Knappen und Goldberge am Zirm See

Wenn die Leute auf der Welt einen Begriff hätten von der Schönheit und den seltsamen Dingen dieser abgeschiedenen Welt, vom Blendwerk des armen, freibeutenden Erzsuchers an bis zu den Spiegelbildern der Eiswälle im See, von den Flammen und Geistern in starren Mauern bis zum blendenden Fest der Blumen im Julimonat, dann würden viele die Eisenbahn verlassen und derlei mit aller Gewalt anschauen wollen. Schade ist's, denn wie es überhaupt kein schöneres Gebirge gibt als die Hohen Tauern, so sind wiederum jene an Gold und Märchen reichen Hochkare die schönsten Dinge in den Tauern und, wie ich zuversichtlich glaube, in der ganzen Welt.

Heute geht unser Weg zum Zirknitz-Gletscher. Das Wassergebrüll in der Zirknitz-Grotte bei Döllach war um ein Uhr morgens unbändig. Wir wurden ganz und gar überstäubt.

Seltsame Frühlichter spielten auf den vom Wasserstaub feucht und glatt gewordenen Scheiterflächen unter den Lärchen. Wieder hoch aufsteigender Wasserrauch: Wir sind auf der 'Hohen Brücke'.

Wie für dürftige Schlauköpfe niedriger Erhebungen jedes abfallende Brunnenrinnsal zum "Wasserfall gemacht wird, so wird umgekehrt der von Wundern bewegten Einbildungskraft dieses Volkes das Große zum Kleinen: hier heißen gewaltige Wasserstürze, die nebeneinander herabdonnern, die 'neun Brunnen', und die in Schleier und Rauch aufgelösten Bäche, es ist kaum die Rede von ihnen. Ich schaue ihren Wallungen in den Lüften zu. Ein andächtiger Hirt hat nebenan zwei brennende Herzen an ein morsches Kreuz genagelt.

Bald erscheint der untere See, der schon höher in der Einöde droben liegt als die Gipfel des Schafberges. In sein Wasser züngeln weiße Schotterhaufen und noch weißere Schneehänge hinein. Weiter, noch viel höher droben, ist zwischen Moränenhaufen ein anderer See eingebettet. Der hat jegliches Grün, was es auf der Welt gibt: Olivgrün, Apfelgrün, Papageigrün und viele andere. In der Mitte ist er schwarz, am Rande weiß von Schnee und Gneistrümmern.

Der Zirm See auf einer Anhöhe von 2506 Meter, 30 Hektar Fläche enthaltend, ist ein Schaustück, wie man es in den Alpen nicht wieder findet. Der Märjelen-See am Aletsch-Gletscher kann sich an Wirksamkeit der Umgebung mit ihm nicht vergleichen.

Wer lesen kann, der findet hier ein Stück Geschichte der Erdrinde, wenn er diese seltsame Offenbarung des Wesens der Dinge anschaut, durch welche jetzt die Mittagslichter in kleinen, zitternden Flämmchen blitzen, und sie mit den Wasserspiegeln der Fleiß vergleicht. Auch dort lag einst hoch über dem Zirm See ein zweites, noch wilderes Wasserbecken.

Von diesem ist jetzt nichts mehr zu finden, und so wird es auch in einigen Jahrtausenden mit dem obersten See in der Zirknitz sein.

So ergeht es allen Wasserbecken der Hochalpen: zuerst waren sie Eis, Bestandteile eines Gletschers, der ober und unter ihnen starrte. Alsdann sind sie einige Dutzende von Jahrtausenden hindurch Seen - zuletzt werden sie von den jähen Bächen mit Moränenschutt ausgefüllt.

Mitunter gehen solche Wandlungen schnell. Das beweist die fleißige Katastervermessung, die vor dreiundfünfzig Jahren auch die unzugänglichen Einöden dieser Eiswelt in Karten beschrieb. Auf diesen Karten ist von dem jetzigen Zirm See in der Fleiß noch nichts zu entdecken. Damals reichte der Goldzech-Gletscher noch viel weiter, und die durchsichtige Fläche, auf der heute das 'Erzschiff' gerudert wird, war damals weißes Feld, durchklafft von blaugrünen Schrunden. So beherrscht der Wechsel auch jenes starre Reich.

Überall hoch oben münden die Stollen verlassener Bergbaue. Von Tauriskern und Ambisonten bis zu uns späten Nachkömmlingen wurde Gold aufgesucht. Am meisten gehämmert und gepocht wurde vor drei- und vierhundert Jahren. Dann kam die Verfolgung der Irrgläubigen.

Wo das Murmeltier pfeift und der Adler kein Nest mehr anlegen will in der kalten Höhe, dort durfte immer anders gebetet werden, als es der römische Priester zuließ. Die der neuen Lehre anhängenden Knappen mußten die vereisten Berge und das Land verlassen. Noch heute hört man sie, wie der Volksmund erzählt, im Stollen unter dem Gletschereis, deren Eingang niemand sieht, ihre lutherischen Psalmen singen.

Das Gold, welches die Herzen und den Sinn aller Menschen sich botmäßig macht, wurde in den Gegenden der Freiheit aufgesucht, in denen seit Jahrtausenden, unbekümmert um die Wesen der Tiefe, das Wasser frei im Sturz oder trag als Gletscher den Abgründen entgegenwallt und wo die Tiere vom Jäger nicht erreicht werden. Tief unten liegt das Gold, über ihm Fels und Eis, darüber gehen die Wolken, und alles zusammen wird von den Sagen der Menschen eingefaßt. Wie verirrte Sonnenstrahlen auf den Hochseen, so gleiten die Geister volkstümlicher Dichtung durch das Grauen der Einöde.

Quelle: Das Österreichische Seenbuch, Heinrich Noë, München 1867, S. 224 - 226.