GEFÄHRLICHE NACHBARN

Was ist das Gegenteil von gut? - Gut gemeint.

Soeben (Montag, den 29.10.2001 um 9.15 Uhr) erreichte mich der Anruf einer entfernten Freundin. Folgendes erzählte sie mir mit getragener Stimme:

"Ich muss dir etwas erzählen, das mit den Anschlägen vom 11.September 2001 in New York zusammenhängt.
Also - meine Mutter hat eine Freundin, deren Schwester in einer Schule arbeitet. Die Sache ist die, dass es in Berlin zwei Frauen gibt, eine ist mit einem Perser verheiratet, die andere mit einem Afghanen. Beide Männer sind am letzten Freitag spurlos verschwunden. Das BKA weiß auch Bescheid. Die Männer haben dann noch - der eine zu Hause, der andere in der Schule, wo seine Frau als Sekretärin arbeitet - auf Anrufbeantwortern hinterlassen, dass ihre Frauen und Kinder, weil die hatten auch Familien hier, am kommenden Mittwoch auf keinen Fall mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren oder in große Kaufhäuser gehen sollen.

Rausgekommen ist das Ganze, weil die Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Schule auch von anderen gehört wurde. Also das BKA weiß wie gesagt auch Bescheid, ich halte es aber für wichtig, diese Information nicht für mich zu behalten. In New York hatte man auch von den Anschlägen gewusst und die Warnungen nicht ernst genommen."


Die Autorin, Jasmina Barckhausen, interpretiert diese Moderne Sage folgend:

Bin ich schon so abgestumpft, dass mich die Sorge einer Freundin um die ihr nahestehenden Personen nicht mehr berührt? Bin ich schon so kopflastig, dass ich nur daran denken kann, welche Ideologie und welches Phänomen nun wieder hinter dieser Warnung stehen könnte? Ich konnte auch nicht umhin, meiner Bekannten die Herzlosigkeit zuzumuten, sie mit meinen spontanen Assoziationen zu konfrontieren. Um sie nicht allzu sehr zu beleidigen, begann ich mit der harmlosesten:

1) Das hört sich für mich an, wie ein HOAX (engl. hoax, altengl. hocus: Scherz, Falschmeldung). Hoaxe sind Daten, die im Schneeballsystem übers Internet verschickt werden, in denen Menschen die Adressaten ihres gesamten Adressbuchs beispielsweise vor fürchterlichen Viren warnen. Mitunter handelt es sich um eine Originalnachricht, die unter Berufung auf Polizei oder andere Autoritäten wie Microsoft vor den überall lauernden Feinden warnt und durch die den EmpfängerInnen weisgemacht wird, da sei jemand ehrlich besorgt um ihn/sie beziehungsweise dessen/deren elektronische Verlängerung, die Festplatte, das moderne Gehirn eines Menschen. Aus Dankbarkeit für diesen Beweis der Zuneigung verschickt mensch ebendiese Nachricht nun per Mausklick auf den Menüpunkt "Weiterleiten", wählt sorgfältig unter den Adressaten jene aus, die in den Genuss dieser Warnung kommen sollen und lässt jene weg, die der Sprache nicht mächtig sind, in welcher der Text verfasst wurde, oder jene, bei denen erst einmal wieder eine andere Art von Lebenszeichen fällig wäre oder auch jene, die aus welchem Grund auch immer "in Ungnade fielen". Immense Datenmengen jagen durchs Netz, die als wichtigste Botschaft transportieren: "Ich habe an dich gedacht und möchte dich vor Schlimmem schützen, soweit das in meiner Macht steht." (und Wissen bzw. Informationen ist/sind ja schließlich Macht). In diesem Sinne rührte mich die Warnung der Freundin, während sie noch sprach fragte ich mich allerdings schon insgeheim, ob nicht etwa die Telecom Urheberin der Geschichte sein könnte. (weitere Infos zu hoaxes u.a. unter: www.hoax-info.de)

2) Die Geschichte erinnert an "sagenhaften Geschichten von heute", so wie sie z.B. von Rolf Wilhelm Brednich in "Die Spinne in der Yucca-Palme" und anderen Veröffentlichungen gesammelt wurden. Merkmal dieser Geschichten ist, wie auch bei den Hoaxes, dass die Information durch glaubwürdige Personen, denen man jedoch nicht zu nahe steht, verbreitet wurde. Mindestens zwei Schritte trennen die Person, welche die Geschichte erzählt von der, die ebendiese Geschichte erlebt haben will. Hier ist es eine Arbeitskollegin der Ehefrau einen potentiellen Attentäters (1) deren Schwester (2) eine Freundin der Mutter (3) meiner Bekannten (4) ist. Diese Geschichten transportieren meist die moderne Angst vor Auslandsreisen oder exotischen Importen, vor Dieben, Einbrechern und entlaufenen Irren. Sie tauchen oft gleichzeitig an verschiedenen Orten auf und werden an Lagerfeuern, Stammtischen und auf nächtlichen Spaziergängen erzählt.

3) Die Geschichte, oder "gutgemeinte" Warnung, enthält Gedanken, bei denen sich mir die Nackenhaare aufstellten:
- illustriert sie die „Schläfertheorie“, die behauptet, dass sich als völlig harmlos gebende Männer, hier aus dem Iran und aus Afghanistan, dazu fähig wären, plötzlich Schreckliches anzurichten.

- Die bedauernswerten Kinder verlieren ihre Väter. Dieser Akt der Grausamkeit unterstreicht noch die Entschlossenheit. Der Zusammenhang zwischen den beiden Männern und wie die Frauen von den Warnungen, welche die jeweils andere erhielt, erfahren haben, bleibt unerwähnt. Im Übrigen dürfte es in Berlin mehr als nur diese beiden Frauen geben, die in Ehe oder eheähnlicher Verbindung mit Afghanen oder Iranern leben.

- Die betreffenden Männer werden durch ihre Warnungen auf den Anrufbeantwortern als Prototypen des "liebenden Familienvaters" gezeichnet. Sie entsprechen hiermit genau dem Klischee. Dennoch verlassen sie von heute auf morgen ihre Familien. Hier lautet eine Botschaft also "bei diesen Männern weiß man nie, was in ihnen steckt".

Man darf wohl annehmen, dass es sich hierbei um jene Art von Warnung handelt, die fast jede deutsche Mutter ausspricht wenn sie erfährt, dass ihre Tochter eine Lebensgemeinschaft mit einem "Ausländer" eingeht.

- Solchen Frauen scheint auch nicht zu trauen zu sein. Schließlich lässt die Geschichte keinen Zweifel darüber, dass die Warnungen nur durchgesickert sind, weil eine Lehrerin an der Schule, wo eine der Frauen als Sekretärin arbeitet, davon erfuhr. Was wäre wohl, wenn der verschollene Mann die Nachricht auf dem Privatanschluss hinterlassen hätte? Die Geschichte sagt uns also auch, dass im Konfliktfall an der Loyalität solcher Frauen zu zweifeln ist.

- Wir sind so wichtig! Seit den Anschlägen verhalten sich deutsche PolitikerInnen, aber auch MedienvertreterInnen, als sei Deutschland ein US-Bundesstaat und Berlin ein Stadtteil von New York. Ich staunte nicht schlecht, als ich in Zeitungen Fotos sah, auf denen WahlhelferInnen Briefe öffneten, wobei sie sich mit Gummihandschuhen und Mundschutz vor Anthrax-Erregern schützten. Da bleibt uns nur die Hoffnung darauf, dass uns das "bereits in Kenntnis gesetzte BKA" zu schützen weiß, was dann auch der Grund dafür sein dürfte, wenn am kommenden Mittwoch in Berlin gar nichts geschähe. Mein Vertrauen in die Effektivität deutscher Autoritäten und mein subjektives Sicherheitsgefühl wären dann enorm gestärkt.

Die Warnung suggeriert Top-Aktualität, denn wenn der Mann am Freitag verschwand, dazwischen das Wochenende lag, an dem Schulen bekanntlich geschlossen sind, kann der bewusste Anrufbeantworter ja frühestens am heutigen Montag um 7.00 Uhr abgehört worden sein, was allerdings auch unwahrscheinlich ist, da in Berlin Schulferien sind und die Sekretariate vermutlich auch nicht besetzt sind. Mich erreichte die Warnung bereits um 9.15 Uhr. Angesichts dessen fühlte ich mich natürlich auch sehr geschmeichelt und fragte nach, wodurch ich diese hohe Priorität in der Benachrichtigungsliste meiner Bekannten verdiene, ob es etwa damit zusammenhängen würde, dass mein Nachname mit "B" beginnt und ich daher auf der Liste ganz oben stünde? Nein, sie hätte eher überlegt, wen sie um diese Uhrzeit wohl erreichen könne und außerdem hätte sie ein besonderes Bedürfnis verspürt, mit mir darüber zu sprechen, weil unter ihren Bekannten diejenige mit dem größten "Ausländer-Bezug" wäre. Hat sie in mir nach einem Korrektiv gesucht?

Bin ich zynisch, weil ich die Warnung nicht ernst nehmen kann und nicht umgehend meinerseits eine möglichst große Zahl von Menschen über die bevorstehende Katastrophe zu informieren suche? Tue ich es vielleicht auf diesem Weg indirekt und beruhige damit mein Gewissen?

Jasmina Barckhausen

Quelle: E-Mail-Zusendung 1.11.2001 von Jasmina Barckhausen