3. Die Kirchfahrt.

Der alte fromme Brauch der Wallfahrten ist in Tirol noch sehr im Schwange. Die Anlässe dazu sind verschieden, wie am besten eine Musterung der wunderlichen Votivtafeln und Wachsfiguren zeigt, die an besuchten Wallfahrtsorten aufgehängt sind. Meistens ist es ein Anliegen, für das man durch die auf weitem beschwerlichen Wege ausgestandenen Mühen und das Gebet vor dem Gnadenbilde Hilfe hofft, z. B. bei Krankheiten der Menschen und des Viehes, bei Mißwuchs, unglücklicher Ehe, Unfruchtbarkeit, kurz in allen leiblichen und geistigen Nöten. Oft tut man in schwerer Zeit das Gelübde, bei glücklichem Ausgange eine Wallfahrt zu unternehmen, die man sodann gewissenhaft ausführt, oder es ist freiwilliger Dank für besonderen himmlischen Segen. Wenn z. B. eine drohende Gefahr, ein Hagelwetter, die schwere Krankheit eines Hausgenossen, eine Geburt u. dgl. glücklich vorbeigegangen, wenn ein wertvolles Stück Vieh geheilt worden oder wenn es eine reiche Ernte gegeben, so beschließt man eine Wallfahrt zu "unserer Lieben Frau" von Absam oder von Trens oder zu einer andern "vürnehmen" Muttergottes.

Jedes Alpenland besitzt ja mehrere berühmte Wallfahrtsorte. So hat Kärnten das Glocknerbehütete Heiligenblut, den Ursula-Magdalena- und Luschariberg, Steiermark das berühmte Maria-Zell, die Schweiz ihr Maria-Einsiedeln. Am meisten ist selbstverständlich Tirol mit Wallfahrtsorten gesegnet, deren es eine ganze Unzahl gibt. Fast jedes Tal weist deren eine oder mehrere auf. Ich erinnere nur außer den genannten an Eben, Absam, Georgenberg, Mariastein, Judenstein im Unterinntal, Kronburg und Kaltenbrunn im Oberinntal, Waldrast und Säben- im Wipp- und Eisaktal, an das hochgelegene Weißenstein am Fuße des Jochgrimm im Etschtal, an Tschars in Vinschgau, St. Martin in Passeier u. s. w. Die meisten dieser besuchten Zufluchtsorte sind Maria geweiht.

Man denkt sich die betreffenden Gnadenbilder ganz persönlich und unterscheidet förmliche "Muttergottesinstanzen". Wenn diese nicht hilft, so wandert man zu einer andern, die noch "höher" ist, d. h. noch mehr Wunder aufzuweisen hat. Man wallfahrtet aber auch zu "unserm Herrn im Elend", "zum heiligen Blut" und zu verschiedenen Heiligen, deren "heiliger Leib" - Gerippe in Gold und Edelsteine gefaßt - in einem Glasschrein auf dem Altare steht. Der Bauer wählt sich gern einen besonderen Schutzpatron oder "eine Muttergottes", die er vor allen andern verehrt, weil er meint, es sei, wie bei den irdischen, auch bei den himmlischen Gönnern besser, einem seine vorzügliche Huldigung zu erweisen, als bei allen "herumzuscherwenzeln". So war auf einem Altarblatt der Kirche in Untermais bei Meran zu lesen: "O heiliger St. Leonhard, Du großer Viehpatron, bitt' für uns arme Maiser!"

Zur Wallfahrt wählt man meistens Feiertage, wenn möglich zwei oder mehrere zusammentreffende, was bei den vielen Bauernfeiertagen nicht schwer ist, so z. B. Pfingsten, Jakobi, Frauentage u. s. w. Man schnürt also sein Päckchen - Packla nennt es der Oberinntaler - ein farbiges Baumwolltüchlein, in dem sich mancherlei Wegzehrung befindet: "Brennig" (Brennmehl) zu Brennsuppe, Brot und Schmalz, manchmal auch Butter und Käse, geselchtes Schweinfleisch "Birnzelten". Wäsche hält man für überflüssig, da man nur wenige Tage ausbleibt; Geld braucht man, weil man Zehrung mit sich führt, nur sehr wenig. In grauer Morgenfrühe wird aufgebrochen. Mancher Mann und manches Weib pilgert, den Rosenkranz in der Hand, ganz allein. Wer kennt nicht das weitverbreitete Pinzgauerliedchen:

"Bettlweibl will kirchfahrten gehn.
Hei Juhsee!
Bettelmann! will aa' mitgehn,
Heirrasa, Hopsasa, Heidideldumde."

Lieber aber hat man größere Gesellschaft, oft gehen ganze Familien zusammen. Zwar mit unterhaltendem Gespräch ist es nichts; es gilt ja einen Weg der Frömmigkeit und Buße zu machen. Deshalb wird unterwegs der Rosenkranz gebetet, einer oder gar mehrere oder gar ein paar endlose Psalter (ein Psalter enthält drei Rosenkränze), so daß die Zunge am Gaumen klebt. Da betet sich's doch abwechselnd besser; je länger man schon gegangen, desto gedankenloser leiert die Lippe die Worte herab. Fromme Seelen sind erfinderisch in Werken der Abtötung. Als besonders verdienstlich wird das Gelübde gerühmt, Erbsen in die Schuhe zu legen, was aber wohl niemand zustande bringen wird, der es nicht machen will wie jenes pfiffige Weib, von dem der Volkswitz erzählt, daß sie die Erbsen zuvor - gesotten habe.

Die Oberinntaler benützen auf ihren Wallfahrten ins Unterland gewöhnlich die Flösse auf dem Inn, die sie bei Mötz oder Telfs besteigen. "Bist oo' (auch) af'n Fleaßle ocha g'rutscht?" ruft einer dem anderen zu, wenn sie sich irgendwo treffen. Untertags lebt man von Brot, Butter, Käse und Wasser, abends findet man Küche und Nachtlager bei freundlichen Bauern. Man schläft auf dem Heu, Männer und Weiber, Buben und Mädeln zwanglos neben einander. In der Frühe geht es wieder weiter. Zu den oben erwähnten Festzeiten kann man auf Landstraßen und Wegen häufig solchen Wallfahrern begegnen, einzelnen und ganzen Zügen, Am öftesten sieht man ältere Weibspersonen. Diese wallfahrten nämlich selten für eigenes Seelenheil, als für andere. Denn wer selbst nicht Muße und Gelegenheit zu einem solchen Bußgang hat, und doch die Gnaden desselben nicht missen will, betraut eine andere Person damit und zahlt ihr für Gebet und Mühe einen entsprechenden Lohn. Meistens geben sich ältere Weibsleute dazu her, die keine dauernde Beschäftigung haben. Ich kannte eine, die sogenannte Wallfahrtskathl, die stand sich ganz gut dabei. -

Es gibt ein eigenartiges Bild, wenn so ein Wallfahrtszug an uns vorüberzieht. Ein jedes trägt ein Päcklein an dem Arme oder den Ranzen auf dem Rücken, die Gesichter sind meist schweißgebadet, die bloßen Füße staubbedeckt und wund, so daß ein altes Mütterchen, das hinterdrein hinkt, fast nicht mehr nachkommen kann. Dennoch beten alle mit lauter Stimme ihr: "Gegrüßt seist Du Maria". Hermann von Gilm hat in einem Gedichte mit wenigen Strichen ein treffliches Genrebildchen eines solchen Wallfahrerzuges entworfen:

Berg hinan die Waller klimmen
Zu der Jungfrau voller Gnaden,
Zu den Geigen der Cicaden
Singen laute Männerstimmen:

"Wende Jungfrau die Gefahren
Ab von uns und unsern Herden
Und laß unsre Kinder werden
Stark wie unsre Väter waren."

"Unser Reichtum liegt im Freien,
Liegt nicht unter Schloß und Riegel,
Laß das Gras auf Berg und Hügel
Und das Korn im Tal gedeihen."

"Laß auch nicht in fremde Hände
Fallen unsres Landes Krone
Und erfleh' von Deinem Sohne
Allen uns ein selig Ende."

Noch interessanter und malerischer sind die Wallfahrerzüge in Kärnten und Steiermark, besonders wenn slovenische Pilgerscharen in ihrer bunten Tracht und mit ihren tiefergreifenden wohllautenden Chorgesängen zu den berühmten Wallfahrtsorten z. B. Ursulaberg und Luschariberg ziehen.

Gelangen die Wallfahrer endlich an's Ziel, dann stärken sie sich von der Reise und verrichten vor dem Gnadenbilde ihre Andacht, zu der gewöhnlich auch eine Generalbeichte gehört. Sie müssen daher zur Kommunion bis zum Morgen des folgenden Tages bleiben.

Hat die Wallfahrt Erfolg, so ist es Sitte, zum dankbaren Gedächtnis an das erhörte Gebet eine Ex voto-Tafel oder ein Bildwerk, kurz ein auf die Rettung bezügliches Denkzeichen aufzuhängen. Der von einem Fußleiden Geheilte opfert eine Krücke, der Bauer, dem sein erkranktes Vieh gesundete, hängt eine Pferd- oder Kuhfigur aus rotem Wachs an die Wand, da baumeln zwei wächserne Wickelkinder, dort ein hochrotes, feuersprühendes Herz, das ein erhörtes liebendes Mädchen geopfert; immerhin sind oft solche Wallfahrtsorte wahre Museen der wunderlichsten Art und bieten besonders dem Trachtensammler und Sittenforscher viel Anregung. So findet man auch häufig wächserne Kröten aufgehängt. Solche rühren von geheilten hysterischen Bauernweibern her. Man denkt sich nämlich allgemein im Volke die Gebärmutter als Kröte, die oft bis zum Hals herauf steige. Zum Danke für erfahrene Heilung wird dann das Andenken geopfert. 1)

1) Man vergleiche über diesen Gegenstand das treffliche Wert von Richard Andree:Votive und Weihegaben des katholischen Volks.

Zum Schluß mag noch als Seltsamkeit bemerkt werden, daß sich auch Votivbilder von Tieren mit darauf bezüglichen Inschriften finden, wobei die vierbeinigen Spender selbstredend eingeführt werden. So heißt es auf einem Votivbild, das sich auf dem Blasienberg bei Völs befindet, wörtlich: "Uns Beiden (nämlich Kuh und Kalb) ist durch die Fürbitte des hl. Blasius geholfen worden."

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 406 - 411.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Isabella Richrath, Oktober 2005.
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