Auf der Ätze.

Wenn das Vieh von der Alpe heimgekehrt ist, so bleibt es noch nicht ein für alle Mal in den Stall eingeschlossen, sondern wird ein paar Wochen hindurch auf die Talwiesen zur Ätze hinausgetrieben, um dort den "Povel", d. i. den dritten nach dem Grummet sprossenden Graswuchs abzuweiden. Das ganze Tal scheint durch die überall herum zerstreuten Herden, die teils friedlich grasen, teils lustig klingelnd herumspringen, in eine einzige große Alpenflur verwandelt. Das Geschäft des Hütens versieht nur selten und bei einer sehr zahlreichen Herde der Senner in Person. Gewöhnlich liegt es den Buben ob, die ihren größten Stolz darein setzen und sich auf diese lustige Zeit, wo sie unbeobachtet auf dem Felde draußen ihre eigenen Herren spielen können, schon lange vorher freuen. Beiläufig um acht Uhr morgens wird der Stall geöffnet und das Vieh herausgelassen. .Früher ist es nicht ratsam, weil da noch der den Kühen schädliche Reif auf dem Grase liegt, welcher womöglich zuerst durch die Sonne aufgetrocknet werden soll. Hinter der Herde schreitet im stolzen Bewußtsein seiner Wichtigkeit der junge Hirt, begleitet von kleineren Brüdern oder Nachbarskindern, die selbst nichts zu tun haben. Er trägt einen schön gebrannten Haselstock, an dessen oberem Ende nach altem Brauch ein Kreuz eingeschnitten ist, und die unvermeidliche "Geisel" (Peitsche) in der Hand; die Füße bleiben entweder bloß oder stecken in kleinen, wohlbenagelten und beschienten "Knoschpen" (Holzschuhen). Bei schönem Wetter geht er in Hemdärmeln, bei Regen schützt ihn ein umgehängter Kornsack vor Nässe. Auf dem Kopfe sitzt ein alter Filzhut, dem Sturm und Wetter eine unbeschreibliche Pilzform gegeben, mit einer krummen, dem Haushahn ausgerupften Feder. Ist der Bube noch ein Anfänger im Amte, was man ihm an seiner etwas weniger kecken Miene gleich ansieht, so geht die ersten paar Male der Vater mit ihm. Er zeigt ihm, wie er das Vieh zu lenken und auf dem rechten Wege zusammenzuhalten habe, und gibt ihm, auf dem Mahde angelangt, die nötigen Verhaltungsmaßregeln und Lehren. "Siehst jetzt, Bua", ermahnt der Vater den lauschenden Sohn, "schau her, das ist das "G'mark", darüber darfst du kein Stück hinauslassen, damit es nicht in des Nachbars Mahd hineinkommt. Schlag oder wirf aber nicht mit dem Stock nach dem Schweif, sonst könntest du dem Tier das Schweifbein einschlagen und es wäre "tadelhaftig" und unverkäuflich. Wir haben "toll Ötza" (viel Weide) heuer", unterbricht der Alte wohlgefällig seine Belehrungen, "du kannst lang herausfahren, Bua! Auch nicht "stechen" darfst du die Kühe lassen, da mußt du geschwind hinzulaufen und sie auseinander treiben; besonders gib mir auf die "groaneten" (trächtigen) Acht, daß sie nicht fallen und dann "hinschwingen" 1). Wenn du wissen willst, ob eine Kuh voll (satt) ist, mußt du auf diese Gruben schauen, die sie ober der "Wampe" vor diesen aufstehenden Knochen haben. Wenn du von der Grube an der linken Seite beinahe nichts mehr siehst, hat die Kuh genug, auf der rechten Seite jedoch muß immer noch eine Grube bleiben; wenn das nicht mehr der Fall wäre, so wäre sie schon zu voll und könnte leicht "derschnöllen". Wenn der Wind geht oder wenn irgendwo noch "Haar" (Flachs) im Grase ausgebreitet liegt und überhaupt Nachmittags, wo das Gras trocken ist, mußt du noch mehr aufpassen."

Man sieht, das Viehhüten ist eine heikle Sache, sonderlich für ein so leichtsinniges Bubengemüt, das, sobald der Vater den Rücken kehrt, die guten Lehren über tausend Tollheiten vergißt. Es ist dabei nur zu verwundern, daß nicht öfter ein Stück "zu voll" wird. Der Bauer hat zwar ein Mittel dagegen, welches stark an die Kuren des Doktor Eisenbart gemahnt, es geht dabei der armen Kuh nicht selten ans Leben. Er sticht nämlich mit einer eisernen Spitze, die genau in eine Rohre paßt, der Kuh in den Bauch und läßt so die blähende Luft entweichen. Meistens glückt es, verfehlt aber der Operateur die rechte Stelle oder läßt sich die Kuh während der Behandlung auf den Boden nieder, was die Umstehenden mit allerlei Werkzeugen zu verhindern suchen, so ist sie rettungslos verloren.

Doch was denkt der lustige Hirtenjunge an derlei schlimme Möglichkeiten! Dem ist so wohl "wie dem Vogel im Hanfsamen", besonders wenn er die goldene Freiheit da draußen schon öfter gekostet und in allen Spitzbübereien eine gewisse Fertigkeit erlangt hat. Allein ist er selten, entweder befinden sich auf den angrenzenden Wiesen ebenfalls Hirtenbuben oder er hat ein paar Geschwister oder Kameraden bei sich. Da wird dann abwechselnd einer zum Hüten bestellt, während sich die andern ungehindert herumtreiben. Erstlich werden Wassersteine herbeigeschleppt, zusammengestellt und in diesem nun höchst einfachen Herde mit ein paar Reisern ein Feuer angemacht. Indessen suchen die übrigen Buben das nötige Holz, wobei sie sich nicht selten an morschen Zäunen vergreifen, was ihnen, wenn sie der Besitzer erwischt, auch gelegentlich tüchtige Ohrfeigen einträgt. Das schmeckt freilich etwas bitter, aber es kommt nicht oft vor, denn die Buben haben bereits eine ziemliche Erfahrung. Aber nicht bloß dürres Holz, sondern ganz vorzüglich Erdäpfel und Rüben, die von den verschiedenen Äckern ringsum gar verlockend herüberwinken, werden mitgenommen. Da steckt sich jeder Hut und Taschen voll und legt die erbeuteten Früchte in die Asche zum Braten. Das schmeckt dann königlich. Dabei werden natürlich die Hände voll Ruß und um den Mund bildet sich ein ganz anständiger schwarzer Bart. Trifft man etwa gar im Vorbeigehen einen Apfelbaum, welches Fest für die Naschmäuler! Auch Haselnüsse werden oft ins Feuer geworfen, die mit lautem Knalle zerspringen. Das ist aber noch alles nichts gegen den Hochgenuß des Rauchens. Zu Hause geht es noch nicht an, denn der Vater macht ein böses Gesicht dazu, aber hier draußen, wer wollte es verbieten? Stolz zieht der Junge seine kleine, selbst "zusammengepaschgelte" Pfeife aus der Tasche und stopft sie mit Kraut, freilich nicht mit Tabak, denn der ist nicht leicht zu bekommen, sondern mit dürrem Weinrebenlaub, Erdäpfelkraut, Heublumen oder gar mit Kranewitrinden (Wacholderstrauchrinden). Es ist zwar kein Havannaduft, der da der Pfeife entströmt, aber der junge Raucher bläst doch so behaglich die blauen Wolken in die Luft, wie ein eingefleischter Türke. Ein anderer zündet sich wohl zwanzig Mal am Feuer die Zigarre an, die einmal nicht brennen will; leicht begreiflich! sie besteht eben nur aus einem "Hunaf"- (Hanf-) Stengel, fast länger als der Bube selbst, mit welchem er würdevoll einherspaziert.

Endlich verleidet den Buben auch das Rauchen und sie suchen sich eine andere Unterhaltung. Sie gehen am "Marche" auf und ab und fordern mit einem Schnaderhüpfl ihre Nachbarn zum Streit heraus. Jeder rühmt seine Kühe als die schönsten, seine Geisel als die beste. Um letzteres recht zu zeigen, steigt oft einer auf ein "Köfele" (kleiner Hügel) und fängt an, nach beiden Seiten hin zu schnalzen. Das läßt sich sein kleiner Nachbar nicht umsonst gesagt sein, sondern beginnt ebenfalls feine Geisel zu schwingen. Dabei halten die beiden einen gewissen Takt ein, was man im Zillertal "pöchen" 2) nennt. Auch der "Kreuzschnall" ist eine eigene künstliche Art des Peitschenknalles. Zum Schlüsse gibt es meist eine Balgerei, jeder glaubt es nämlich besser zu können.

Plötzlich aber schreit einer auf: "das Vieh im Schaden!" und beide rennen davon, denn es gilt die Kühe aus den fremden Feldern, wohin sie während des Streites ihrer Hirten gerieten, zurückzutreiben. Alle Feindschaft und aller Hader ist bei dem Zwischenfall verflogen. Doch ist man dadurch etwas gemäßigter geworden und verlegt sich auf ruhigere Beschäftigungen, z. B. auf das Verfertigen von sogenannten "G'schlageln" oder "Sprenghäufeln" zum Vogelfang. Dieselben werden unter einer Staude ein wenig eingegraben, "aufgerichtet" und als Köder Hanfsamen, Kürbiskerne oder auch auf einem Dorn lebendig gespießter Wurm hineingegeben. Auf diese Weise fangen die Buben Spiegelmeisen, Schwarzplatteln, Rotkröpfeln usw. Besonders gern hat man die letzteren, denn ein alter Glaube schreibt ihnen eine segenbringende Kraft für das ganze Haus zu. Man läßt sie gewöhnlich den Winter über in der Stube frei herumflattern und schenkt ihnen im Frühjahr wieder die Freiheit. Bei all diesem mannigfachen Zeitvertreib vergehen den Hirten die Stunden wie Augenblicke, und sie würden wohl die Heimfahrt versäumen, wenn sie nicht der hungrige Magen an das Mittagmahl erinnerte.

Beiläufig gegen elf Uhr treiben sie die Kühe noch Hause in den Stall, wo diese bis Nachmittags 2 Uhr oder bis 3 Uhr verbleiben. Während dessen hat der Hirt freie Zeit, es sei denn, daß er der Mutter Holz für die Küche richten muß. Im andern Falle benützt er diese Erholungsfrist häufig, um Stiele für seine Geiseln zu holen. Dazu werden die Gipfel junger Lärchen- oder Fichtenbäume, manchmal auch solche von Kranewitstauden verwendet. Zu den "Tuschgeiseln" aber, langen Peitschen, wie sie die "Albeler" (Älpler) haben und welche mit beiden Händen geschwungen werden, müssen die Stöcke kurz und "zügig" sein, weswegen man gewöhnlich ein paar Weidenruten zusammendreht. Draußen auf der Weide flechten sich dann die Buben die Schnüre, zu denen sie bei Gelegenheit des Brechelns den Hanf oder Flachs genommen haben. Oft reißen sie auch während des Hütens den Kühen Schwanzhaare aus, um daraus ihre "Geiselschmitze" zu verfertigen. Zuäußerst an dieselbe wird noch ein seidener "Tschopfe" oder "Pfotschen" befestigt. Trotz all diesem verwendeten Fleiß knallen aber die Geiseln noch keineswegs recht; sie müssen nun erst mit Lärget (Baumharz) geschmiert und "gewichtig" gemacht werden. Um dieses zu gewinnen, haben die Buben schon im Frühjahre "Lärgetkästen" in die jungen Stämme gehauen, leider zum Verderben der Bäume, die mit dem Safte ihr ganzes Herzblut verlieren, denn bis zum Herbste sammelt sich eine ansehnliche Menge im Behältnis. Im Pustertal sind diese Geiseln noch mehr im Schwange und das Knallen, oder wie man es dort nennt, das "Krachen" damit bildet eine beliebte Belustigung nicht nur der Hirten, sondern überhaupt der Burschen. Zur Zeit des Weidehütens hört man besonders Samstag und Sonntag Abends von allen Seiten taktmäßiges Peitschenknallen, das den eigentümlichen Namen "Buendreschen" (Bohnendreschen) führt. Sogar Männer halten mit, ein Dorf "kracht" dem andern zum Trutz mit dem Spruch: "Hoi Trutz, dei Goasel kracht nix nutz!" Doch, wie gesagt, nur zur Zeit des "Weidehütens" ist dieses Spiel beliebt und erlaubt; wer es früher zu tun wagt, dem wird die Geisel abgeschnitten; man glaubt nämlich, es werde dadurch das Heidekorn verdorben.

Kehren wir nun zu unserem Hirtenjungen zurück.

Nachmittags bleibt er mit seiner Herde etwa bis sechs Uhr auf der Weide, denn der Abend beginnt bereits frühe zu dämmern. Oftmals ist indes der Weideplatz zu weit vom Hause entfernt, um täglich zweimal aus- und einzutreiben. In diesem Falle hängt der Hirt das Vieh bei der auf dem Mahde befindlichen "Pille" (Heustadel) an und geht unterdessen nach Hause zum Mittagessen oder er nimmt sich letzteres in einer Büchse von Holz oder Blech schon in der Frühe mit. Gewöhnlich bäckt die sorgsame Mutter ihrem Sohne schmalzige Küchel oder Krapfen, welche ihm auch kalt ganz gut munden. Langeweile plagt ihn auch dann nie, wenn er den ganzen Tag draußen zu bleiben hat.

Außer obigen Beschäftigungen und Vergnügungen gibt es ja noch zahlreiche Bubenspiele, eines lustiger als das andere, die er mit seinen Kameraden aufführt, und ist die Schar des Laufens müde, so geht es wieder an ein Geiselschnalzen, Singen und Jauchzen, daß es weithin ins Dorf und durch das Tal zu hören ist und ein etwa des Weges kommender Wanderer seine Freude an dem fröhlichen Treiben haben kann.

Anders ist es freilich, wenn rauhes, naßkaltes Wetter einfällt. Da ist keinem der Buben etwas am "Ausfahren" gelegen, sondern jeder möchte das unliebsame Geschäft auf andere Schultern schieben. "Ich fahre heute nicht," schreit der Hans; "und ich auch nicht," brummt der Seppl, "ich bin jetzt immer gefahren, jetzt trifft's dich." Nicht selten muß der Vater mit dem Stock einschreiten und Ordnung machen. Es ist an solchen Tagen aber auch wirklich unlustig auf dem Felde draußen. Man kann nicht recht spielen, nicht rauchen und das Feuer will nicht brennen, was doch sehr angezeigt wäre, denn der kühle Wind streicht unangenehm durch die feuchten Kleider. Die Kameraden haben den Hirten auch im Stich gelassen und sind zu Hause geblieben; was Wunder, wenn den Verlassenen schmerzliches Heimweh befällt, und ihm, je nach der Gemütsart einen den Erwachsenen abgelernten Fluch auf die Lippen oder die Tränen in die Augen drängt. Doch die Not macht erfinderisch. Wenn es dem Buben allzu langweilig wird, so macht er die Kühe "bisen". Wenn man nämlich den Laut der Bremsen nachahmt, so fangen die Kühe aus Furcht davor zu laufen an.

Das tut nun der pfiffige Junge. In wildem Laufe, den Schwanz in die Höhe haltend, rennen die Kühe dem heimatlichen Stalle zu, hintendrein der Bube, der sich schreiend und fluchend den Anschein gibt, als wolle er die Herde aufhalten, sich insgeheim aber ob der gelungenen List ins Fäustchen lacht. Zwar der Vater empfängt die frühen Ankömmlinge mit gefalteter Stirne; er kennt das Ding aus Erfahrung und hat seinen schlauen Sohn längst durchschaut, aber was tut das? Nachmittags muß doch der jüngere Bruder Seppl "fahren" und bis morgen kann ja die Sonne wieder scheinen. Das lustige Leben auf der Ätze wird noch wochenlang fortgesetzt, bis das letzte Gras abgeweidet ist und der erste Schnee gebieterisch zum Daheimbleiben nötigt.

1) hinschwingen - eine Fehlgeburt machen.

2) wohl = pochen, trutzknallen.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 148 - 155.