Bittage.

Der Mai ist ins Land gezogen mit all seiner Pracht und Herrlichkeit. Die Berglehnen und Höhen überzieht saftiger Grasteppich, aus dem dunklen Tannenwalde leuchten die hellgrünen Birken und die weißen Gebirgslamme und Kuppen zeigen bereits arge Risse, ein Werk der mutwilligen Frühlingssonne, die vom blauen Himmel recht schadenfroh darauf herunterlacht. Auch das Tal prangt ihm zu Ehren im schönsten Schmuck. Das Winterkorn ist bereits so hoch, daß sich "ein Rabe darin verstecken kann", das "Langeskorn" (das im Lenz gesäte Getreide) "spitzt" schon und überspinnt mit den aufsprießenden Maispflänzchen die braunen Ackerflächen wie mit einem grünen Schleier. Daneben dehnt sich die Wiese, in deren üppigen Sammet taufend gelbe Schlüsselblumen und blaue Vergißmeinnicht eingestickt sind, während die Kirsch- und Apfelbäume an Zäunen und Rainen in weiß und sanftroter Blütenfülle emporstreben. Dazwischen zwitschert und schreit der sanglustige Schwärm der wiedergekehrten Zugvögel, die im laubigen Geäste ihr luftiges Sommerquartier aufgeschlagen. Auf sonnenwarme Mittagsstunden folgen Nächte voll berauschenden Blütenduftes. Ein blauer Tag reiht sich an den andern.

Da beginnt allmählich das frische Grün der Wiesen gelb zu werden, die Gräser wollen nicht mehr in die Höhe wachsen und an besonders sonnigen Stellen zeigen sich verbrannte Flecken. Wenn nun gar der austrocknende Südwind kommt und von den brüchigen Erdschollen der Äcker den Staub aufjagt, so zieht sich das Gesicht des Bauern gewaltig in die Länge, denn es heißt:

Mai kühl und naß
Füllt dem Bauern Scheuer und Faß.

Ängstlich späht er hinauf zum "Wetterloch", ob sich nicht Gewölk ansammle, oder schaut, ob das "Wettermannl" - Felspartien, die bei kommendem Regen schwarz werden - nicht das sehnlichst erwartete Naß bringe. Umsonst. Ein Trost ist nur dies für ihn, daß die ganze Gemeinde seine Sorge teilt und alsbald darauf bedacht ist, mit vereinten Kräften dem Übel abzuhelfen.

Eines schönes Sonntags nach dem Frühgottesdienste trifft der Vorsteher verabredetermaßen mit einem Mitgliede des Gemeinderats auf dem Kirchplatze zusammen und beide machen sich bedächtig auf den Weg zum Widdum. Die Klingel ertönt, die Haustür öffnet sich und die Lisel, die alte "Häuserin", steckt ihre spitze Nase heraus. "Wir hätten ein Wörtel mit dem Herrn Pfarrer zu reden", lautete die Anfrage. "Werd's dem Hochwürdigen gleich sagen, das Essen ist so noch nicht fertig," brummt die Lisel und eilt in den Garten.

Draußen unterm Blütendach eines Kirschbaumes sitzt der geistliche Herr. Er ist soeben heimgekommen, hat sich den Schmeiß der Tageshitze und Sonntagspredigt von der Stirne getrocknet und ein altes Brevierbüchlein aufgeschlagen. Auf die Meldung der Lisel begibt er sich in den Hausflur und führt die Bauern hinauf in das freundliche Zimmer im ersten Stock. Er hat das Anliegen, das ihm die zwei Vertreter der Gemeinde jetzt vortragen, schon vorher erraten. "Und drum tat' halt die Gemeinde schön ersuchen, daß sie morgen "mit dem Kreuz" nach Absam um Regen bitten gehen darf", schließt der Vorsteher seine Rede.

Der Pfarrer macht ein eigentümliches Gesicht. Er hat bereits während des Vortrages nach dem Fenster geschielt und dabei einen Blick über den an der Wand hängenden Barometer gleiten lassen. Kein Wölkchen am tiefblauen Himmel, das Quecksilber auf dem höchsten Stand. Wenn aber der Regenbittgang ohne Erfolg bleibt, dann ist es aus mit dem Kredit des himmlischen Vaters und auch mit seinem. "Lieber Vorsteher" beginnt nach einem Räuspern der Hochwürdige, "der fromme Sinn und das Gottvertrauen meiner anvertrauten Schäflein freuen mich wirklich von Herzen - aber ich meine doch, die Not ist noch nicht gar so arg - und man soll auch nicht "unehr" 1) sein gegen den lieben Herrgott und die göttliche Gnade nicht herausfordern. Wollen wir also noch ein paar Tage zuwarten, dann kann immerhin "mit den Kreuzen" gegangen werden, ich werde euch den Zeitpunkt zu wissen machen."

Ein, zwei, vier Tage vergehen. Am fünften Abends wollen der Lisel die Hennen lang nicht "aufsitzen", auch das Quecksilber im "Wetterglas" hat einen kleinen Ruck gemacht. "Jetzt mag's geschehen", denkt sich der Pfarrer und legt sich zur Ruhe. Am andern Morgen nach der Messe besteigt er die Kanzel und verkündet der harrenden Gemeinde, daß morgen fünf Uhr früh der Bittgang stattfinde. Und siehe des Himmels Segen ruht sichtbarlich über dem Vorhaben der frommen Gemeinde, ja er kommt demselben fast zuvor, denn am Bittgangmorgen ist das Firmament bereits mit Regenwolken überzogen, so daß jeder der andächtigen Kirchfahrer das rote "Amprell" aus dem Winkel sucht, und kaum ist die Prozession am Ziele, so fängt es zu "platschen" an, daß es eine wahre Freude ist.

Diese Bittprozessionen, sowie überhaupt die meisten "Kreuzgänge" beginnen schon sehr früh, etwa um halb fünf Uhr morgens. Um diese Stunde begeben sich alle, die mitgehen wollen, in die Kirche. Hier liest der Priester entweder gleich die Messe, oder er spart sich dieselbe auch für das Ziel der Wallfahrt und erscheint sogleich im weißen Chorrock mit blauer Stola, begleitet von zwei lichtertragenden Ministranten. Nun nimmt der Meßner das in der Mitte der Kirchenstühle aufgesteckte Kreuz zur Hand; die Buben folgen mit kleinen Fahnen, wenn solche mitgenommen werden. Es ordnet sich rasch der Zug; voran das Kreuz, dann der Geistliche und hierauf Paar um Paar der lange Zug der Beter, erst die Männer, dann die Weiber. Die Kinder laufen mit, es geht überhaupt alles, was gesunde Füße hat oder nicht als notwendige Haushut daheim bleiben muß. Der Priester betet den Rosenkranz vor, die hinterdreingehende Gemeinde antwortet, wobei oft ein unerträgliches Geschnatter zutage kommt. Durch die Dorfgasse geht es hinaus in die Felder, oft drei bis vier Stunden weit, einer fernen Ortschaft zu, wie z. B. vom Tale Sellrain nach Innsbruck. Dort hat der Meßner schon lang auf die Kommenden geharrt und begrüßt sie, sobald sie ihm in Sicht kommen, mit dem Geläute aller Glocken. Der Zug umgeht erst einigemale die Kirche und tritt dann in dieselbe ein, um die Messe zu hören, oder sonst ein Gebet zu verrichten. In größeren Ortschaften, wo die Bittgänge besonders feierlich begangen werden, wird auch Amt und Predigt abgehalten. Nach dem Gottesdienste zerstreut sich die Menge und sucht vor allem ein Wirtshaus auf, um die hungrigen Mägen zu erquicken. Da geht es oft ganz lustig her, besonders wenn mehrere Bittgänge zusammentreffen.

Nachmittags wird der Heimweg angetreten. Dabei herrscht wenig Ordnung und noch weniger Andacht. Mancher der frommen Wallfahrer hat sich den Roten gar zu gut munden lassen und ist ganz weltkindmäßig beduselt, sodaß er sich in bedenklichen Schneckenwindungen bewegt. Die Inzinger sollen sogar einmal im Rausch das Kreuz vergessen haben. Überhaupt erzählt man sich von diesen Bittgängen eigentümliche Dinge, so z. B. die wunderliche Geschichte von den "Staner Facklen" 2). Im unter inntalischen Dorfe Stans erwartete man nämlich einen Wallfahrtszug aus einem Nachbardorfe. Um die Nahenden rechtzeitig mit Glockenklang zu empfangen, war einer "auf die Pass'" geschickt. "Jetzt kommen sie, jetzt kommen sie," hieß es alsbald und die Glocken läuteten, daß fast die Stränge rissen. Doch, o weh, es war ein Schweinetrieb, die Stanser hatten die "Facklen" eingeläutet. Von dieser Zeit an fühlten sie den Spottnamen "Staner Facklen", der ihnen manchen Ärger eintrug. Einmal trafen sie bei einem Bittgange mit den Vompern zusammen, die ebenfalls mit dem Kreuz nach demselben Orte gewallfahrtet waren. Die Vomper hatten es schon lange scharf auf die Stanser und streuten ihnen, um sie recht zu ärgern, Türkenkörner auf den Weg, wie man beim Schweinetreiben zu tun pflegt. Die Stanser aber waren auch nicht faul und schimpften die Vomper mit ihrem Übernamen "Rangger" (Maikäfer), der diesen wegen eines ähnlichen Lalenburger-Stückleins anhing. Der Streit entbrannte immer hitziger und schließlich erwuchs aus dem Bittgange eine allgemeine Keilerei, wobei sie auch mit den vorgetragenen "Herrgöttern" zusammenschlugen.

Außer den Bittgängen um Regen oder auch um schönes Wetter, wenn solches dringend gewünscht wird, welche Umzüge sich natürlich weder an Zeit und Ort binden, sondern nach dem jeweiligen Gutachten der Dorfvertretung angeordnet werden, gibt es auch solche, die alljährlich an bestimmten Tagen abgehalten werden. Die Reihe derselben eröffnet die Prozession am St. Markustage (25. April). Dieselbe soll uralt sein. In manchen Alpengegenden glaubt man sogar, daß sie bereits in vorchristlicher Zeit bestanden habe, was naive Baueingemüter durch die Behauptung bekräftigen, daß Christus selbst, als er noch auf Erden wandelte, diesem "Kreuzgang" gegen den "Abfraß" beigewohnt habe. Im Ötztal sucht man bis Georgi (24. April) mit dem Anbauen aller Feldfrüchte fertig zu sein; am Sonntag darauf bewegt sich dann eine feierliche Prozession durch die Felder. Dabei trägt man Kreuze und Fahnen und der Ortsgeistliche liest an schön verzierten Altären die vier Evangelien, wie bei der Fronleichnamsprozession. Brücken, Muhrraine und andere gefährdete Orte weiden besonders gesegnet. Auffallend ist, daß hiebei neben den Altären Kranewitfeuer 3) entzündet und brennend erhalten werden, bis das Evangelium vorbei ist. Die Ötztaler sind aber mit diesem Hauptbittgange nicht zufrieden, sondern veranstalten noch einige Samstage hindurch einen solchen auf eigene Faust, d. h. ohne Geistlichen. Dabei geht man zu irgend einer nahen Kapelle und später in die Kirche zum Rosenkranz. An vielen Orten findet um Kreuz-Erfindung (4. Mai) eine Prozession statt. Den Schluß dieser allgemeinen Bittzeit im Frühling machen die Kreuzgänge in der "Bittwoche", d. i. am Montag, Dienstag und Mittwoch vor Christi Himmelfahrt.

1) unziemlich, eigenmächtig.
2) der, die und das Fack - Schwein.
3) Kranewit - Wacholder

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 86 - 91.
Frakur-OCR korrekturgelesen von Carsten Heinisch