Von Jägern und Gemsen am Zinkenbach
Von diesem Strande schauen wir über den See hinüber, südwärts in die Einsattelung der Täler, welche zum Königsberg und Genner hinführen. An jenem Berg ist ein schöner Wassersturz, an diesem ein Schneehaufen zu sehen, aus welchem das durchströmende Wasser von Zeit zu Zeit eine 'Eiskapelle' bildet. Der Genuß dieser Erscheinungen muß durch ermüdende Märsche erkauft werden. Nur dem Jäger versprechen die öden Pfade Lohn. Dort erspäht er oft hoch oben den Gamsbock, den Leiter des Rudels. Er 'hofft' - so nennen es die Jäger in diesen Bergen, wenn der 'Hauptbock' für die grasenden Gefährten wacht. Diese verlassen sich auf seine Fürsorge und schauen nur ihn an. Wittert die Schildwache den Feind, so pfeift und stampft sie. Dann ergreift die Herde, der alte Bock voran, eine geordnete Flucht. Hinter ihm rennen die jüngeren männlichen Tiere, die Gaisen mit ihren Kitzlein, den Schluß machen die 'galten' (älteren) Böcke. Diese Ordnung wird von ihnen nie unterbrochen, ausgenommen, wenn sie in einen förmlichen Kreis von Jägern geraten. Dann sucht jedes der überraschten und verwirrten Tiere sein Heil nach eigener Wahl und Einsicht. Es ist dann ein seltsamer Anblick, sie zwischen den Blöcken windschnell einherstürmen zu sehen, schwarzen, zottigen Decken vergleichbar. Vom Kopf, den sie tief zwischen die Vorderläufe gesenkt halten, sieht man niemals etwas.
Zu solcher Flucht wird die Gemse schon durch einen Stein veranlaßt, welcher aus dem Geröll herabrieselt. Sie übertrifft in dieser Hinsicht an Wachsamkeit weit das Reh. Auch ist es möglich, dieses auf eine Weise zu überlisten, welche bei der Gemse unerhört wäre. Der Jäger wartet die Stunde ab, in welcher der Mond sich über die Wipfel des Bergwaldes erhebt. Der Rehbock verläßt das Dickicht, um zu grasen. Sein Feind wirft eine rauhe Decke über sich und kauert sich auf den steinigen Boden, indem er den Ruf einer Gais nachahmt. Der Bock ist ihm verfallen. Es ist dies eine Stellung, in welcher man erfrieren könnte, wenn man eine Gemse erlauern wollte.
Das Geröll (Bschütt), dessen herabstürzende Teile den Argwohn der Gemsen erregen und ihnen ermöglichen, ihr Heil in der Flucht zu finden, wird den Menschen nicht selten verhängnisvoll. Ein solcher Stein, dessen sprungweises Niederstürzen dem Darunterstehenden wegen überhängender Legföhren (Legstauden) verborgen blieb, zerschmetterte im November 1866 dem Forstwart Moser an einer Felswand des Attersees den Kopf.
Aber nicht bloß das über, sondern auch das unter den Füßen
des Kletternden befindliche Geröll kann ihm verderblich werden. Es
ist möglich, daß die lose aufliegenden Steine unter den Tritten
weichen und den Menschen, welcher keinen Halt mehr fassen kann, nachziehen,
bis er den Rand eines Absturzes erreicht, über welchen er hinausfällt.
Dann bereitet ihm entweder diese Wand den Tod, oder die Steine, welche
die unter seinem Tritt entstandene Lücke auszufüllen streben,
erreichen mit ihren Sprüngen zuletzt den Schädel des rasch Sinkenden.
Auf diese Weise fand Ende der fünfziger Jahre ein Norddeutscher,
Moritz Keil, seinen Tod, indem er versuchte, den harmlosen Schafberg an
einer seiner steilsten Stellen zu ersteigen. Diejenigen, welche auf ein
solches Geröll geraten, werden, so gefährlich das ihnen scheinen
mag, fast immer am besten tun, wenn sie eilig hüpfend über den
lockeren Schotter hinüberzukommen trachten. Denn ehe das nach unten
weichende Gestein dem Fuß seinen Halt versagen und ihn um ein beträchtliches
hinabzerren kann, steht dieser für einen Augenblick schon wieder
an einer anderen, dann wieder an einer anderen Stelle und so fort, bis
der tückische Kalktrümmerstrom hinter ihm liegt.
Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 100 - 102.