Das Fahnenschwingen.

"Ihr Schützen, schwingt die Fahnen,
Die Fahnen weiß und grün,
Es ist ein stolzes Mahnen
Gar eigner Art darin."

So beginnt Hermann v. Gilm ein Schützenlied. Und er hat recht. Wenn nach der abgegebenen "Generaldecharge" die Front der Schützen wie angewurzelt dasteht und bei den Klängen der Volkshymne die weiß-grüne Fahne geschwungen wird, da ist es in der Tat ein "stolzes Mahnen" an erfochtene Siege, es ist, als ob in den geschwungenen Seidenfalten das Hochgefühl der kampflustigen Krieger mitwogend seinen Ausdruck finde. Auch beim Defilieren der Schützenkompagnie wird die Fahne vor dem Kommandanten geschwungen als Sinnbild der hingebenden Treue und Verläßlichkeit der Mannschaft.

Das Fahnenschwingen war in früheren Zeiten ein allgemein geübter Brauch der bannertragenden Innungen überhaupt und besonders der Bäcker. So war es noch im vorletzten Jahrhundert in Mitteldeutschland am Pfingstdienstage üblich. Die ganze Zunft zog, in weiße Jacken gekleidet und mit Bändern geschmückt, durch die Gassen der Stadt und schwang vor den Häusern in kunstvoller Weise die weiße Fahne. Als Lohn erhielten die Zünfte dann von den Bewohnern ein Biergeld, das beim abendlichen Schmaus gemeinschaftlich verjubelt wurde. In Wien hat sich, wie eine alte Chronik erzählt, vor etwa 360 Jahren bei Gelegenheit einer herzoglichen Hochzeit ein Fahnenschwinger sogar zuhöchst auf dem Stephansturm als solcher hervorgetan. Jetzt hat sich diese Sitte nur mehr bei den Schützenumzügen und meines Wissens nur mehr in Tirol, Kärnten und Steiermark, in beiden letztern "Fahndreh'n" genannt, erhalten. 1) Da wird sie bei Prozessionen, besonders um Fronleichnam, nach der abgegebenen Generaldecharge vom Fahnenträger geübt, und zwar in der Weise, daß die Fahne in Form eines liegenden Achters (8) geschwungen wird.

Das Gesagte gilt vom Ober- und Unterinnntal; anders im Burggrafenamte. Hier ist das Fahnenschmingen bei gewissen feierlichen Gelegenheiten noch als selbständiges festliches Nachspiel im Schwange und hat sich besonders in Mais, Marling und Meran, ferner in Schönna und Lana zu einer eigenartigen Kunstfertigkeit entwickelt. Nachdem die Fronleichnams-Prozession oder die große Prozession, die am Festtage Maria-Namen in Mais, um Maria Geburt in Lana abgehalten wird, vorüber ist, ziehen die Schützen in ihrer malerischen Tracht auf den Kirchplatz oder in den Hof des Pfarrwidums; der Fahnenträger tritt vor und es beginnt das Schwingen. Dazu spielt die Kapelle in langsamem Zeitmaß einen "Ländler" (Walzer), der die Vorführung mit der Fahne begleitet. Zuerst werden die obengenannten gewöhnlichen Schwingungen mit geneigter Fahnenspitze vorgenommen. Vor und zurück wallt zum Takt der Musik in anmutiger Wellenbewegung rauschend und knisternd die Seidenfahne. Dann senkt sie sich mehr und mehr und bewegt sich kreisrund um den schlanken Schwinger. Jetzt dreht er sie pfeilschnell um die Hüfte, daß der Oberleib des Trägers fast wie auf einem grünen Teller erscheint. Immer tiefer kreist die Fahne und in stets drehender wagrechter Vor- und Zurückbewegung um den Leib und immer tiefer hinabrückend um die Beine des Fahnenschwingers. Endlich tanzt sie um die Waden herum, kehrt blitzschnell um und dreht sich in entgegengesetzter Richtung. Dabei darf sie - das ist die Hauptsache - den Boden nicht berühren. Die Schlußwirkung bildet das "Überspringen" der Fahne, obwohl dasselbe, streng genommen, mehr in einem Übersteigen als in einem wirklichen Überspringen der Fahnenstange besteht. Damit hat die Belustigung ihr Ende erreicht; mit einer kunstvollen Wendung wird die Fahne in die Höhe geschwungen, die Musik verstummt und der gewandte Fähnrich tritt wieder in die Reihe.

So sah ich es vor Jahren in Untermais nach der großen Prozession, Auch zu Ehren der Anwesenheit hoher Persönlichkeiten ist das Fahnenschwingen im Brauche, So wurde es in Innsbruck anläßlich der Feier der fünfhundertjährigen Vereinigung Tirols mit Österreich unter den Augen des Kaisers vor der Burg geübt. Wenn ich nicht irre, war es ein gebürtiger Algunder, der die Fahne schwang, derselbe, der sich schon früher im Herbste des Jahres 1855 vor dem Erzherzog Karl Ludwig in dieser Kunst hervorgetan hatte. Damals waren sogar drei "Fahnlschwinger", vom Schützenviereck umgeben, auf dem Postplatze in Meran anwesend und zeigten bei Trommel- und Schwögelklang dem kaiserlichen Prinzen ihre Fertigkeit. Am schönsten machte es der erwähnte Algunder. Das war wohl der beste Fahnenschwinger seit langer Zeit und verstand es meisterlich die grün-weiße Schützenbraut mit einer Hand zu drehen, wie es eigentlich vom Brauche vorgeschrieben und auch im Talboden von Meran gehalten wird.

Auf den Höhen, so zum Beispiel in Schönna, wird die Fahne mit beiden Händen geschwungen. Es geschieht daselbst am Frohnleichnamstage zweimal, ja früher sogar dreimal, das erstemal vormittags, dann nachmittags auf dem Kirchplatze, wobei die Schützen und das Volk ein Viereck herum bilden. In den vierziger Jahren, als noch der Zehent blühte, zog man hernach auf den Schloßhof von Schönna und brachte auf diese Weise dem Burgherrn eine eigenartige Huldigung, welche stets eine kleine Bewirtung zur Folge hatte. Es gehört übrigens viel Kraft und Übung dazu, mit einer solchen Fahne, wenn sie auch nicht allzuschwer ist, alle diese Windungen und Drehungen auszuführen, ohne daß die Seide den Boden berührt. Kann es einer gut, dann sieht das Spiel wirklich schön aus. Als Beleg, zu welcher Meisterschaft es manche in diesem schönen Spiele bringen, sei erwähnt, daß einer in Lana mit einem bis zum Rand gefüllten Weinglas auf dem Kopfe, ohne einen Tropfen zu verschütten, den Fahnenschwung ausführte. Es ist das wohl derselbe, welcher bei der Enthüllung der vom Österr. Touristenklub errichteten Andreas-Hofer-Gedenktafel in Meran am 24. Oktober 1884 allgemeine Bewunderung erregte.

Mögen die wackeren Burggräfler, die fchmucke Vorhut und Ehrenwacht der Burg Tirol, auch diese überkommene Vätersitte ebenso treu wahren, wie sie manchen andern ehrwürdigen Brauch bisher bewahrt haben!

1) Nach einer Mitteilung des verdienstvollen deutschböhmischen Schriftstellers Alois John findet sich ein schwacher Nachklang dieser Sitte auch in Eger. Ebenso wurde beim großen Erinnerungsfest zu Unspunnen bei Interlaken am 25. und 26. Juni 1905 das Fahnenschwingen geübt.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 442 - 445.