg?"

"O nein", antwortete er, "die Mutter hat auch nicht geweint. Jeder von uns bekam einen guten Bauern und hat uns gleich ein jeder eine Wurst gegeben, der Mutter aber einen Gulden Drangeld. Sie hat den Bauern gebeten, er möcht' gut gegen uns sein, und zu uns hat sie gesagt, wir sollten uns brav aufführen und nicht vergessen, was uns der Herr Pfarrer als Lehre auf den Weg mitgab."

"Bist du dann noch denselben Tag über in Ravensburg geblieben?"

"Nein. Wir fuhren noch am Vormittag fort. Am Abend sind wir auf seinem Hof angekommen, der im Badischen liegt. Am nächsten Morgen war ich schon bei den Ochsen und auf der Arbeit."

"Habt ihr sonntags ausruhen dürfen?"

"Ja, da habe ich gar nichts zu tun gehabt, als im Stall füttern und in die Feiertagsschule gehen. Das Füttern habe ich erst recht gelernt da draußen."

"Und Not hast du keine gelitten?"

"So gut haben wir's zu Haus nicht wie da draußen. Alle Tag hat's Knöpfli (Mehlklöße in Schmalz abgebräunt) gegeben und wöchentlich zweimal Fleisch."

"Kommt es gar nicht vor, daß einer von euch vom Bauern weg wieder nach Haus läuft?"

"Wohl, das schon. Wenn einer gerade zu einem bösen Bauern, so einem rechten Knochen kommt, der ihn schlecht behandelt. Und auch die, welche Heimweh kriegen, springen davon."

"Ja, wie können sie denn eine so weite Reise machen, wenn sie gar kein Geld in der Tasche haben?"

"O je", rief Joos, "jeder Bauer läßt sie gern mitessen und in der Stube schlafen."

Alles was der Knabe sagte, freute mich wegen des schlichten Tones und der offenbaren Wahrheit. Wenn er auch, wie er nachher selbst gestand, nicht ohne Tränen aus dem Hause seiner Mutter gekommen war, so hatten jetzt doch die freie Bergluft und der gesunde Blick auf die Notwendigkeit glücklicherweise jede unnütze Empfindsamkeit unterdrückt.

"Sehen Sie, lieber Herr", unterbrach hier der Führer der Kleinen unser Gespräch, "die Leute da draußen sind zehnmal wohlhabender als bei uns in Tirol. Sie können gar nicht wohlfeiler wegkommen für das Vieh hüten und solche Arbeiten, als wenn sie eines von unseren Kindern nehmen. Wollten sie einen von ihren eigenen Leuten dazu anstellen, sie müßten ihm weit mehr bezahlen, denn bei ihnen hat das Geld viel weniger Wert als bei uns in Tirol. Dann sind auch diese Kinder in der Kost nicht heikel. Sie sollten die roten, pausbackigen Köpfe sehen, mit denen sie im Herbst zurückkommen."

Ich verabschiedete mich von diesen Kindern nicht ohne Bewegung. Sie suchten ermüdet verschiedene Häuser auf, wo sie von barmherzigen Leuten gut empfangen wurden. Während ich am nächsten Morgen noch lange in den Federn lag, schritten sie schon wieder durch das Dunkel des eisigen Morgens dahin.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 319 - 324.