Allerheiligen und Allerseelen
Wohl sagt das alte Bauernsprichwort: "Um Allerseelen steckt hinter jedem Zaun ein anderes Wetter", und häufig umwirbelt nicht bloß die Bergeshöhen, sondern auch die Talsohle naßkaltes Schneegestöber mit Regen vermischt, aber öfter, als man meinen möchte, herrscht um diese Zeit milde sonnige Witterung, und der unbeschreibliche Zauber eines schönen Spätherbstes ruht wochenlang auf der träumerisch schweigenden Landschaft. Wie eine blaue Glocke wölbt sich in feuchtschimmerndem Glanze der Himmel über den zackigen Gebirgsformen; darunter prangen in bunter Färbung die bewaldeten Vorberge, als hätte die scheidende Sonne sie mit den letzten Sträußen geschmückt. Die gedrungenen Buchen sind in bräunliches Rot, die schlanken Birken in Helles Orangengelb gekleidet und heben sich malerisch ab von den immergrünen Föhren- und Fichtenbeständen. Auch das Tal ist nicht jeden Schmuckes bar. Zwar ist der tausendfarbige Teppich der Wiesen dahin, aber noch blühen Maasliebchen, Taubnessel und der duftige Thymian; die Herbstzeitlose streut ihre blaßroten Sterne auf den fahlgrünen Anger, an den Rainen und Hecken glüht die purpurrote Berberitzentraube, und das rosige "Pfaffenkäpplein" bringt Leben in die dürre Wegumsäumung. Eine eigentümlich elegische Stimmung liegt über Berg und Tal und paßt harmonisch zur ernsten Feier, der sich am Allerseelenfest Stadt und Land hingibt.
Auf dem stillen Friedhufe herrscht schon am Vorabende des Allerheiligentages ein reges Treiben. Die Gräber werden von Unkraut gereinigt und die lockere Erde zu regelrecht geglätteten Hügeln geformt. Den Schmuck derselben besorgen die Angehörigen, die dazu allerlei verwenden, wie es Mittel und Erfindungsgabe gestatten. Man belegt den Grabhügel mit Moos und steckt rote und gelbe Georginen und Astern, wie sie in jedem Hausgarten blühen, hinein, man bepflanzt sie mit Buchszweigen oder klebt auch nur grüne Blätter in Kranzform auf die feuchte Erde. Das Kreuz schmücken Gewinde aus Moos, in welches grauer Baumbart und dunkler Efeu zierlich eingeflochten sind. Wer es besonders schön machen will, nimmt Buchskränze mit einem Streifen von blauem Papier umwunden und mit Rauschgold beklebt; auch kleine Kränze aus gelben Ewigkeitsblumen sind eine beliebte Zierde. Reiche Großbauern und Wirtsleute oder sonstwie hervorragende Personen des Dorfes spendieren dazu künstliche Rosengewinde oder einen Kranz von bunter Spänglerarbeit, ein besonders von der Jugend angestaunter Schmuck. In das frischgefüllte Weihbrunngefäß wird ein Buchszweig zum Besprengen gelegt. Der Dorf-Friedhof böte da manch wirksamen Vorwurf für einen Maler.
Bald humpelt ein eisgraues Mütterchen herein, das betend von Grab zu Grab geht; denn sie mag wohl gar viele Freunde liegen haben in der ewigen Schlafstätte. An jenem Hügel schaffen ein paar frische rotwangige Mädchen, die selbst bei dieser ernsten Arbeit das Kichern nicht lassen können, umsomehr, als dort in der Totenkapelle der junge Meßnersohn herumhantiert. Die Türe ist heute weit offen und läßt die Pyramiden von Totenköpfen sehen, welche neben dem Altar aufgeschichtet sind. Am Vorhangtuch (Antependium) sieht man, von roten Flammen umzüngelt, die nackten Leiber der armen Seelen gemalt, wie sie ihre Hände hilfeflehend emporheben. So geht es ab und zu auf dem Friedhofe, bis der graue Herbstnebel über das Tal sinkt.
Der nächste Morgen bringt das Fest Allerheiligen. Doch trägt es durchaus keinen fröhlichen Charakter, sondern eher den einer Trauerfeierlichkeit. Denn gleich nach dem gesungenen Hochamte, das vormittags abgehalten wird, wendet sich die ganze Aufmerksamkeit von den verklärten Himmelsbürgern ab und den armen Seelen zu. Ihnen "zu Nutz und Frommen" wird von zwölf Uhr an durch eine volle Stunde mit allen Glocken geläutet. Man nennt dies "Schidungläuten" oder "Seelenausläuten" und zwar aus folgendem Grunde. Der Volksglaube sagt nämlich, daß mit dem Klange dieser Glocken die "armen Seelen" aus den Gluten des Fegfeuers befreit werden und ungehindert auf der Erde herumspazieren dürfen, freilich nur bis am andern Morgen das Geläute zum Zeichen, daß die Ferien der armen Sträflinge vorüber, abermals ertönt und letztere in ihren flammenden Kerker zurückruft. Eine Stunde nach dem nachmittägigen "Schidungläuten" beginnt der feierliche Umzug durch den Gottesacker. Von allen Häusern und Höfen eilt alt und jung dazu herbei. Wohlhabende bringen blanke Leuchter mit Wachskerzen herbei und umstellen damit die Gräber ihrer Angehörigen, Arme bohren mit dem Finger oder, wenn der Boden gefroren ist, mit einem Stück Eisen ein Loch in die Erde und stecken eine brennende Unschlittkerze hinein. Die nächsten Verwandten reihen sich betend um das Grab, das übrige Volk ordnet sich zur Prozession. Voran schreitet der Priester im gelbschwarzen Rauchmantel, ein Ministrant hält ihm das Weihwassergefäß, aus dem er mit dem Wedel nach links und rechts die Gräber besprengt. Hinten nach folgt die andächtige Menge. "Herr gib ihnen die ewige Ruh'!" hallt es durch den sonst so stillen Totengarten, wahrend sich auf allen Gräbern Lichter entzünden und seltsam in der Sonnenhelle flimmern. Nachdem der Zug dreimal den geweihten Raum umkreist hat, macht er vor der Totenkapelle Halt und der Priester singt das De profundis. Damit ist die Zeremonie geschlossen, die Lichter werden ausgelöscht und, nachdem man noch die Ruhestätte jedes teueren Verstorbenen besucht und mit Weihwasser beträufelt hat, kehrt man heim. Mit dieser kirchlichen Feier glaubt man indes seiner Verpflichtung gegen die "armen Seelen" keineswegs Genüge getan zu haben. Gerade die oben berührte, festgewurzelte Ansicht, nach der die "armen Seelen" während dieser Zeit leibhaftig herumwandeln dürfen, läßt den naiv gläubigen Sinn des Volkes alles mögliche aufwenden, um deren Qualen zu lindern. Für jene "armen Seelen", welche die sogenannte "heiße Pein" leiden, das heißt also, in der Gluthitze des Fegfeuers schmachten müssen, stellt die mitleidige Hausmutter im Alpacher Tale am Abend des Allerheiligenfestes ein "Seelenlichtlein", d. i. eine mit Schmalz gefüllte und mit einem Dochte versehene Lampe auf den Stubentisch, damit die armen Seelen nachts hereinkommen und ihre schmerzenden Brandwunden mit dem heilsamen Fett einschmieren können. Für jene "Seelen" aber, welche die "kalte Pein" leiden, von der zwar niemand zu sagen weiß, worin sie besteht, die aber viel ärger sein soll als die "heiße", macht man im Stubenofen ein tüchtiges Feuer an. Nicht genug. Die klugen Paznauner schließen ganz richtig, daß die umheimliche Gesellschaft bei wiedergekehrtem Wohlbefinden auch Appetit haben müsse; deshalb bäckt die Bäuerin eine Schüssel voll schmackhafter Schmalzkrapfen und stellt einen Napf Milch dazu. Da scheint nun einmal eine pfiffige Katze sich im Ofenwinkel versteckt, die Milch "ausgeschleppert" und einige Krapfen, die ihr weniger mundeten, zerrissen und sich dann heimlich aus dem Staube gemacht zu haben, denn die Paznauner berufen sich auf obige Tatsache als unbestreitbaren Beweis der Anwesenheit der armen Seelen. Auch in Pillersee und Pinzgau bewirtet man die geheimnisvollen Gäste, aber nicht so nobel, man läßt nur einige der Kuchen, die am Allerheiligentage in eigentümlicher Form gebacken werden, über Nacht in der Stube stehen. Manche fühlende Herzen übertreiben die Rücksicht für die Fegfeuerbewohner in noch mehr lächerlicher Weise. So kannte ich eine gar fromme ältliche Jungfrau, die schlug nie, besonders aber nicht an diesem Tage, ein "Gatter" (Holzgitter) rasch in die Klinke aus Besorgnis, eine arme Seele zu zerquetschen; auch ließ sie nie einen Rechen mit den Zähnen nach aufwärts liegen oder gar einen Dreifuß leer über dem Feuer stehen, sondern nahm ihn schnell mit der Pfanne weg, damit ja keine arme Seele sich darauf setze und elendiglich schmoren müsse.
Geradezu als Frevel aber ist es zu betrachten, um diese Zeit eine Kröte zu zertreten, denn dies ist die Gestalt, in der sich die Büßenden dem Menschen sichtbar zu machen vermögen, wie viele Sagen zu berichten wissen. Im Gegenteil soll man, wenn einem so ein liebes Tierlein unter eigentümlichen Umständen begegnet, es fragen, ob man ihm vielleicht durch Gebet oder sonst eine Guttat in feinen Nöten helfen könne. Dies bringt dann dem Betreffenden Glücksgüter in Hülle und Fülle. Da ist dem "Armenseelen-Moidele" von Prutz - nun Ihr habt sie ja gekannt - einmal etwas Merkwürdiges passiert, was selbst dem Ungläubigsten die Augen öffnen kann. Dieses alte Weiblein hatte die Verpflichtung, in der dortigen Totenkapelle das "Allerseelenlicht" Tag und Nacht brennend zu unterhalten. Eines Abends hatte sie wieder Öl zugegossen und stellte ihr Gefäß beiseite, um nach frommer Gepflogenheit ein Vaterunser zu beten. Als sie nun mit ihrer Andacht fertig war und sich zum Heimgehen anschickte, fehlte der Deckel von ihrem Ölbehältnis. Nach vergeblichem Suchen rief sie den "armen Seelen" zu: "Gebt ihn her, oder ich komme nimmermehr". Und sieh da, flugs lag der Deckel am alten Platz.
Die aus dem Rührdrama "Der Müller und sein Kind" bekannte Sage von dem nächtlichen Kirchgange der Toten und der im künftigen Jahre Sterbenden ist in den Alpen auch verbreitet, nur knüpft sie sich in mehr oder weniger abweichender Form an irgend einen Ort, eine Kirche oder Kapelle. So soll einem frommen Vikar der Witschenau (Wildschönau), der gerade in der Allerseelennacht zu einem Schwerkranken ging, ein derartiger Spuk vorgekommen sein. Er fand nämlich, als er durch den Friedhof schritt, alle Särge offen, um das Haus des Sterbenden aber stand eine Menge fremder Leute, die mit brennenden Kerzen in der Hand laut für diesen beteten, weil er, wie der Vikar aus der Beichte des Sterbenden erfuhr, bei jeder Messe der "armen Seelen" eingedenk gewesen. Desgleichen erscheinen in der halbverfallenen Kapelle des Schlosses Freundsberg bei Schwaz die längst verblichenen Ritter und Edelfrauen, um da ihren mitternächtlichen Gottesdienst zu halten. Zu Münster geht ebenfalls die Sage vom Opfergang der Toten mit dem Beisatze, daß derjenige, der so kühn sei, sich während desselben derart auf die Stufen des Altars zu legen, daß jede "arme Seele" auf ihn treten muß, in den Besitz einer unsichtbar machenden Nebelkappe gelangen könne.
Auch andere köstliche Gaben sind in der Allerseelennacht zu gewinnen, vorausgesetzt, daß einem der Mut nicht fehlt, etwas zu wagen. Der Robler und Raufer kann sich übernatürliche Kraft holen, der Wildschütz sich kugelfest und den verfolgenden Jäger "gefroren" machen; auch das Schätze finden und heben geht spielend, nur muß man, wie gesagt, vor mitternächtlichem Geisterspuk nicht zurückschrecken. Also aufgepaßt! Wer in der Allerseelennacht, gerade wenn es zwölf Uhr schlägt, eine Totenbahre nimmt und im Stande ist, dieselbe bis es ausgeschlagen hat, dreimal um die Kirche zu schleppen, der bekommt, was er sich wünscht. Doch diese Aufgabe ist schwerer als sie aussieht. Denn während dieser gruseligen Fahrt setzen sich mehr und mehr arme Seelen auf die Bahre und machen die Last immer schwerer und schwerer. Deshalb muß sich der Waghals noch einen zweiten Gesellen mitnehmen, der mit dem Kirchenschlüssel oder mit einer Gerte vom Weißelxenstrauch die blinden Passagiere herabschlägt. Mißlingt das Unternehmen, so wird der Unglückliche von den "armen Seelen" in tausend Stücke gerissen. Man sieht, das sind Schauerproben, gegen welche die Prüfungen weiland Herrn Taminos bloße Kindereien sind.
Doch lassen wir die Allerseelennacht und ihre Schrecken, sie sind zu Ende mit dem ersten Glockenklang, der an vielen Orten schon um fünf Uhr beginnt und, wenn noch kaum der Tag im Osten graut, das schlafende Dorf aufweckt. Das Geläute dauert wieder eine volle Stunde. Währenddessen rüstet sich alles zum Kirchgang. Die Weibsleute binden eine dunkle Schürze um und legen ein schwarzes Tuch um den Hals, was auf dem Lande als Trauerkleidung gilt. Der Schmuck des Gotteshauses entspricht der ernsten Bedeutung des Tages. Das Altarblatt ist verhüllt und durch ein großes Kruzifix ersetzt; die Wände sind ebenfalls schwarz verhangen und mit Sinnbildern des Todes ausgestattet. Im Schiff der Kirche steht, von Lichtern umgeben, ein Katafalk. Nun geht dieselbe Zeremonie vor sich, wie gestern Nachmittag, nur mit dem Unterschiede, daß, wenn der Rundgang durch die lichtergeschmückten Gräber beendet ist, statt des Psalms in der Friedhofkapelle eine Messe gelesen wird. Im Vinschgau und Passeier folgt auf diese kirchliche Handlung noch ein anderer, nicht gerade sinniger Brauch. Der Priester besteigt nämlich die Kanzel und verliest mit lauter, deutlicher Stimme die Namen der Verstorbenen, nicht etwa bloß derer vom letzten Jahre, sondern aller jener, welche seit einem halben Menschenalter das Zeitliche gesegnet haben, was oft eine Stunde dauert. Es wäre dem Geistlichen auch nicht zu raten, die Namen etwa eilig herabzuhaspeln, das würde seiner Volkstümlichkeit sicherlich schaden.
Ist es nun völlig Tag geworden und sind die Hausbewohner von ihrer Andacht zurückgekehrt, so beginnt ein seltsames Treiben, ich meine nämlich den Bettel, der an diesem Tage erlaubt ist und deshalb im Großen ausgeführt wird. Das Almosengeben "zu Hilf' und Trost" lieber Verstorbener war gewiß der schönste und vernünftigste Gedanke, leider sind aber dabei immer ärgere Mißbräuche eingerissen. Anfangs klopften die Leute ganz bescheiden an jede Türe; weil man nun um der "armen Seelen" willen nichts abzuschlagen wagte, sondern ihnen alles gab, was und wieviel sie wollten, so wurden sie immer kecker und bildeten sich endlich zu einem Bettlergesindel heraus, das lärmend und keifend die Dorfgassen durchzieht und die milden Gaben wie eine schuldige Steuer einfordert. Zerlumpte Weiber mit verwahrlosten Fratzen auf dem Arme und am Rockzipfel, freche Männer und Buben, beladen mit Körben und Säcken zur Weiterbeförderung der Gaben, wandern von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, ja selbst von Tal zu Tal. Trotzig pflanzen sie sich vor der Schwelle auf, und wehe demjenigen, den sie ihren Wünschen nicht willfährig finden. Unter einer Flut von Schimpfreden stemmen sie sich gegen die Tür, bis die Furcht vor Gewalttaten und böswilliger Rache ihnen das Verlangte ausliefern macht. Im Oberinntal, wo es sehr viele Arme gibt, zieht man es daher nicht selten vor, Tür und Tor vor den unverschämten Eindringlingen zu verriegeln und dafür einen Betrag an Geld und Lebensmitteln dem Ortsgeistlichen und den Armenvätern zu übergeben, welche dann die Verteilung an die Bedürftigen besorgen.
Die den Bettelnden verabfolgten Gaben sind, wie bereits gesagt, größtenteils Lebensmittel: Getreide, Mehl, Schmalz und vor allem aber Brot. Dieses sogenannte "Armenseelen- oder Totenbrot" tragt je nach der Landschaft verschiedene Namen, wie "Seelenleibchen", "Seelenbuchelen", "Mugelen" oder "Mohnelen" und wird auch in verschiedener Form eigens gebacken. Im Oberinntal sind es kleine runde Laibchen aus Türkischweizen, im Unterinntal aus schlechtem Roggenmehl. Man glaubt nämlich, ein ganzes, wenn auch noch so kleines Brot sei eine Gott wohlgefälligere Gabe als ein geteiltes. Oft hängt auch eine ganze Reihe solcher Laibchen aneinander und man bricht sie erst beim Verteilen weg. Im Zillertal werden die sogenannten "Seelenzelten" und "Hexenbucheln" gebacken, mit denen auch, gleichwie im Münstertale, die "Ehehalten", Knechte, Dirnen und Viehhirten beteilt werden. Im Eisaktal (Latzfons) wurden in früherer Zeit - ob es jetzt noch geschieht, weiß ich gerade nicht - sogar Geldstücke, Taler und Zwanziger in die "Bucheln" gebacken oder wenigstens gesteckt. Das Gleiche soll seinerzeit im Ahrntal mit den "Pitschelen" geschehen sein 1).
1) Über diese verschiedenen Allerseelmgebäcke
vergleiche die verdienstvollen Arbeiten von Max Höfler.
Ein willkommener Bittender ist der Totengräber, der sich für die gehabte Mühe des Gräberherrichtens durch eine Sammlung bezahlt macht. Er bekommt reichliche Gaben, weniger an Geld als an Lebensmitteln. Früher mußte er bei wohlhabenden Bauern nicht selten einen Schubkarren nehmen, um die Gaben einer einzigen Partei fortzuschaffen, jetzt ist man etwas sparsamer geworden. Arme Leute geben ihm nur Erdäpfel. Eine weitere Art von Almosen ist das Verabfolgen von "Gespinnst" an Hausarme, wie es im Oberinntal, Lech-, Ötz- und Pitztal Sitte ist. Die Betreffenden durchwandern in der Seelenwoche diese Täler und wenn sie auch bei jedem einzelnen Hause nur eine Kleinigkeit bekommen, so bringt doch manche arme Person 10 - 15 Pfund Flachs oder Werg zusammen, das sie den Winter über spinnt, dann weben läßt und zu Wäsche verarbeitet.
Bei dem allgemeinen Geben und Nehmen am Allerseelentage dürfen wir auch der Kinder nicht vergessen, dieser glücklichen Geschöpfe, die von der ganzen trüben Feier dieser Zeit nichts interessiert, als die Blumen und funkelnden Lichter. Die Kleinen haben da ein freudiges Fest, sie sind nämlich bei der "Godl" (Patin) eingeladen und trinken süßen Kaffee mit mürbem Brot. Wenn eine gutherzige, reiche Bäuerin 20 - 30 Godelkinder zusammenbringt, so ist die junge Gesellschaft belebt genug. Jedes bekommt noch einen Brotkranz aus Butterteig mit nach Hause, die Knaben in Form von Hasen, Hirschen oder Pferden, deren Füße unten zusammenlaufen, so daß das ganze Gebäck einen Kranz bildet, die Mädchen Hennen. Die Augen sind durch Kranewit- oder Weinbeeren gekennzeichnet, welch' letztere natürlich sogleich herausgenascht werden.
Mit der kirchlichen und häuslichen Feier des Allerheiligenfestes und Allerseelentages ist die den Verstorbenen schuldige Rücksicht nicht abgeschlossen. Ich spreche nicht von der allgemeinen Verehrung, die denselben das ganze Jahr hindurch zu teil wird - man widmet ihnen in Tirol und seinen Nachbarländern einen förmlichen Kult, wallfahrtet zu Friedhöfen und ruft die "armen Seelen" in allen Anliegen um ihre Fürbitte an, wie eine Unzahl von Votivbildern beweist - sondern ich meine nur die besondere Berücksichtigung, die man ihnen während der sogenannten "Seelenwoche" schenkt. Sie dauert die ganze Woche bis zum "Seelensonntag" (8. November), an welchem Tage der Priester wieder zum erstenmal ein helles Meßkleid trägt. Während dieser Zeit beherrscht eine ernste Stimmung Dorf und Umgebung.
Das Weibervolk behält an vielen Orten den schwarzen Anzug bei, die Gräber bleiben geschmückt und erfreuen sich zahlreichen Besuches, sonderlich abends nach der "Seelenandacht", die in den meisten Kirchen abgehalten wird. Beim Abendrosenkranz gedenkt man ebenfalls der armen Seelen und brennt für sie die Stümpfchen der im Gottesacker abgebrannten Kerzen fertig. Auch im abendlichen Heimgarten geht es stiller her, kein Schnaderhüpfel und kein Zitherklang ertönt und kein Juchezer eines fidelen "Gasselbuben" schwingt sich ans Fenster des Liebchens. Die gesangliche Unterhaltung übernehmen für diese Zeit die sogenannten "Seelensinger". Das sind gewisse Leute, welche von Haus zu Haus ziehen und vor der Türe oder in der Stube "Armenseelenlieder" singen. Dafür bekommen sie entweder Geld oder einige Brotlaibchen, "Pitschelen" genannt. Gerade großen dichterischen Wert besitzen diese geistlichen Lieder nicht, wie sich jeder aus folgenden Mustern überzeugen kann. Eines aus dem Ahrntal beginnt:
O Christ
Wo bist,
Schau, daß d'armen Seelen nicht vergißt;
Sie sitzen in Flammen
Und schlagen die Hände zusammen
Und rufen: O Kind
Hilf gschwind.
Man sieht, es ist nur der in Verse gebrachte Abklatsch jener Armenseelenbilder, die uns in Totenkapellen und "Bildstöckeln" an Wegen und Stegen begegnen und oft ganz ergötzliche Begleitreime enthalten. So steht bei Bruck an der Mur ein Marterl, dessen Verse der Eingangsstrophe obigen "Armenseelenliedes" auf ein Haar gleicht. Es lautet wörtlich:
Ihr Freund'
Wenn ihr's gut meint
O eilt und helft mir Armen;
Eine lange Zeit
Ich hier schon leid.
Ach thut doch erbarmen.
In strenger Hicz
In Feuer ich sitz
Und wart auf Euch mit Schmerzen
Um ein Vater Unser und Efa (!) Maria. 1)
1) Ähnliche "Arme-Seelen"-Reime enthalten in Fülle meine vier bei Cotta erschienenen Bändchen: Grabschriften und Marterten.
Manche "arme Seelen", wahrscheinlich solche, die sich schon bei ihrem Erdenwallen durch Kniffe ausgezeichnet haben, suchen auf fast ausgesucht schlaue Weise vom Vorübergehenden ein Vaterunser zu erzwingen. So ist auf einem Armenseelenbild bei Lengenfeld [Längenfeld] im Ötztal zu lesen:
Weil du bist anhero kommen
Du mein allerliebster Freund
Erlös' uns aus den heißen Flammen,
Vielleicht wir deine Eltern seind. (!)
Einen fast allarmierenden Hilferuf stößt eine "arme Seele" auf einem Bild in Völs bei Innsbruck aus:
Alhero eilt, kommt, lauft zusamm',
Es brinnt, es brinnt, ach löscht die Flamm'!
Es ließe sich über diesen Gegenstand noch viel erzählen, so über die ergreifende Art, wie in Kärnten, besonders in slovenischen Gebieten, die nächtliche Feier des Allerseelentages abgehalten wird, wo auf allen Gräbern die Lämpchen durch das Dunkel leuchten und die Gebete und Gesänge durch die Stille tönen. Auch über die Beziehungen des Armenseelenkultus zur heidnischen Religion unserer Vorfahren gäbe es manches zu sagen, wenn dieselben auch im Verlaufe der Zeiten ziemlich verblaßt sind. Noch immer glaubt das Volk, daß im "Allerseelenwind", der häufig sturmartig um diese Zeit weht, die "armen Seelen" umziehen, was an den Totenzug Wodans erinnert. Auch die oben geschilderte Abfütterung dieser bedauernswerten Büßer in Steiermark, "Allerseelengastung" genannt, sowie das Backen von Brot in eigener Form z. B. in Gestalt von Hennen und Hirschen geht auf heidnischen Ursprung zurück. Der Mythologe wird darin Überbleibsel und Erinnerungen an jene große Totenfeier erblicken, welche um die Zeit der herbstlichen Tag- und Nachtgleiche von den Germanen begangen wurde und in Opfern und festlichen Gebräuchen bestand.
Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben,
Stuttgart 1909. S. 183 - 194.
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