4. Zillerthal und Tux.

Das Zillerthal, welches sich in geringer Entfernung von Brixlegg bei dem Dorfe Straß öffnet, ist unstreitig diejenige Gegend Tirols, welche schon lange vorher, ehe man von einem Reisezug dahin sprechen konnte, draußen "in der Welt" bekannt und viel besprochen war. Das hat allerdings seinen Grund in der angenehmen Zugänglichkeit und dem besondern Charakter seiner Landschaft, welcher Größe mit Anmuth in höchst glücklicher Weise verbindet; es läßt sich wohl aber auch dadurch erklären, daß die Zillerthaler es vor Allen waren, welche von eigenthümlicher Wanderlust getrieben, viele Länder durchreisten und dadurch die Bekanntschaft mit Tirol vermittelten, so daß sie lange Zeit geradezu als dessen eigentliche Typen und Vertreter galten.

Land und Leute sind auch dazu angethan, besondere Anziehungskraft auszuüben.

BILD!

Um zuvörderst von Ersterem zu sprechen, so macht schon der Eintritt einen sehr gefälligen Eindruck. Das Thal - wohl das größte, das sich vom Unterinnthal - abzweigt ist von ansehnlicher Breite und zeigt eine vom Zillerbache (der beinahe den Namen eines Flusses verdient, weil er schiffbar ist) in gefälligen Windungen durchströmte Ebene, zu deren beiden Seiten sanfte Mittelhöhen ansteigen, um dann von den eigentlichen hohen Gebirgen überragt zu werden, welche auch den ganzen Hintergrund des Thales schließen und abrunden. Die Berge sind bis an ihre eisschimmernden Häupter hinan reich bewaldet, die Thalsohle aber ist ein fruchtbares Gebiet, mit Saatfeldern, Wiesen und Gärten bedeckt, zwischen denen sich manchmal graugrüne Erlengebüsche wie matte Rahmen oder Bandstreifen hinzieht. Ebene, Mittel- und Hochgebirge vereinigen ihre Reize zu einem Ganzen von vollkommener Harmonie; - da ist überall Lebensfülle und Jugendkraft, überall Heiterkeit und idyllische Anmuth: kein Muhrbach, kein Bergritz, lein öder Fels starrt dem Auge unfreundlich entgegen. Ueberdieß ist das Klima das mildeste im ganzen nördlichen Tirol und läßt alle Früchte, selbst den Mais zu vollkommener Reife kommen; es ist daher wohl zu erklären, daß das Zillerthal früher ziemlich allgemein das "Salzburgische Tempe" genannt wurde. - Das Beiwort stammt davon her, weil das Thal, obwohl rings von Tirol umschlossen und also geographisch recht eigentlich zu demselben gehörig, doch viele Jahrhunderte dem Erzstifte Salzburg zugetheilt war und erst im Jahre 1816 förmlich mit Tirol vereinigt wurde.

Wenn irgend etwas an der landschaftlichen Schönheit auszusetzen ist, so ist es auf der ziemlich langen Strecke von Fügen bis Zell ein gewisser Grad von Eintönigkeit, der wohl zu ermüden vermag; - dafür bietet der zweite, innere Theil bei Zell und hinein bis Mayrhofen desto größere Abwechslung. - Dem Wohnorte entspricht auch Gestalt und Wesen des daselbst heimischen Menschenschlages. Körperlich außerordentlich wohlgebaut, häufig sogar schön, ist der Zillerthaler von aufgeweckter Gemüthsart, heiter und lebensluftig, dabei unternehmend, gewandt und anstellig. "Nirgends," sagt der wackere Staffler, der kundige Beschreiber seines Volkes, "nirgends liebt man so sehr die Geselligkeit und den Heimgarten, Scherz und Gesang; nirgends ist die Tanzlust so rege und nirgends werden die Volksfeste, die Hochzeiten, die Kirchtage so laut und lebendig gefeiert als im Zillerthal. Dabei sind die Leute phantasiereich, verständig und, wie man zu sagen pflegt, pfiffig." Wohl nirgends ist das Zitherspiel und das Singen jener kleinen vierzeiligen Liedchen, "Schnaderhüpfeln" genannt, so heimisch wie hier: vom Augenblick geboren und jeden Augenblick bereit, in Schimpf und Scherz bei irgend einem Anlaß aufzusummen, wie lustige Eintagsfliegen. Ein Grundzug im Wesen dieser Leute ist die große Zähigkeit, womit sie an etwas einmal Erfaßtem festhalten, etwas einmal Unternommenes durchführen. Ein Beispiel gibt die in den dreißiger Jahren erfolgte Auswanderung von etwa vierhundert Zillerthalern, welche von selbst, in aller Stille und ohne äußere Anregung, sich in das Lesen der Bibel und in protestantische Religionsanschauungen so sehr vertieft hatten, daß sie, als ihnen der Kaiser und der Innsbrucker Landtag die Wahl ließ, entweder wieder katholisch zu werden oder auszuwandern, lieber Haus und Hof verkauften und die Heimat verließen, um die neue von Preußen in Schlesien angebotene und auch eingeräumte zu beziehen. Viele davon waren in dem kleinen Dörfchen Brandberg bei Mayerhofen zu Hause. Der treffliche Tirolermaler Mathias Schmid hat den Auszug einer Gruppe solcher Flüchtlinge in einem ergreifenden Gemälde dargestellt und diesem erschütternden "Letzten Blick" in die Heimat ein würdiges Denkmal gesetzt.

Der äußere Umstand, daß der Hauptnahrungszweig denn doch in dem Betrieb der Viehzucht besteht und daß das Fruchtergebniß für die zahlreiche Bevölkerung nicht ausreicht, trug und trägt ebenfalls dazu bei, ihren Unternehmungsgeist und ihre Ausdauer auf die Probe zu stellen. Sie sind dadurch schon seit geraumer Zeit genöthigt, zeitweise auf die Wanderschaft zu gehn und anderwärts theils als Arbeiter, häufiger aber als Handelsleute Erwerb und Gewinn zu suchen, mit welchem sie bei günstigem Erfolg nach Jahren in der Heimat zur Ruhe sich niederlassen. Schon zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts lernten sie von einem Salzburger Feldscherer, der sich in Zell niedergelassen hatte, die Bereitung von allerlei Geistern, Essenzen und besonders Oelen, insbesondere des Scorpion-Oels, des Theriak und Mithridat, welche sie in hölzernen Kästen auf dem Rücken weithin durch ganz Deutschland, die Schweiz, Elsaß u. s. w. hausiren trugen. Das Erträgniß war so lockend, daß jährlich ganze Schaaren, weiblich und männlich, jung und alt als Oelträger auszogen und in allen Hauptorten des Thals sich förmliche Verleger etablirten, welche von der Regierung in Pflicht genommen würden und von welchen die Händler ihren Bedarf bezogen. Die vielen gefährlichen Mißbräuche machten indessen bald Verbote und Einschränkungen nöthig und so hat sich das Oeltragen schon seit Jahrzehnten bis auf vereinzelte Spuren verloren. Ein Hauptgrund der Strenge-, mit welcher man gegen die Händler einschritt, war urkundlich der Umstand, daß sie mit dem gelösten Gelde (das im Ganzen in manchem Jahre bis zehntausend Gulden betragen haben soll) auch protestantische Bücher ins Land und unters Volk brachten.

Der unternehmende Sinn des Volks wußte übrigens bald für einen Ersatz durch andere Waaren zu sorgen: an die Stelle der Arzneien traten die selbstgewirkten Teppiche und noch mehr die Hosenträger und Handschuhe - natürlich aus Gemsleder gefertigt. Diese Händler und Händlerinnen machten einige Jahrzehnte hindurch außerordentliches Glück durch das ihnen eigene einschmeichelnde Wesen, sowie durch ihre (freilich nur zu oft erkünstelte) Natürlichkeit, vermöge deren sie Jedermann mit Du anredeten und mit anscheinender Naivetät derb treffende Reden anzubringen wußten. Namentlich an Höfen machten sie hie und da Glück und es kam so weit, daß, wie früher die Hofnarren, Tiroler als Lustigmacher angestellt wurden, was unter Kurfürst Maximilian III. noch der Titel "Churbayerischer verwittweter Hoftiroler" bezeugt, den ein gewisser Peter Prosch in Wirklichkeit geführt. Derselbe war einer der Ersten, welche den Handschuhhandel betrieben, beschrieb seinen eigenen Lebenslauf und in diesem die Fahrten, wie er sich als "kreuzfideler Tiroler-Bue, durchtriebener Spaßvogel und lustiger Hofnarr". an verschiedenen großen und kleinen Höfen herumgetrieben.

Aber auch seine besondere musikalische Begabung weiß der kluge Zillerthaler auszubeuten - dafür zeugen die wandernden Sängergesellschaften, welche das Zitherspiel, das Almenlied und den Jodler durch die ganze Welt und bis an die Höfe von London und Petersburg trugen und außer dem Reichthum auch die Anerkennung als Künstler wieder mit in die Heimat brachten. Die ersten, welche auf den glücklichen Einfall geriethen, daß die Naturwüchsigkeit ihrer Lieder wie ihre Singkunst gefallen müsse, weil die wirkliche unverfälschte Natur überall gefällt, wo sie durchzudringen vermag, war wohl die Gesellschaft Leo; den meisten und ausgedehntesten Erfolg errangen die Brüder Rainer mit Schwestern und Töchtern, welche es verstanden, das Schnaderhüpfel salonfähig zu machen, ohne dem derben Volkskinde seine Eigenthümlichkeit zu nehmen. Seitdem sind manche andere zur Konkurrenz verleitet worden, die Konkurrenz hat aber wie bei Mithridat und Handschuhen zur Fälschung und damit zum Sinken der Sache beigetragen. Denn an den komödienhaft aufgeputzten Sängern und Sängerinnen aus dem Zillerthal, die häufig noch zum Vorschein kommen, ist nicht selten so wenig Aechttirolisches, als Gemsleder an den Handschuhen ist.

Der erste größere Ort, den der Wanderer erreicht, ist das stattliche anheimelnde Dorf Fügen, am Fuße des Fügenbergs gelegen und mit einer hübschen alten Kirche und einem adeligen Schlosse als Hochpunkten zu einem angenehmen Gemälde geschlossen. Ein anderer Adels-Ansitz, nach dem Namen der ältesten Besitzer der Hackelthurm geheißen, war früher das vielbesuchte Gasthaus der erwähnten Sänger Franz und Joseph Rainer; - ein Schwiegersohn des letztern ist noch Herr des ansehnlichen Gebäudes, aber er hat das Gastgeschäft aufgegeben und ruht aus auf seinen Erinnerungen und Lorbeeren. Dafür ist ein anderer Zweig der Familie im Gasthaus zur Krone seßhaft und eifrig bemüht, die gastlichen wie die künstlerischen Ueberlieferungen derselben in lebendigem Andenken zu erhalten.

Von Fügen führt die Straße über Uderns und Ried durch die oben geschilderte Thalebene in etwas ermüdender Gleichförmigkeit fort bis nach Zell, dem Hauptorte des Thals, welcher eigentlich dasselbe abschließt, von welchem aber sich acht verschiedene Seitenthäler abzweigen. Auf der Zillerbrücke öffnet sich eine herrliche Doppelansicht - rückwärts in die breit gedehnte Thalebene, vorwärts über die Häuser des Dorfs und den grünen spitzen Kirchthurm hinweg auf die nun völlig herangetretenen Berge, die schroff abstürzende Gerloswand, den schneebedeckten Ingent, die Pyramide des Tristenspitzes und andere ehrwürdige Häupter. So ernsthaft sie aber herunterblicken, sind sie doch die besten Freunde des Thals, denn sie halten die rauhen Winde ab und machen das Klima noch milder als jenes um Fügen ist, so daß Körnerbau wie Baumfrucht nicht nur in der Niederung, sondern auch noch an den mäßig ansteigenden Gebirgsstellen gedeihen. Der anmuthige landschaftliche Charakter naht aber bald seiner Grenze - weiter hinein über Mayrhofen und in den Seitenthälern macht das Heitere dem Ernste, das Anmuthige dem Schauerlichen nur zu bald Platz. Der Ackerbau wie der Fruchtbaum verkümmert; je höher das Thal steigt, je öder und ernster wird die Gegend, immer rauher, wilder und frostiger das Klima. In den innersten Regionen, wo kein Grün mehr das Auge erquickt und selbst die Legföhre den rauhen Boden nicht mehr bedeckt, scheint die Natur sich vorgenommen zu haben, zu zeigen, was sie an grauenhaften und ungeheuren Erscheinungen hervor zu bringen vermag. In langen Reihen aufgestellt, starren die Riesenberge, von ewigem Eise gepanzert, in das Zillerthal hinab, das vor wenig Stunden noch so schön geschienen wie eine zum Kirchgange geschmückte Braut. - Verschiedene Pfade der abenteuerlichsten Art führen zu diesen offenen und doch so verborgenen und geheimnißvollen Weihestätten der Natur. Das Zillerthal hat, wie schon erwähnt, bedeutende Nebenthäler. Hinter Zell betritt man das sich über den sogenannten Durrenboden an der Pinzgauer Höhe hin erstreckende und zu einem Hochthale entwickelnde Gerlosthal mit dem Gerlosberg, dem Grindl und der Graseckerwand. Südlich an der Mündung des Zillerthals steht der langgestreckte Heinzenberg, aus dessen dichtbewaldeter Mitte die 6500 Fuß hohe Gerloswand schroff emporsteigt, ein mächtiger, leicht zu erreichender Aussichtspunkt und der Liebling der Botaniker wegen der merkwürdigen Alpenpflanzen und Blumen, welche hier wie sonst nirgends heimisch sind. Der Heinzenberg ist auch dadurch merkwürdig, daß er Gold in seinem Innern trägt; die beiden vorhandenen Stollen sind schon im sechzehnten Jahrhundert bekannt und liefern jetzt noch bei einem Halbhundert Bergknappen jährlich etwa dreißig Mark gediegenen Goldes.

Das Gerlosthal selbst verästelt sich wieder in einige Nebenthäler, alle unbewohnt und kalt, aber zur Alpenwirthschaft sehr geeignet: zunächst ist es aber wohl am passendsten, das Zillerthal selbst in seinen letzten Abschluß zu verfolgen. Diesen bildet das Dorf Mayrhofen. Der Weg dahin über ein paar kleine Ansiedelungen bereitet allmälig das Auge auf den großartigen Scenenwechsel vor, der nach wenigen Stunden eintritt. Die Physiognomie des Thals wird allmälig eine andre und erhabner Ernst überschattet dessen bisherige sanfte und heitere Züge. Die Hügel und Mittelgebirge verschwinden, aufrecht vom Fuße auf streben die Berge empor und aus den Hochthälern schauen himmelanstrebende Felsenhäupter bereits majestätisch herein. Demungeachtet ist der Gesammteindruck noch immer ein vorwiegend lieblicher, denn wenn auch die Lärchen- und Zirbelnußbäume des Heinzenbergs zurückgeblieben, ist der Pflanzenwuchs doch noch reichlich und voll Lebensfrische. Obwohl Mayrhofen bedeutend höher liegt als Zell, ist es doch durch die Berge vor rauhen Winden wie in den Schooß genommen und nur der milde Südwest findet Zugang. Rings herum in kleinen Thälern zerstreut liegen zahlreiche Behausungen und insbesondere viele sogenannte "Asten". Es sind dieß Voralpen mit eingezäunten Wiesengründen die wie im Vorarlberg die "Maiensäßen" im Sommer einmal gemäht, im Frühling und Herbst aber abgeweidet werden. Das Heu selbst wird im Winter auf der Aste selbst verfüttert. Mancher Bauer besitzt fünfzehn bis zwanzig solcher Asten, in welche das Vieh nacheinander getrieben wird, bis der Vorrath aufgezehrt ist und in dieser Betriebsweise liegt die Erklärung dafür, wie es den Zillerthalern möglich ist, den großen Viehstand zu halten, den sie züchten und mit dem sie ausgebreiteten Handel treiben.

Nicht weit hinter Mayrhofen, wo das Weltende erreicht zu sein scheint, öffnen sich vor dem überraschten Wanderer drei Hochthäler, sämmtlich von mächtigen Gebirgen wie von Wächtern umgeben: aus jedem kommt ein Bergwasser herangebraust, der Ziller-, der Stillupp- und der Duxerbach. Ueber ungeheure Felsenblöcke stürzen sie in schäumenden Kaskaden herab und einander in die brausenden Arme. Wendet man sich westwärts, so muß man diese sämmtlichen Gewässer überschreiten, obwohl über die Stillupp nur ein bedenklicher Steg führt und der Pfad mühsam und steil empor klimmt - dann ist in kurzer Zeit das kleine freundliche Dörflein Finkenberg und von diesem, abermals in geringer Entfernung, der berühmte Steg über den Duxerbach erreicht, seiner Schauerlichkeit wegen der Teufelssteg geheißen. Derselbe ist mit großer Kühnheit in einer Höhe von sechsundneunzig Fuß über der Schlucht gespannt, in deren Abgrund das Wasser dahin donnert, daß der kochende Silberschaum an dem schwarzen Gestein emporschlägt wie ein brandendes Meer. Für schwindelfreie Augen ist es ein grauenhaftes Vergnügen, von solcher Höhe in den tobenden Aufruhr hinunter zu blicken. Jenseits desselben sind aber die ungewohnten Abenteuerlichkeiten des Weges noch nicht beendet. Steil ansteigend leitet derselbe durch eine schmale, schaurige Schlucht, zwischen himmelhohen bald gerade aufstehenden, bald bedrohlich überhängenden Felsen, dann durch finstere Tannenwaldstriche mit- Bäumen, deren ungeheurer Umfang zeigt, daß die Axt in diesen Wäldern noch wenig zu thun gehabt - wäre es doch unmöglich, gefällte Stämme hinweg zu bringen. Daneben tost fortwährend aus seinem tiefgewühlten Felsenbette der schäumende Wildbach unheimlich herauf. Ist die Schlucht durchwandert, so erscheint das düstre einförmige Dornaubergthal, dessen größte Breite kaum dreihundert Fuß beträgt und das von dem riesigen Harpfengebirge, dem Tristenkopfe, dann dem Gamsberge und dem Schrambachkar mit seinen ruhelosen Lawinen wie eingezwängt erscheint. Ueberall liegen zahlreiche Asten, auf einer etwas erhöhten Fläche aber der Hof Großdornau, merkwürdig dadurch, daß er für das größte Bauerngut des Bezirks, wo nicht des Landes gilt. Das Thal schließt gegen Süden mit dem einsamen Weiler Ginzling. - Dennoch öffnen sich auch hier wieder drei neue Thäler, das Floitenthal, das Gunggel- und das Zemthal, sämmtlich in gerader Richtung nebeneinander an die gewaltigen Fernerstöcke der Tauernkette ausmündend, welche die Ausläufer des jenseitigen Pusterthals vom Zillerthal trennen.

Das bedeutendste darunter ist wohl das Floitenthal, langgestreckt und schmal, nur am Anfange und gegen die Mitte hin alpengrün, gegen das Ende zu das volle Bild der Erstarrung und Versteinerung - ohne Baum, ohne Strauch, ohne Halm. Die Berge, welche dasselbe umfassen, zeichnen sich durch abenteuerliche und grauenhafte Gestalten aus, wie sie in gleicher Wildheit im Zillerthal und wohl auch in andern Thälern kaum vorkommen. Insbesondere ragt darunter die riesige Löfflerspitz und der sogenannte Floitenthurm empor, eine von der Natur aufgethürmte Bergveste, wie die kühnste Phantasie kaum zu ersinnen vermag. In früheren Zeiten war die Floite der hauptsächlichste Wohn- und Standort der Steinböcke, welche von den Erzbischöfen von Salzburg als damaligen Landesherrn mit besonderer Vorliebe geschützt und gepflegt wurden. Der bekannte prachtliebende Marx Sittich bestellte ihnen eigene Wächter und baute ihnen Hütten auf den höchsten Bergen. Um die Thiere nicht zu stören, durften weder Ziegen noch Schafe auf die hohen Weidegänge getrieben werden, auf den niedriger gelegenen waren zwar Kühe zugelassen, aber sie durften keine Schelle oder Glocke tragen, wie denn auch aus gleichem Grunde Sennenruf und Almgesang zu den verpönten Dingen gehörte. Dennoch gelang es nicht, die edle, inzwischen wohl völlig ausgestorbene Thiergattung vor dem Erlöschen zu retten - die über den Zwang erbitterten Thalbewohner scheinen ihnen den Untergang bereitet zu haben. Im Jahre 1694 hatten die Wächter noch hundertneunundsiebenzig Steinböcke gezählt, zehn Jahre später wurden die letzten zwölf getödtet.

Von Mayrhofen aus öffnet sich über den schon erwähnten waldreichen Finkenberg hin noch ein weiteres, an sich selbst sowohl als durch seine Bewohner anziehendes Seitenthal. Das vielgenannte Dux, ein langgedehntes, fast aller Fläche entbehrendes Hochthal, etwas einförmig und unfruchtbar, denn außer Gerste und Haber gedeiht hier keine Getreideart mehr. Desto üppiger wuchern die besten Futter- und Alpenkräuter, worunter der würzige Marbel und die duftende Madaun obenan stehen. Das hier gezüchtete Milchvieh ist das beste im ganzen Zillerthal und auf dieser Zucht und der damit verbundenen Almwirthschaft beruht der gesammte beträchtliche Wohlstand von Dux. Die Asten sind hier ebenfalls so stark im Gebrauch, daß sie zu vielen Hunderten herum liegen und dem Thale den täuschenden Anschein besonderer Bewohntheit geben, während die Bevölkerung in Wirklichkeit keine sehr dichte ist.

Dafür zeichnet sie sich durch Eigenthümlichkeit ihres Wesens aus, welche sie namentlich von den Zillerthalern, ihren nächsten Nachbarn, unterscheidet. Wie letzterer von schlanker Gestalt, vorwiegend blond und von heller Gesichtsfarbe ist, erscheint der Duxer klein und von gedrungenem Körperbau, mehr dunkel an Haar und Gesicht; die Mädchen werden häufig als auffallend schön und liebenswürdig gepriesen, aber es sind zarte Pflanzen, welche ungewöhnlich bald und rasch verblühen; die schwere Arbeit, welche vielen Abbruch an Schlaf nöthig macht, soll die Ursache davon sein.

Auch bezüglich der Reise- und Wanderlust sind die Duxer das gerade Gegentheil der Zillerthaler. Genügsam, zufrieden und still hangen sie mit solcher Liebe an der armen, rauhen Heimat, daß es Niemand einfällt, sich auf Reisen zu begeben oder überhaupt dieselbe zu verlassen. Es geht das so weit, daß auch das Studium sie nicht verlockt und man sich nicht zu erinnern weiß, daß aus dem Dux ein Arzt, Beamter oder Geistlicher hervorgegangen wäre. Gleichwohl sind sie gegen Kenntnisse und Bildung nicht gleichgiltig, sie halten auf guten Unterricht, wie denn sogar eine weibliche Industrieschule besteht und Niemand zu finden ist, der im Lesen und Schreiben nicht gut unterrichtet wäre. Ihre ganze Art und Weise zu leben, wie auch ihre durchweg aus Holz erbauten Häuser haben etwas altväterlich Patriarchalisches, das bei ihrer wohlwollenden Offenheit einen höchst wohlthuenden Eindruck macht. Damit im Zusammenhange steht wohl auch, daß nur ein einziger, auch im Winter gangbarer Fußweg das vom Madseitenbach in das Vorder- und Hinterdux getrennte Thal durchschneidet und nach dem Hauptorte Lannersbach führt. Den Ort und die Sitten weiter zu schildern, ist überflüssig, da es doch nicht besser geschehen könnte, als es Ludwig Steub's liebenswürdiger Humor in seinen "Drei Sommern in Tirol" gethan. Die gemüthvolle und launige Schilderung der Lannersbacher Kirchweihe wird Niemand unerregt aus der Hand legen - sie ist ein eben so schönes, dem lieben Naturvölkchen gewidmetes Denkmal, als sie eine kostbare Perle deutscher Humoristik bildet.

Auch in der Tracht spricht sich die Eigenthümlichkeit des Duxers aus - die kleine runde Filzkappe, die schwarze Jacke und Hose, sowie die blauen Strümpfe machen den Duxer vor allen Bergbewohnern kenntlich.

Nachträglich zu den Naturwundern, an welchen das Zillerthal so reich ist, muß auch der Weg erwähnt werden, der von Zell über den Heinzenberg in das kleine Dorf Gerlos und von dort auf die sogenannte Platte führt, von welcher er wieder weiter in die Krimml geht. Die hier sich bietende Aussicht gehört zu den erhabensten der Gegend, theils wegen ihres kaum zu erfassenden Umfangs, theils wegen der Großartigkeit, mit welcher die Gebirgskette der Tauern in aller Pracht und Herrlichkeit ihrer Gletscher sich erhebt, unter denen die gefrorene Wand sich wieder durch Mächtigkeit und eigenthümliche Gestaltung auszeichnet. Nach kurzer Zeit tönt dem Wanderer schon die wilde Pinzgauer Ache ihren brausenden Gruß entgegen, welche den berühmten, alle ähnlichen Erscheinungen im Tiroler- wie im Salzburgerlande übertreffenden Krimmler Wasserfall bildet. In dreifach gebrochener Kaskade stürzt der wasserreiche Bach in den Abgrund, mit einer Wucht, welche die Luft in Bewegung setzt, daß sie wie leichter Wind die spritzenden Schaumperlen funkenähnlich weithin verstäubt.

Ueber die Tauern hinweg führt der Weg ins Pinzgau zu dem Dorfe Krimmel, das ihm den Namen gegeben.

BILD!

Quelle: Wanderungen durch Tirol und Vorarlberg, Geschildert von Ludwig von Hörmann, Hermann von Schmid, Ludwig Steub, Karl von Seyffertitz, Ignaz Zingerle, Stuttgart 1880, S. 18 - 25.