Zauberpflanzen und Amulette.

Ein Beitrag zur Culturgeschichte und Volksmedicin
[Ein Beitrag zur Kulturgeschichte und Volksmedizin]

Von
Dr. M. Kronfeld

Wien 1898

Meiner Frau gewidmet.

Trotz aller Fortschritte der modernen Kinderhaltung und Kinderpflege ragen noch heute, am Ausgange des 19. Jahrhunderts, die wilden Ranken des Volksglaubens in die Kinderstube. Aus meiner, in einer österreichischen Provinzstadt verbrachten Kinderzeit erinnere ich mich eines bezeichnenden Vorfalles. Ein Kind des Hauses war kränklich; ärztliche Hilfe schien vergebens. Da riet irgendeine weise Frau zu einem Mittel: einer lebenden Maus mussten die Augen ausgestochen und diese dem kranken Kinde an einem Faden um den Hals gehängt werden. Da jagten denn die Gesellen um die Wette den Mäusen nach, bis es Einem gelang, ein Tierchen zu erwischen und ihm mit einer dünnen Spitzfeile die Augen auszustechen. Und in der Tat wurde dem Kinde das in so grausamer Weise gewonnene Amulett umgehängt. Ob es auch genützt hat? Gerade die Maus spielt nach Lammert als Mittel für kranke Kinder eine große Rolle. So hängt man dem Kinde in Franken und anderwärts einen Mauskopf, der dem lebenden Tiere abgebissen (!!) wurde, in einem Säckchen, noch vor der Taufhandlung, als Zaubermittel um den Hals 1). Dasselbe Mittel hilft beim Zahnen, nur müssen Eltern oder nahe Verwandte den Kopf der Maus abbeißen und in einem leinernen Säckchen, ohne einen Knopf in den Faden zu machen, dem Kinde umhängen. Aus Deutschösterreich ist mir der nicht minder unappetitliche Brauch bekannt geworden, Säuglingen Stücke des Eingeweides einer Maus in einem Säckchen um den Hals zu hängen. Die Maus kommt auch in einem weit verbreiteten Zaubersprüchlein vor, das auf den kindlichen Zahnwechsel Bezug hat. Der erste ausgefallene Milchzahn wird nach Lammert in Franken mit den Worten:

1) Lammert, Volksmedicin in Bayern, Würzburg 1860, p. 123.


Mäuslein,
Mäuslein,
Da hast du einen beinernen,
Gib' mir einen steinernen -


in ein Mäuseloch geworfen, damit die zweiten Zähne so schön und weiß werden, wie die der Maus. Mich hat man noch als Kind angewiesen, jeden Milchzahn in das flackernde Ofenfeuer zu werfen und dabei dieses Sprüchlein herzusagen, in dem steinern mit "eisern" variiert war. Nach Laube 2) hat in der Teplitzer Gegend das Kind den Milchzahn hinter sich über die Schulter wegzuwerfen und dabei zu sagen:


Maus, Maus hast einen beinernen Zahn,
Wachs mir einen eisernen an!


In älteren, namentlich ländlichen Haushaltungen werden die sich in den Familien forterbenden "Zahnperlen" aufbewahrt, denen zugleich Wert und Kraft von Amuletten beigemessen wird. Kleine Kaurimuscheln, Korallen, Glasperlen verschiedener Farbe und Größe, die sogenannten Paternostererbsen (Samen von Abrus precatorius, die in den letzten Jahren als "Wetterpflanze" ausgeschrieen wurde), die reifen Samenkörner der Pfingstrose (Paeonia officinalis), Kügelchen aus wohlriechendem Holz, in Silber gefasste Zähne etc. werden, auf Fäden angereiht, den Säuglingen um den Hals gegeben. Am häufigsten werden Kindern rote Korallen um den Hals gehängt, und es besteht der Aberglaube, dass das Verblassen der Kügelchen Krankwerden bedeutet. Wie seltsam sich in den volkstümlichen Vorstellungen Vergangenheit und Gegenwart zusammenfinden, lehrt Plinius, der von den Korallen erzählt: "Die Zweige sollen die Kinder vor Unglück schützen, wenn man sie ihnen anbindet!" 3) Und wenn der Polyhistor des ersten nachchristlichen Jahrhunderts beim Kapitel Koralle ausdrücklich bemerkt, dass die Wahrsager und Priester Indiens das Tragen der Korallen zum Abwenden von Gefahren für heilig erklären, so ist damit der Hinweis auf "die Wiege der Menschheit" gegeben; der Aberglaube von heute hat das Alter der Menschheit.

2) Laube, J., Volksthümliche Ueberlieferungen aus Teplitz und Umgebung, Prag 1896, p. 51.
3) Plinius, Nat. hist. XXXII, Cap. 11.

An die Schnüre mit Zahnperlen hängt man gerne auch ein Stück Veilchenwurzel, eine Klapper oder einen Wolfszahn. In den ethnographischen Museen, die uns mit den Utensilien ferner Naturvölker bekannt machen, begegnet man Amulettschnüren, die denen der europäischen Kinderstuben oft überraschend ähnlich sind 4). Die starke und stete Furcht vor dem "Verschreien" der Kinder lässt selbst vernünftige Eltern vom Altmutterglauben nicht abkommen. In Fig. l habe ich das Prachtexemplar eines an einem Bändchen um den Hals zu tragenden Kinderamulettes aus der Znaimer Gegend abgebildet. Es besteht aus einem Haarbüschel aus dem Barte eines schwarzen Bockes, welches durch eine silberne Hülse zusammengehalten wird. An dieser ist ein Ring angebracht, durch den das farbige Halsbändchen gezogen ist. Ohne Zweifel soll, nach der ursprünglichen Vorstellung, das edle Metall des Gefäßes die Wirksamkeit des Amulettes erhöhen. In manchen Gegenden wird man noch heute als bestes Mittel gegen Bleichsucht der Mädchen das Umlegen eines Drahtes aus reinem Dukatengolde um den Hals anpreisen hören. Vielerlei Aberglauben geht mit der Frömmigkeit Hand in Hand. Beispielsweise bekommt das Kind gegen Fraisen in manchen Gegenden Niederösterreichs einen sogenannten "Fraissbrief". Es ist das ein mit einem Gebet bedrucktes Papier, das zusammengefaltet und dem Kinde auf die Brust gelegt wird. Im Wiener Museum für österreichische Volkskunde wird ein Trudenmesser und eine Trudengabel aus Reitdorf im Salzburgischen verwahrt. Die Messerklinge ist mit einem Zauberspruch, mit magischen Zeichen und Kreuzen versehen. Das merkwürdige Besteck wird Kindern bis zu 9 Monaten in die Wiege unter das Kopfende gelegt, um die Kleinen vor Truden, d. i. bösen Geistern, zu beschützen.

4) Selbst die Mütter, die ihren Zola, Ibsen, Sudermann und Guy de Maupassant lesen, haben sich von dem Kinderaberglauben nicht freigemacht. Heute freilich muss die Industrie es etwas klüger anfassen, um Abnehmer zu finden. Ohne Elektrizität geht es nicht. So habe ich in einer vorjährigen Nummer der "Fliegenden" rohseidene Elektricitäts-Zahnhalsbändchen angepriesen gesehen. Sie "haben allen anderen Fabrikaten gegenüber den Vorzug, dass sie aus reiner Naturseide und nicht aus schwarz oder bunt gefärbtem Baumwollsammet angefertigt sind, wodurch häufig, nach Aussage der Herren Aerzte, bei Transpiration, infolge des giftigen Farbstoffes, Hautausschlag hervorgerufen wird, weshalb solche eher schädlich als nützlich wirken. Mein gesetzlich geschütztes Fabrikat enthält gefederte Seide und einen Streifen Pflanzenfaserstoff, wodurch Elektricität hervorgerufen wird, ein Process, der sehr einfach und ausserordentlich wirkend ist. Preis l Mark. Zu beziehen u. s. w." - Das Geschäft mit diesen Zahnhalsbändchen, die sogar eine registrierte Schutzmarke haben, muss jedenfalls gut gegangen sein.

Hieronymus Bock, genannt Tragus, einer der ersten deutschen Botaniker, dessen im Jahre 1546 zu Strassburg erschienenes "New Kreuterbuch" wiederholt aufgelegt wurde, sagt von den als Amulette getragenen Kräutern: "Vil Menschen tragen diese Kreutter bei sich für böse Gespenster und Ungewitter und ist der Natur nach zu reden, nit gar erlogen".

Kinderamulett aus der Znaimer Gegend.

Fig. 1.
Kinderamulett aus der Znaimer Gegend. (Schwarzer Bocksbart in Silberfassung. Natürliche Größe.)

Dies vorausgeschickt, braucht es nicht Wunder zu nehmen, wenn die Heil- und Zauberkraft der Kräuter bis zur Stunde ein wichtiger Faktor bei der Kinderpflege geblieben ist. Wider den schlimmen Zauber des "Berufens", "Beschreiens" oder "Verschreiens", ebenso gegen den "bösen Blick" werden mehrere Kräuter angewendet, die geradezu Berufs- oder Beschreikräuter heißen. Mit ihnen und den zu demselben Strauss gehörigen Pflanzen, die das Volk wider Zauber aller Art beim Menschen und beim lieben Vieh verwendet, wollen wir uns im Folgenden beschäftigen 5). Selbstverständlich haben wir nur eine annähernde Übersicht nicht monographische Vollständigkeit im Plane 6).

5) Cf. Unger, Die Pflanze als Zaubermittel. Sitzb. der mathem.-naturwissensch. Classe d. Akad. d. Wissensch. XXXIII. Bd, Nr. 26. - Kerner, A. v. Marilaun, Pflanzenleben. 2. Aufl. 2. Bd. (1898) p. 695ff. - Kronfeld, Bei Mutter Grün. Capitel: Zauberpflanzen. - Höfer und Kronfeld, Die Volksnamen der niederösterr. Pflanzen, Wien 1889. - Duftschmid, Obderennsische Hausmittel. Oesterr. botan. Zeitschr. 1852, Nr. 50-52. - Carus Sterne, Sommerblumen. Prag u. Leipzig 1884. Herbst und Winterblumen. Prag u. Leipzig 1886. - Frank, A. v. Frankenau, Vollständiges Kräuterlexikon etc. 6. Aufl., Leipzig 1766, S. 195. - Hölzl, Ueber die Heil- und Zauberpflanzen der Ruthenen. Verhandl. d. zool.-botan. Ges. Wien 1861. pag. 149-160. - Neidhart, Fr. X., Die Pflanze in religiöser, abergläubischer und volkstümlicher Beziehung. Berichte d. naturhist. Ver. Augsburg 1867. - Chevalier, Der deutsche Mythos in der Pflanzenwelt. Jahresber. des Realgymn. in Smichow. Prag 1876. - Reling u. Bohnhorst, Unsere Pflanzen. 2. Aufl., Gotha 1889.
6) Die Kräuter, die zum "Liebeszauber" im schlechten Sinne dienen, habe ich schon in der "Wiener Medicinischen Wochenschrift" 1889, Nr. 44, 45 und 1890, Nr. 7, 8, 9 besprochen.

Eines der gemeinsamen Momente, die sich bei Betrachtung der Berufs- und Zauberkräuter ergeben, ist ihr ehrwürdiges Alter. Volksglauben ist Altglauben, und Niemand ist, im Grunde genommen, conservativer, als das Volk, über dessen Wetterwendigkeit sich so Mancher zu beklagen Ursache zu haben glaubte. Was soll man zum Beispiel dazu sagen, dass schon Dioscorides, der Linné des 1. nachchristlichen Jahrhundertes, von dem Kräutlein " Alysson" erzählt, es werde Menschen und Vieh umgehangen, um gegen Zauberei zu dienen! Andererseits spielt der Kräuterzauber noch in das moderne und modernste Denken hinein. In Berlin gab es Mitte Februar 1898 einen seltsamen Rechtsfall. Angeklagt war die Amalie Heidfeld, weil sie dem Dienstmädchen Mauk durch Zauberwurzeln und ähnlichen Hokuspokus einen beträchtlichen Geldbetrag entlockt hatte, ohne dass die unglücklich Liebende Stefan, den Uhlanen ihres Herzens, wieder gewonnen hat. Die Heidfeld berief sich auf zahlreiche Atteste von "Damen", die ihre Sympathiemittel mit Erfolg gebraucht hätten. Es half nichts. Die zauberische Amalie wurde zu drei Monaten Gefängnis verurtheilt [verurteilt].

Mit kühlem Achselzucken wird man über das Mädchen der "unteren Classe" [unteren Klasse], das auf den Leim gegangen, nicht hinwegkommen. Glaube und Aberglaube umspannt die ganze Menschheit. Die Alraunwurzel, die die fromme Jungfrau von Orleans als untrügliches Amulett bei sich getragen hat und die eine so bedeutungsvolle culturgeschichtliche [kulturgeschichtliche) Rolle seit dem Alterthume spielte, ist noch immer in Ehren. Ich weiss von dem auch für die culturelle [sic] Seite der Pflanzen interessierten, im Sommer dieses Jahres jäh dahingeschiedenen Prof. Dr. Anton v. Kerner, dass eine hochgestellte Wiener Dame nicht ruhte, bis sie sich einen "Alraun" verschaffte. Wie viel der Kräuterzauber des vierblätterigen Klees noch am Ausgange des 19. Jahrhundertes bedeutet, ist Jedermann bekannt.

Der leichteren Uebersicht wegen sind die besonders besprochenen Pflanzen ihren botanischen (lateinischen) Namen nach in alphabetischer Folge angeführt. Die nur gelegentlich erwähnten Pflanzen und die deutschen Namen sind aus dem am Schlusse befindlichen Register ersichtlich.

Wien, im Herbste 1898.


Quelle: Zauberpflanzen und Amulette, Dr. E. M. Kronfeld, Wien 1898, S. 5ff.
Für SAGEN.at korrekturgelesen von Gabriele U., Juni 2005.
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