Sage
aus: E. Hoffmann-Krayer, H. Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch
des deutschen Aberglaubens,
Berlin und Leipzig 1935/1936
1. | Verhältnis zu Märchen und Geschichte |
2. | Entstehung der Sage |
3. | Wanderung und Weiterbildung der Sage |
4. | Die Arten der Sage |
5. | Hauptformen der Sage, Erlebnis- und Helden-Sage |
1. | Verhältnis zu Märchen und Geschichte |
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Nach Begriff und Sprachgebrauch ist Sage eine
Erzählung mit einem starken Einschlag von sonderbaren und über
die sinnliche Wirklichkeit hinausweisenden Begebenheiten, die jedoch
in der Regel ihren Geschehensboden und unmittelbaren Ansatzpunkt
in der nahe liegenden Lebenswirklichkeit oder in der Geschichte
haben. Die Sage haftet daher mit ihren Motiven an bestimmter Örtlichkeit,
meist in der Nähe ihrer Entstehung spielt in bestimmter Zeit
und hat zu Handlungsträgern meistens bestimmte Personen, und
sie verfolgt nicht nur einen unterhaltenden Zweck, sondern den,
zu belehren, mahnen, warnen oder zu erklären. Durch alles dies
unterscheidet sich die Sage vom Märchen. Freilich ist die Charakteristik
der Sage schwieriger als die des Märchens (S. d.). Schon wegen
der Mannigfaltigkeit der Arten von Sage innerhalb desselben Volkes
bietet die Sage ein verwickelteres Problem dar. War man früher
durch Beachtung einiger Motive dazu geführt worden, in der
Sage offenbare sich am klarsten und tiefsten ein Sinnen und Sehnen
des bestimmten einzelnen Volks, so sieht man heute, daß die
verschiedenen in einer Sage zusammenlaufenden Motive gar keinen
spezifischen Volkscharakter aufzeigen müssen und nur zum Teil
aus ihm hergeleitet werden können. Man hat auch zu erwägen,
daß viele Sagen nicht alt sind; heute gilt als Irrtum die
Ansicht v. Hahn's 1), spätere
Geschlechter hätten bloß Sagenüberlieferungen aus
grauer Vorzeit übernommen. Sie ist indessen auch nicht bloße
Darbietung von Kuriositäten, wofür man sie Anfang des
i9. Jh. hielt; sondern sie zeigt den lebensvollen Ausdruck von volkstümlicher
Auffassung und Meisterung von Geschehnissen und Begebnissen überhaupt.
Das zu erkennen war möglich, seit die eigenartige Sagenliteratur
Islands und Norwegens bekannt geworden ist und die Brüder Grimm
die 2 Bände Deutsche Sagen (1816. 28) herausgegeben haben.
Von da an erblühte jene Sammler- und Forschertätigkeit
in bezug auf die Sagen, die erlaubte, die unterscheidenden Merkmale
der Sage gegenüber dem Märchen ins Auge zu fassen 2). Ist Sage dem Wortsinn nach zunächst (ähnlich wie Märchen) eine auf mündlichem Wege weitergeleitete Kunde von etwas Vorgefallenem, so ist doch nicht jeder Bericht, jede Kunde, auch falls in fortgesetzten Überlieferungsstrom gebracht, Sage, sondern nur dann, wenn die Wiedergabe der (geschehenen oder erfundenen) Tatsache mittels der volkstümlichen Anschauung von unsinnlichen und unkontrollierbaren Mächten zu einer solchen Deutung übergeleitet wird, die eine leichte Anwendung auf ähnliche Situationen gestattet. Denn eben hiermit weist die Sage ihren geringen Gehalt an lehrhaftem, mahnendem oder warnendem Gehalt auf, durch dessen Mitführung sie sich innerlich vom Märchen unterscheidet. Dies spielt (S. d. § I) in seinem eigenen von der großen Welt unbestürmbaren Bereich und ist gegenüber der Ding- und Menschenwelt so gut wie land- und volk-, heimat- und zeitenlos; die Sage dagegen knüpft gern an bestimmte "historische" Ereignisse an, wenn es auch bei ihnen weniger auf genaue historische Umrissenheit als vielmehr auf das Typische, nicht auf die Einmaligkeit sondern auf die 'Vorbildlichkeit' ankommt. Ja eine rein typologisch aussehende Erzählung wie die von den Schildbürgern oder die vom Eulenspiegel wird Sage dadurch, daß irgend etwas von historischem Ansatz oder Kern in ihr vorhanden ist, während wir sie, so derselbe ihr abgeht, nicht als Sage ansprechen sondern eher als Fabel 3). Daher verlangt die Sage in höherem Grade als das Märchen eine Zustimmung zur erzählten Geschehensverkettung; das Märchen unter Umständen eine Zustimmung zu der es tragenden weltanschaulichen Idee, zumal zu dem ethischen Ausgang. Zwar sind die Personen der Sage nicht viel mehr als die des Märchens handelnde. Weder Kaiser Rotbart noch Karl d. Gr. noch der Rodensteiner noch die Jungfrau vom Lurleifels handeln. Das Geschehen steht auch hier vor dem Handeln. Das geht so weit, daß die historischen Personen, wenn sie in den Sagenzusammenhang eingehen, aus dem wirklichen historischen Zusammenhang ihrer Taten gelöst, in der Hauptsache das örtliche Sein und Geschehen gleichsam dekorieren 4) ; eine für die Person des Kaisers belanglose Burggründung kann es sein, die im Mittelpunkt steht (vgl. Gründungssagen). Wohl aber stellt die Sage die Handlung in irgend welche, wenn auch noch so lose, Verknüpftheit mit höheren, guten oder unguten, Kräften, die entweder dem Menschen gelegentlich zu Gebote stehen oder von außen an ihn herantreten. Anders gesagt, die Tendenz zur Erzählung geschichtlicher Hergänge als solcher gehört nicht wesentlich zur Sage Die historischen Schlachthörner Karls d. Gr. mögen wie ein zeitgeschichtliches Kolorit erscheinen, das den Hörnern des Elbstieres beigegeben wird, während diese letzteren Hörner aus dem Gefüge der Wassersymbolik stammen 5). Das natürliche Volk, das so gern dem Geheimnis vollen der Geschehnisse nachsinnt, enträtselt das Wunderbare durch eine eigene Symbolik, die es deutend an die Stelle des Historischen setzt 6). Der Glaube gegenüber dem Erzählungsstoff bezieht sich folgerecht auf den tiefsten Sinn des Wunderbaren darin und dahinter, während man den äußeren Begebenheiten großenteils nur geringes Interesse entgegenbringt, wenn auch sicherlich nicht ein so geringes wie im Märchen. Denn die Könige und Prinzessinnen des letzteren bleiben am liebsten namen- und zeitlos; in der Sage ist es jedoch nicht "ein" König, sondern der ganz bestimmte und bekannte, der als Held Inhaber überragender Kraft ist. Nur ist das in der Sage von ihm Erzählte nicht historisch, wenn es auch einem Charakterzug von ihm entsprechen mag. Die Tiere in den Tier-Sagen und die halbtierischen Wesen finden sich in der Sage wegen irgend welcher Eigenarten ihres Wesens, die eine Kunde aus anderer Weltdimension in sich schließen; und daß es sich mit den Spuk-, Teufels- und Schatz-Sagen ähnlich verhält, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden (S. Präanimismus). Daraus ergibt sich, daß die Sagen trotz ihrer Unbekümmertheit um historische Genauigkeit ein wichtiges Dokument der geistigen Entwicklung des Volks, in dem sie entstanden sind, und auch desjenigen, von dem sie übernommen sind, darbieten 7). Für das Studium des Aberglaubens liegt die Bedeutung der Volks-Sagen natürlich eben in jenen hervorstechenden Anschauungen, welche sich in den Vorstellungen von übersinnlichen Wesenheiten und Kräften und Vorgängen und Vorfällen verdichtet haben und welche oft in abergläubischen Ideen und Bräuchen haften geblieben sind. Dabei ist jedoch zu beachten, daß durchaus nicht alle Sagen, die sich in deutscher Überlieferung finden, ursprünglich aus deutschem Geiste hervorgewachsen, sondern nicht wenige erst im MA. und noch später aus der Fremde eingewandert sind und daß es außerdem viele gibt, welche des Volks- und Zeitgepräges überhaupt entbehren. In diesem tritt wiederum eine besondere Ähnlichkeit zum Märchen zutage, indem in diesen Sagen die primitiv-schöpferische Phantasie einfache Erlebnisse einer Volksschicht gestaltet. Mit Recht sagt daher Ranke 8): "Es ist noch niemandem gelungen und wird bei der Dürftigkeit unserer Überlieferungen aus dem deutschen Heidentum kaum je gelingen, auch nur eine einzige der heutigen Volks-Sagen mit Sicherheit als zum Erzählungsschatz der noch unbekehrten deutschen Stämme gehörig zu erweisen". Von irgend welchem rein volkstümlichen Denken und Empfinden legt jedoch die Sage stets Zeugnis ab. 1) v. Hahn Sagwissenschaftliche Studien 42. Dagegen Kuhn Mythol. Studien 2) Müllenhoff Altertumskunde 1, 537; Boeckel Volkssage I ff. 3) Ranke Sagen XIIIf. 4) Meyer Germ. Myth. 17f. 5) Rochholz Sagen 2, 17. 6) Liebrecht Zur Volksk. 29 f. 7) Ebd. 8) Ranke in Meier Deutsche Volkskunde 2oo und Sagen 9 und ZfDkde. 1922, 1 ff. |