Der Heimgarten.

Wenn man an heiteren Sommerabenden durch ein tirolisches Dorf geht, so scheint dasselbe belebter als am Tage. Vor jedem Hause sitzt auf der Bank, gemütlich plaudernd, eine Gruppe von Bauersleuten, meist Männner, welche die Pfeife im Munde führen. Es ist dies der sogenannte Heimgarten (Hoangart), ein Brauch, auf den jeder ländliche Hausvater mehr hält als der Städter auf die Teestunde.

Es dämmert bereits und das Avemarialäuten ist längst verklungen. Mit dem ersten Glockenschlage desselben wird Feierabend gemacht. Die Dienstboten halten fest an diesem Recht, und sollte ein geiziger Bauer Miene machen, die Arbeit weiter fortzusetzen, so wird er an die heilige Notburga erinnert, welche nach der Legende bei einem ähnlichen Verlangen von Seite ihres Dienstherrn die Sichel in die Luft warf. Und sieh! diese blieb droben hängen, zum wunderbaren Zeichen, daß man die Abendruhe nicht stören solle. Die Arbeiter packen also ihre Ackergeräte zusammen und kehren, Rechen und Sense über der Schulter, von den umliegenden Feldern heim. Sie haben sich in der Sonnenhitze tüchtig müde und hungrig geschafft und brauchen schon den schmalzigen Abendimbiß, den die Bäuerin unterdessen für sie zubereitet hat. Auf das Essen folgt, wie wir im früheren Abschnitte hörten, der Rosenkranz und dann gibt man sich dem Wohlgefühle des abendlichen Ausruhens und der geselligen Unterhaltung mit vollem Behagen hin.

Während der Knecht noch "zu guter Letzt" im Stalle nachschaut, setzt sich der Bauer oder ein Sohn des Hauses auf die lange Bank vor der Türe und stopft seine Pfeife. Der Familienvater hält gern noch eine zeitlang seinen "jüngsten Zügel" auf dem Knie und freut sich, wenn der derbe Junge mit ungeschickten Händchen nach der Pfeife hascht, oder ihm das Hauskäppchen vom Kopfe reißt. Daneben balgen sich ein paar größere Kinder auf dem Sande. Bald kommt gemächlichen Schrittes ein Nachbar daher. "Habt's Feierabend?" lautet der gewöhnliche Gruß. "Jawohl", bestätigt der Angeredete, während sich der Gast mit den Worten "mit Verlaub" (in Vorarlberg "excuse") zu ihm auf die Bank setzt. Bald kommt noch einer und mehrere aus der Nachbarschaft. Es herrscht meistens ein gutes Einvernehmen zwischen Nachbarn. Man braucht einander viel zu oft, besonders wenn die Feldarbeit drängt, daher gebietet schon die Klugheit, sich zu vertragen. Man hilft sich mit Geräten, Zugtieren und Arbeitskräften gegenseitig aus und wird als Entgelt zum herbstlichen "Türkenausbratschen" eingeladen, das eigentlich auch nur ein Heimgarten im Großen ist, usw.

Bald ist ein lebhaftes Gespräch im Gange. Den Inhalt desselben bilden die Ereignisse und Arbeiten des Tages. "Was hast heut g'werkt?" fragt einer der Bauern. Dieser beginnt nun zu berichten, wie er vormittags Türken "gehäufelt" und nachmittags Heu eingeführt habe; ihm folgen die andern mit dem Erzählen ihrer Tagesordnung. Dann wird das Wetter des weitesten erörtert, vorzüglich zur Zeit, wo böse Gewitter den Erntesegen bedrohen. Jeder kramt seine Erfahrungen aus und rühmt diesen und jenen Wetterheiligen, auf welchen man sich ganz sicher verlassen könne. Daran knüpfen sich Pläne für die Arbeit der nächsten Woche und weiter hinaus, sowie Ansichten und Vorschriften, die man noch dem "Urähndl" verdankt. Nichts bleibt unberührt, von Erdäpfelacker bis zur Almwirtschaft. Das Vieh ist ein besonders wichtiger Gesprächstoff, denn man weiß ja, daß ein rechter Bauer dasselbe zur Familie rechnet. Mit solchen Reden unterhalten sich die gesetzten älteren Leute. Sind recht gescheite Köpfe darunter, z. B. der Schmid oder der Schullehrer, dann werden auch Gemeindeangelegenheiten verhandelt, hie und da wird sogar politisiert.

Endlich tritt auch die Bäuerin aus dem Hause, die bis jetzt mit dem Abspülen und Reinigen der Küche zu tun gehabt; gleichzeitig werden die Töchter und Dirnen sichtbar. Die kleinen Kinder schlafen schon längst in der Kammer. Nun wird es lustig. Hübsche Mädchen sind ein Magnet, der nicht nur die Burschen des Dorfes, sondern auch jene von entfernt liegenden Höfen und Dörfern anzieht. Es kommt nicht selten vor, daß diese Stunden weit her zum Heimgarten erscheinen. Schon von Ferne hört man die Rotten jauchzen und singen. Die fröhlichen Gäste werden immer willkommen geheißen, am herzlichsten freilich von dem blonden Haustöchterlein, das seinen heimlichen Liebsten darunter weiß. Dagegen sieht es der Hausvater nicht gern, wenn Dienstboten in fremde Häuser zum Heimgarten gehen, weil er sich vor dem Dorfklatsch fürchtet. Die im Chore gesungenen Volkslieder und frischen Jodler füllen die Gesprächpausen angenehm aus und klingen prächtig in die sternklare Sommernacht hinaus. Oft sitzen auf den grünen Rasen des Hofes oder Angers ganze Scharen. Besonders gelenkige Burschen tun sich nicht ungern mit Radschlagen und "Baumstellen" hervor. Manchmal bringt einer eine Zither mit und spielt einen taktfesten Ländler, der das junge Volk zum Dreischritt in die Stube lockt. Der Tanz bleibt ja immer die Krone des Vergnügens. Doch geschieht dies noch öfter zur Winterszeit.

Wenn die Abende allmählich kühler und länger werden und regnerisches Herbstwetter eintritt, so zieht sich der Heimgarten nach und nach ins Haus zurück und zwar vorerst in die Küche, wo das Herdfeuer lustig flackert und eine angenehme Wärme verbreitet. Den großen Herd trennt auf einer Seite ein schmaler Raum von der Wand, an der eine Bank angebracht ist. Wenn diese nicht für alle genügt, so setzt man sich auf die große Hennensteige an der Rückseite des Herdes. Die helle Reisigflamme taugt ebenso bequem zum Wärmen als zum Anbrennen des Spanes, mit dem man den nassen Rolltabak in der Pfeife zum Glimmen bringt. Ein gar mühevolles Geschäft! aber der vorjährige "Saltzügler" (selbstgezogener Tabak) ist leider ausgegangen und der heurige noch nicht dürr. Durch das allgemeine Beispiel ermutigt, wagt es auch der kleine Sohn des Hauses, mit seinem "selbstzusammengebastelten" (geschnitzten) Pfeifchen herauszurücken; schüchtern kauert er sich in eine Ecke oder schmiegt sich an den Nachbar an, indem er ängstlich nach dem strengen Vater hinüberschielt, ob der nicht etwa ein Verbot einlege. Wendet dieser nichts dagegen ein, so wird der Bub bald kecker und gibt durch fortgesetzte vergebliche Anzündungsversuche zu verstehen, daß kein Tabak in seiner Pfeife sei. Die Mutter und das übrige weibliche Hausgesinde hantiert daneben in der Küche und mischt sich dann und wann in das Gespräch. Gar zu lange bleibt man indes selten, sondern sucht ziemlich zeitig die Lagerstätten. Etwas anderes ist es, wenn einmal die Übergangszeit vorbei und mit der weißen Schneedecke, die Wald und Feld überzieht, ordentlich Winter geworden ist. Von Michaeli (29. September) an beginnt das Spinnen der Dirnen und von nun an schnurren die langen Abendstunden hindurch in jeder Stube die Räder. Damit ist die "Wintersaison" des Heimgartens eröffnet.

Ein Dorf zur Winterszeit oder gar ein Einzelhof dünkt uns Städtern der Inbegriff der Verlassenheit. Die Sache ist aber gar nicht so schlimm. Könnten wir nur abends durch die dichtverschlossenen Scheiben schauen, so würden wir staunen, welch ein gemütliches Leben sich drinnen entwickelt. Die ganze Stube ist voll von Leuten. Das Weibervolk sitzt auf den Bänken und Stühlen herum und spinnt, am Tische karten ein paar Burschen und erheben ein Halloh, wenn der Eine "Rams gegangen" und ein großes Kreuz mit Kreide aufgemalt kriegt oder der Andere eine Hand voll Nüsse gewinnt. Das ist das sogenannte "Nussenauskarten", ein beliebter winterlicher Zeitvertreib. Ein dritter stämmiger Bursche hockt auf der Bank und unterhält die Weibsleute mit allerlei Schnurren und Scherzen, daß sie von Zeit zu Zeit laut auflachen müssen. Eigentlich hat er es auf die frische Dirne dort abgesehen, die ganz still und allein in der Ecke spinnt. Der Oberknecht aber liegt ausgestreckt und die Arme unter dem Kopfe auf der Ofenbank und faulenzt, als ob es keine Arbeit mehr auf der Welt gäbe. In der Tat haben auch die Männer außer dem Versorgen des Viehes und dem allerdings sehr beschwerlichen Holz- und Heuziehen in den Bergtälern im Winter fast nichts zu tun.

Nur ein Geschäft bleibt für die Abende, womit sich gemächlich eine Reihe derselben ausfüllen läßt, nämlich das "Türkenabribbeln" oder "Türkenabmachen". Es geschieht dies auf zweierlei Art: der Arbeitende sitzt auf einem niedrigen Schemel und hat ein Stargefäß mit einem darüber genagelten Eisenstab vor sich; an diesem werden die Maiskolben, die in einem Korbe daneben stehen, gerieben, daß die losgebrochenen Körner in das Gefäß fallen. Oft benutzt man dazu auch ein Holzstück von einem Drittelmeter Länge und 7 - 8 Zentimeter Breite, das mit vielen eisernen Zähnen versehen ist. Dieses wird im schiefen Winkel in das Stargefäß gestellt, die Kolben an beiden Enden gepackt und so abgerieben. Die letztere Art des "Abmachens" kommt häufiger bei Leuten vor, welche weniger Türken und daher auch weniger Stargefäße haben, da man solche mit den Eisenstäben zum Messen nicht gebrauchen kann. Daneben ist gewöhnlich einer der Burschen oder Knechte mit "Hülsenzupfen" beschäftigt, d. h. er zieht die Hülsen (Flitschen) von den Maiskolben weg und gibt letztere dann dem Zweiten zum "Abribbeln". Diese Arbeit kostet größere Anstrengung als die eben beschriebene erste, aber doch nicht so viel, daß der Betreffende nicht mitplaudern könnte.

Mehr Aufmerksamkeit erfordert schon die Arbeit des weiblichen Teiles, damit der fein gedrehte Faden säuberlich in die Spule fließe. Die zartflockigen Flachswickel, die den Schatz des Hauses an "schneeigem Lein" ahnen lassen, und das sanfte Schnurren der Räder hat immer etwas Poetisches und es darf uns nicht wundern, daß die Sage ihre lieblichsten Blütenranken darum geschlungen. Wir meinen die Sage von den "saligen Fräulein", welche Flachsbau, Gespinnst und Spinnerinnen segneten und beschützten und den fleißigen Spinnerinnen, zu denen sie in den Heimgarten kamen, Garnknäuel, die nie abnahmen, als Belohnung hinterließen.

Solch ein überirdischer Besuch und solcher Segen wird in jetziger Zeit freilich keinem Hause mehr zu teil, obwohl man überall mit gewisser Pietät an dem Gebrauche hängt, vorzüglich im Oberinntal, wo an manchen Orten der Heimgarten geregelt ist, wie die "Stubete" der Vorarlberger und Schweizer. Er gewinnt in dieser Gegend ein eigentümlich gemütliches Gepräge durch das Kaminfeuer, welches in der Stube brennend erhalten wird und das, weil es die einzige Leuchte ist, welche den Raum erhellt, den Mittelpunkt des Halbkreises bildet. An der Wand neben dem Ofen ist nämlich ein Eisenrost eingelassen, worauf man kleingespaltene Stücke Kranewitholz (Wacholder) legt, welche beim Brennen nicht belästigend rauchen, wohl aber einen angenehmen Geruch verbreiten. Dies ist nicht der kleinste Vorteil, denn aus der Glühhitze des Ofens, an dem oft die schneefeuchten Lodenjoppen der Gäste zum Trocknen hängen, verbunden mit dem Tabakqualm und der Ausdünstung so vieler Menschen entsteht nachgerade eine so dumpfe Luft, daß sie für andere als für Bauernnasen geradezu unerträglich sein würde. Aber unsere Leute spüren nichts davon, es hindert ihre Kehlen weder am Singen lustiger Schnaderhüpfln und Lieder, noch, wenn es Zeit und Umstände mit sich bringen, am Tanzen, ob dabei auch der Schweiß von der Stirne tropft.

Die Stimmung wird von Stunde zu Stunde erhöhter, und wenn es dem Hausvater gar etwa einfällt, ein Fläschchen Schnaps zu spenden, so dient dies nur dazu, die Einbildungskraft zu beflügeln und ein Hauptvergnügen des Heimgartens zu befördern, nämlich das "Geschichtenerzählen".

Eigentlich steht dies dem "Nähndl" (Großvater) zu, der schon durch seine Lebenserfahrung ein Recht darauf hat. Er sitzt sonst still mit seiner Pfeife beim großen grünen Kachelofen; wenn man aber das Gespräch auf seine Jugend, auf die Kriegsjahre von Anno Neun lenkt, so taut er auf, sein mattes Auge glänzt und er erzählt zum hundertsten Male mit gleichem Feuer, wie sie die Feinde zum Lande hinausgejagt haben. Doch die Versammlung will etwas Neues hören und lauscht deshalb mit etwas mehr Interesse bald der Erzählung eines Senners, der sein Almleben mit allen möglichen und unmöglichen Ereignissen ausschmückt, bald den Abenteuern jenes Burschen, der bei den Kaiserjägern gedient und gar viel von der Welt gesehen hat. Am liebsten aber hört man doch immer die Hexen- und Geistergeschichten, weil man dabei, obwohl man sie nicht mehr recht glaubt, doch ein gewisses angenehm aufregendes Gruseln empfindet. Mancher besitzt ein Schilderungstalent, um welches ihn ein echter wirklicher Dichter beneiden könnte. Es gibt auch tatsächlich solche unter dem Volke, wandernde Leute, die als "Geschichtenerzähler" von Dorf zu Dorf gehen und so ihren Unterhalt finden. Ein solcher Gast verleiht selbstverständlich dem Heimgarten einen besonderen Reiz.

Es sind seltsame Gestalten, wettergebräunt und etwas zerlumpt wie es das Wanderleben mit sich bringt, aber mit einem den Bauern Achtung einflößenden geistigen Ausdruck im Blick und in den Zügen. Oft betreiben sie zum Schein ein kleines Hausiergeschäft, um leichter Einlaß zu finden. Doch ist das nicht einmal nötig; ihr Schauspielertalent und ihre Menschenkenntnis läßt sie bald die richtigen Worte finden, um das anfängliche Mißtrauen in Teilnahme zu verwandeln, so daß man dem armen müden Manne gern Kost und Nachtlager gewählt. Besonders wissen sie sich bei der Bäuerin durch das Lob ihrer Kinder einzuschmeicheln.

Hat sich dann der Gesell an Speise und Trank gelabt, so läßt er wie unversehens ein Wort fallen von Jerusalem und dem heiligen Grabe, zu dem er gepilgert, oder von den Schlachten, in denen er als Soldat gekämpft. Dabei merkt er schon, was seine Zuhörer fesselt und fährt in diesem Gegenstande fort. Dann kommt er auf Rittergeschichten und Märchen, die gemeiniglich die allgemeinste Aufmerksamkeit erregen. Eine Geschichte reiht sich an die andere; wenn dem Erzähler je einmal der Faden ausgeht, so hilft ihm seine reiche Einbildungskraft und erdichtet schnell etwas Passendes dazu. Alles lauscht voll aufgeregten Entzückens. Der Geschichtenerzähler wird nun der Löwe des Tages, sein Ruf verbreitet sich durch das Dorf, in jedem Hause wird er eingeladen und gefeiert. Er wird oft bei dem guten Leben ganz dick und fett. Endlich nach ein paar Wochen beginnt seine Zugkraft nachzulassen und er schnürt wieder das Bündel, um in einem andern Orte sein Glück zu versuchen oder, wenn es gegen den Sommer geht, sich um irgend eine leichte Beschäftigung, Taglöhnerarbeit etc. zu schauen, da das beschriebene seltsame Gewerbe nur im Winter einträglich ist. Vorzüglich in der fröhlichen Weihnachtszeit und bei reichen Bauern sind die Geschichtenerzähler häufige Gäste.

Daß es unter solchen Umständen Mitternacht, ja selbst die ersten Morgenstunden schlägt, ohne daß jemand es merkt, ist begreiflich. "Er kann es soviel schön setzen", meinen die Leute, dann wird in der eiskalten klaren Nacht oder bei Sturm und Gestöber der Heimweg angetreten, für manche Burschen stundenweit. Dirnen kommen meist nur von der Nachbarschaft oder lassen sich begleiten. In Wenns im Oberinntal ist es der Brauch, wenn ein Mädel öfters mit ihrem Spinnrade oder Gestrick in den Heimgarten geht, daß ihr die Burschen irgendwo versteckt aufpassen und sie dann mit Schellen und Rollen auf dem weitesten Wege nach Hause begleiten. Erwischen sie aber die Dirne nicht, so ist das für die Burschen die größte Schande. Um dieser Beschämung zu entgehen, hat sich einmal, wie erzählt wird, ein Bursch als Mädchen verkleidet, mit Spinnrad und Kopftuch von seinen Kameraden durch's Dorf Gesellschaft geben lassen.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 389 - 396.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Isabella Richrath, Oktober 2005.
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