Sagen im Stanzer Tal

Am Eingang von Verwall steht das letzte Haus, Stadien genannt. Weiter hinein zu findet man noch eine Kapelle auf dem 'Kalten Eck', welches durch das Treiben vieler Hexen und Zauberer berüchtigt geworden ist.

Einmal nun kam der Priester von Stanz in das Haus Stadien, um die entlegensten seiner Pfarrkinder zu besuchen. Die Tochter des Hauses wurde von ihm scharf ins Gebet genommen, denn er konnte sich nicht erinnern, sie jemals in der Stanzer Kirche bei sich zum Beichten gesehen zu haben. Das Mädchen leugnete nicht, daß es nicht nach Stanz beichten gegangen war. Doch behauptete es, daß das Christusbild in der Kapelle am 'Kalten Eck' ihm die Beichte abhöre und es losspreche. Der geistliche Herr glaubte nicht daran und wollte sehen und hören. Da wurde er von der Jungfrau in die kleine Kapelle geführt. In diesem Augenblick brachen einige Sonnenstrahlen durch das Fenster herein, das Mädchen nahm seinen breitkrempigen Hut ab und hängte ihn an einen derselben. Nun zweifelte der Priester nicht mehr.

Nicht weit von Stadien findet man am Felsen hoch über dem brausenden Bach eine rundliche Vertiefung und unter derselben eine Furche, die sich bis in den von Wassern durchtosten Schlund hinabzieht.

An diesem Gestein wollte vor nicht gar langer Zeit eine Hexe ihr eigenes Kind zerdrücken. Es fand sich aber, daß der Stein weicher war als das Mutterherz, der Felsen nachgab und das Kind gerettet wurde. Doch blieb der Eindruck deutlich sichtbar, ebenso aber auch derjenige, den die Hexe hervorbrachte, als sie vom Teufel in den Abgrund gezerrt wurde - jene Rinne über dem Tobel.

Am Eingang des Paznauner Tales, in geringer Entfernung von der Landstraße, erhebt sich die Burg Wies, von zwei Wildwassern umbraust. Auf dieser hauste ein Seigneur, welcher eine überaus liberale Anschauung hinsichtlich seiner lehensherrlichen Rechte hegte. Von ihm hörte ich folgende Geschichte: Eines Tages lud er drei seiner Hörigen ein und bewirtete sie zu deren ungemessenem Erstaunen mit einem üppigen Mahle. Nachdem es beendet war, sagte er zu einem Bauern: "Nimm diesen Brief, laufe, was du kannst, bring ihn nach Pians zu dem und dem und komm bald zurück!" Zum andern sagte er: "Leg dich auf das Ruhebett und schlafe!", und den dritten lud er ein, mit ihm im Obstgarten auf und ab zu gehen.

Nachdem die drei Bauern wieder zusammengekommen waren, ließ er ihnen die Bäuche aufschneiden, um nachzusehen, was am vorteilhaftesten auf die Verdauung gewirkt, die rasche Bewegung, die langsame Bewegung oder die Ruhe.

Überall glänzt es vom Eis der Gletscher, und es ist kein Wunder, daß sich die Einbildungskraft der Menschen mit diesen Stätten des Grauens beschäftigt. Nachstehende Geschichte, die zu Petnau in aller Leute Mund ist, beweist es.

Solange im Frühjahr das Vieh sich auf den Voralpen aufhält, müssen die Leute des Dorfes sich der Reihe nach um dasselbe kümmern, weil ein Hirt nicht ausreicht, es zu beaufsichtigen. Nun traf es sich, daß ein Bauer am Fronleichnamstage seinen Sohn aufforderte, die 'Hirtenreihe', die an ihm war, zu übernehmen. Der Bube weigerte sich dessen, weil er an einem solchen Tage nicht auf dem Berg bleiben, dagegen unter den Schützen bei der Prozession paradieren wollte. Nur nach vielen Bitten und sogar Drohungen fügte er sich. Doch verließ er das Haus mit den Worten: "Ich gehe ins Teufels Namen und komme nicht wieder!" Draußen erhängte er sich an einer Wettertanne, und es versteht sich von selbst, daß es geistert, sowohl bei der Tanne, welche die weidenden Rinder vermeiden, als auch im Hause, wo man ihn oft im nämlichen Gewand, in welchem er sich auf den Weg gemacht hatte, im grauen Mantel und spitzigen Hut, neben der Herde sitzen sah. Eines Abends nun holte ein Bauer, der vom Landecker Markt zurückkehrte, auf dem Schaaner Moos einen Kapuziner ein. Dieser erkundigte sich über Petnau und frug insbesondere, ob es dort keine Geister gebe. Der Begleiter erzählte ihm die Geschichte von dem Buben und der Wettertanne, und der Mönch verlangte eine genaue Beschreibung des Hauses. Im oberen Dorfe trennten sie sich. Der Mönch setzte seinen Weg fort, der Bauer ging heim, um zu schlafen. Aber es litt ihn nicht im Bett, seine Neugierde war durch die seltsamen Fragen des Klosterbruders viel zuviel erregt worden.

So schlich er sich denn vor das Haus und sah in der Stube Kerzen brennen, alles beten und den Kapuziner vor einem Kreuz auf dem Tische. Endlich standen alle auf, der Hausherr ergriff eine Blendlaterne und ging mit dem Mönch hinaus in die Nacht.

Die Leuchte gab so viel Licht, daß der hinten nachschleichende Späher alles wahrnehmen konnte, ohne selbst bemerkt zu werden. Er verfolgte sie bis auf die blaugrünen Eisgerölle des Riffler Ferners. Dort wurde der unstete Geist hineingebannt, und seither ist Ruhe zu Petnau.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 328 - 330.