Winterbilder
1. Der Winter in den Alpen.

Vom Winter in den Alpen hat der Flachländer meist eine irrige Vorstellung. Er denkt sich, ist dieser unwirsche Geselle schon in der Ebene ungemütlich, wie wird er sich erst in diesen hochgelegenen Gebirgstälern geberden. Und doch ist das gerade Gegenteil der Fall. In den Alpen tritt der Winter, wenn man von der großen Schneemenge in tieferen Seitenwinkeln absieht, in der Regel viel milder auf, als in der Ebene. Vor allem haben die rauhen Nord- und Nordostwinde, welche die Temperatur herabdrücken, mit dem Gefolge gefährlicher Schneeverwehungen wegen der schützenden Bergflanken weitaus nicht jenen freien Zutritt, wie im offenen Flachland. Dies gilt besonders von jenen Tälern, die von Ost nach West streichen, also durch die nördliche Bergwand gedeckt sind, während ihnen der durch die Quertäler einfallende Südwind Wärme zuführt. Im Inntal z. B. ist oft monatelang milder, sonniger Himmel bei geringer Schneemenge, so daß man sich fast sommerlich angemutet fühlt.

Dies tritt beinahe regelmäßig ein, wenn der sogenannte "Alteweiber-" oder "Katharinensommer" später einfällt und der Föhn den ersten Schnee der Oktobertage bis hart an die Kämme der Berge "weggeputzt" hat. Da ereignet es sich dann wohl, daß man sich bis Neujahr, ja bis Dreikönig, einer milden Witterung erfreut und wenigstens über das erste Drittel des bösen Winters glücklich hinauskommt. So hatte ganz Tirol und das Salzkammergut im Dezember 1894 bis nahe zu den Weihnachtstagen ununterbrochen warmen Sonnenschein, daß die Leute in den Herbstkleidern herumgingen und man auf dem Mittelgebirge die Bauern in Hemdärmeln vor der Haustüre sitzen sehen konnte. An den schneefreien Lehnen blühten Eriken und Anemonen und auf Wegen und Rainen flogen Mücken und Bienen.

Solche "seidene" Winter, wie sie das Volk nennt, sind in den Alpen keine Seltenheit. Überhaupt weist der alpine Winter langandauernde Zeiträume schöner Witterung auf. Es ist dies eine Folge des hohen Luftdruckes, der um diese Jahreszeit meist über den Gebirgsländern liegt.

Damit hängt auch eine jährlich eintretende Erscheinung zusammen, die wir im Vorbeigehen kurz erwähnen wollen. In der Höhe, oft schon hundert Meter oder sogar weniger über der Talsohle, ist erfahrungsgemäß die Temperatur in der ersten Hälfte des Winters viel milder als unten. Zweifellos findet man deshalb die ältesten Ansiedlungen in den Alpen auf den Mittelgebirgsterrassen, wie denn auch die alten Straßenzüge über die Höhen führen. Erst um Lichtmeß "zieht die Kälte hinauf", aber dann hat auch bereits die Sonne größere Kraft. Die Meteorologen nennen dies "Umkehrung der Temperatur" und erklären es, wie mich Professor J. Pernter, der frühere akademische "Wettermacher" in Innsbruck freundlich belehrte, so: Infolge des höchsten Luftdruckes, der in den Wintermonaten, besonders nach starken Schneefällen, über den Gebirgsländern sich entwickelt, herrscht in solchen Gebieten völlige Windstille und oben stets klarer Himmel, so daß durch die andauernde und unbehinderte Ausstrahlung die Erde sehr stark erkaltet. Gleichzeitig haben aber die Untersuchungen ergeben, daß in diesen Gebieten höchsten Luftdruckes die Luft niedersinkt, an den Berglehnen herabgleitet und sich dadurch erwärmt. Unten im Tale angekommen, bleibt sie liegen und erkaltet an der kalten Bodenfläche und durch die andauernde Ausstrahlung. Daher ist es an der Talsohle kalt, ja sehr kalt, und an den Berghängen hinauf mild.

Der Älpler unterscheidet "apere", das heißt schneearme Winter, also solche, die dem Boden nur eine zeitweilige und ungenügende Schneedecke geben, und "strenge" oder "harte", welche sich durch reichlichen Schneefall und große Kälte auszeichnen. Die "aperen" Winter liebt er nicht; besonders wenn sie warm und naß sind.

Ist der Winter warm,
Daß Gott erbarm'!
oder: Wird der Bauer arm.

Deshalb scheut er auch das frühe Eintreten des Winters, weil dann gewöhnlich ein schneearmer nachhinkt. Den Spätherbst hat er noch gern mild und warm, aber wenn es einmal gegen Kathrein (25. November) und gegen den Advent geht, da soll es "fest einschneien" und kalt werden. Denn gefriert der Boden nicht, so haben die Feldmäuse Kirchtag. Ebenso braucht der Bauer ergiebigen Schneefall, nicht nur als Schutz für die Wintersaat und zur Gewinnung der nötigen Bodenfeuchtigkeit, sondern auch zur Herabschaffung des Bergholzes, Alpendüngers und Bergheues, welche notwendige Verrichtungen nur mittels Schlitten möglich sind.

Zwar die beiden ersteren Arbeiten können ärgstenfalls auch im Nachwinter vorgenommen werden, aber die Herabschaffung des Bergheues kann nicht warten. Denn der Heuvorrat geht im Dezember gemeiniglich auf die Neige oder, richtiger gesagt, das "Milchvieh" kann dann nur mehr "einbar", das heißt mit Fettheu, das vom gedüngten Talboden stammt, gefüttert werden, während um diese Zeit die Mischfütterung aus letzterem und "magerem" oder Alpenheu eintreten soll. Bei mangelndem Schnee muß dieses daher auf Kraxen oft unter Lebensgefahr von den steilen Bergmähdern herabgeschafft werden.

Solche "apere" Winter werden aber geradezu verhängnisvoll, wenn bei fehlender Schneedecke langandauernde trockene Kälte meist mit beißendem Nordost- oder Nordwestwind eintritt, wie dieses z. B. fast durch drei Jahre (1894-1896) in Pustertal und im übrigen Südtirol der Fall war. Darunter leidet Alpe wie Talboden, Norden wie Süden. Auf den Almen und Bergmähdern gefriert der Boden zu stark, so daß im Frühjahr der Graswuchs sich zu spät entwickelt und nur spärlich ausfällt; unten im Tale aber stirbt die Wintersaat ab, weil sie des Schneeschutzes gegen Frost und Kälte entbehrt, während in den Weingärten des Südens "der Rebsterb" die Stöcke zugrunde richtet. Die Dorf- und Hausbrunnen frieren ab und das Wasser für "Vieh und Leut" muß täglich oft halbe Stunden weit auf vereisten Wegen Herbeigetragen werden. Auch der Gesundheit sind solche trockenkalte Winter bei mangelnder Schneedecke äußerst schädlich. Entzündungskrankheiten mit raschem tödlichen Verlauf sind eine häufige Erscheinung.

Den Gegensatz zu den "aperen" oder schneearmen Wintern bilden die "strengen" oder "harten", welche sich durch außerordentliche, das gewöhnliche Maß überschreitende Schneemengen, häufig verbunden mit großer Kälte, kennzeichnen. Sie halten den ersteren ziemlich die Wage, nur sind sie vom Älpler weniger gefürchtet, da sie meist ohne böse Folgen verlaufen. Größeren Schaden richten sie nur an, wenn die Schneemenge eine so gewaltige ist, daß sie in der Talsohle Verkehrsstörungen aller Art verursacht, oder sich das Einschneiungsgebiet so weit über die gewöhnliche Grenze nach Süden hinab erstreckt, daß es den Obst- und Weinpflanzungen schadet. Da leiden an erster Stelle die Kastanienwälder, in denen die Schneelast die dicksten Äste abbricht, ebenso die Mandel-, Zitronen-, Pfirsich- und Pflaumenbäume. Auch die "Pergeln" (Rebenlauben) werden geschädigt und die Weinbauten in den Bergfeldern arg mitgenommen. Von einer andern Folge besonders außergewöhnlicher Schneefälle, nämlich von den Lawinen, habe ich bereits an anderer Stelle ausführlich gesprochen 1) und hiebei in die durchaus irrigen Vorstellungen, welche über die Entstehung und die Arten dieser furchtbaren Naturerscheinung bis in neueste Zeit selbst in Fachkreisen herrschten, einige Klarheit zu bringen gesucht.

Die Häufigkeit und Stärke des Schneefalles ist ähnlich wie beim Regen in den Alpen nicht überall dieselbe. Es gibt Täler, in denen durchschnittlich mehr Schnee fällt als in anderen, ja im selben Tale ist oft eine bedeutende Verschiedenheit. Im Unterinntal z. B. ist der Schneefall stets ein größerer als im Mittel- und Oberinntal. Schneebedachte Gebiete sind unter anderm das Salzkammergut, besonders der Talkessel von Aussee, ferner Pustertal und Kärnten mit den südlichen Tauerntälern. So wirft es in der Prettau und im Mölltal oft in einer Nacht einen meterhohen Schnee. Dasselbe gilt von Damüls im Hinteren Bregenzerwald. Da liegt infolge wiederholter Schneefälle der Schnee selbst in regelrechten Wintern fünf bis sechs Meter hoch. Ein Schneewinkel ersten Ranges ist auch der hinterste Teil des Klostertales. Wenn nun schon in gewöhnlichen Jahren die Schneemenge eine so bedeutende ist, dann kann man sich einen Begriff machen, wie es in den außergewöhnlichen Wintern aussieht.

Solche übergroße Schneefälle waren im letzten Jahrhundert im Winter 1817, 1867, 1874, 1876 und besonders 1888. Der letztgenannte übertraf bekanntlich an Stärke und Ausdehnung des Einschneiungsgebietes alle bisher bekannten. Ja selbst der berüchtigte Winter von 1817, zu dessen Gedächtnis am Wege zum Ausseer Salzberg eine Kapelle mit der Marke gebaut ist, brachte es nicht zu so außerordentlicher Schneedecke. Im Pustertale sah man auf den Bergwiesen die Heuschuppen nicht mehr und an manchen Orten reichte der Schnee bis zu den "Dachtraufen" der Hausdächer. In Stuben am westlichen Abhang des Arlberges guckten am 14. Februar 1888 nur mehr die Dächer aus den Schneemassen hervor und selbst die Kirche stand bis zur Hälfte der gotischen Fenster im Schnee, ja im Jahre 1892 reichte er sogar über die Spitzbögen derselben, so daß man einen Tunnel zur Kirchentüre bauen mußte und die Leute sagten, die Kirche wäre dunkel wie am Karfreitag.

In solchen regelwidrigen Wintern spielt natürlich das vom Wind bewirkte sogenannte "Schneetreiben", das sich gewöhnlich unmittelbar nach starken Schneefällen einstellt und die bekannten Schneeverwehungen verursacht, auch eine sehr ins Gewicht fallende Rolle. Daß solche Verwehungen nicht nur einzelne Berggehöfte, sondern ganze Täler auf einige Zeit von jeglichem Verkehr absperren können, ließe sich im obengenannten Stuben oft genug erproben. Auch Aussee war im Jahre 1888 durch Schneemassen auf einige Zeit vollständig eingemauert und konnte nur durch fast übermenschliche Anstrengungen eröffnet werden.

Noch schmieriger geht natürlich die Herstellung der Verbindung mit hochgelegenen Einzelgehöften. Sind dieselben auch meist mit dem Notwendigsten, Brot, Mehl, Butter und Schmalz, versehen, so können doch bei ärmeren Familien bei zu langer Abschließung Fälle vorkommen, wo man ihnen unter Lebensgefahr Unterhalt zutragen muß. Da ist die Aufopferung der Talleute dann wirklich oft rührend. So wurden im Jahre 1888 einer abgesperrten dürftigen Familie mit sechs Kindern, die hoch oben über Kirchberg auf Faschina (zwischen dem Bregenzerwald und dem Großen Walsertal) vereinsamt wohnte, von fünfzehn wackeren Männern erstgenannten Ortes unter beständiger Lawinengefahr Nahrungsmittel und andere Stärkung zugetragen. Es war auch höchste Zeit, denn der Mundvorrat hätte kaum mehr auf zwei Tage gereicht. Ehre diesen braven Vorarlbergern!

Wochenlange Absperrung der Gehöfte in tieferen "Tobeln" kommt übrigens auch in normalen Wintern vor. Da ist es für die Eingesperrten dann freilich schwer, in die Kirche zu gelangen, falls nicht Frost eintritt und den Schnee tragend macht. Die Leute kommen oft nur mit Lebensgefahr zum sonntäglichen Gottesdienst und müssen froh sein, wenn sie mit heiler Haut wieder zu Hause eingetroffen sind. Ereignete es sich doch vor einigen Jahren, daß die Bewohner von Kühtai nach dem kaum zwei Stunden weit entfernten Ochsengarten "kirchen" gingen und ihnen der Rückweg durch volle acht Tage versperrt war. So hatte Schneegestöber und Verwehung innerhalb einer Stunde die Strecke unpassierbar gemacht.

Schlimmer ist es noch, wenn eine schwere Erkrankung eintritt oder ein Sterbender nach einem Geistlichen verlangt. Kommt ein Eilbote von einem noch so weit entlegenen Berghofe, so macht sich der Priester trotz Kälte, Schneegestöber und Lawinengefahr sofort auf den Weg. Liegt tiefer Schnee, so gehen meist fünf bis sechs Leute als Wegmacher mit. Trotzdem ist schon mancher Seelenhirt bis über den Kopf eingesunken, so daß nur mehr die zwei Arme mit der "Wegzehrung" aus dem Schnee herausschauten. Stirbt in so schwer zugänglichen Orten jemand, so bleibt die Leiche oft wochen- und monatelang gefroren liegen, oder wird zum Gelieren "unter's Dach" gegeben, bis der Weg die Übertragung ermöglicht. Das war früher in jenen Tälern allgemein der Fall, deren zuständige Pfarrei jenseits des Joches lag. Da überwinterte regelmäßig die Leiche auf dem Dachboden. So geschah es z. B., ehe diese kirchlichen Verhältnisse geordnet waren, in Hinterdux, das früher zur Pfarre Matrei gehörte, so in Pfelders, das bis zu Kaiser Josefs Zeiten seelsorglich nach St. Peter bei Tirol, so in Vilnös, das bis zum Ende des 14. Jahrhunderts nach Albeins eingepfarrt war. Jetzt, da die Verkehrswege vielfach gebessert sind, ist auch der oben erwähnte Brauch, die Leiche gefrieren zu lassen, ziemlich eingeschränkt, besonders in regelrechten Wintern, die, gottlob, in den Alpen die regelwidrigen, mögen sie nun "apere" oder "strenge" sein, an Zahl weit überwiegen.

1) Vergl. das Tiroler Bauernjahr. 2. Ausg. S. 158 ff.

Quelle: Ludwig von Hörmann, Tiroler Volksleben, Stuttgart 1909. S. 252 - 259.