Nahrungsmittelzusätze
Im Februar 1976 wurde ein Flugblatt, ein einfaches maschinengeschriebenes
Papier, in Umlauf gebracht, das eine Liste der Nahrungsmittelzusätze
(der berühmten E...) anführte. Diese Liste teilte die Zusätze
in drei Gruppen auf: die kanzerogenen Gifte, die verdächtigen und
die unschädlichen Stoffe. Aus dem Flugblatt ging hervor, daß
zahlreiche Produkte und verbreitete Marken die reinsten Killerdrogen waren.
Tausende Freiwillige haben das Flugblatt immer wieder vervielfältigt,
da sie sich vom Ernst der Beschuldigungen beeindrucken ließen. Man
schätzt, daß das Flugblatt bis heute sieben Millionen Leser
gefunden hat, die von diesem Gerücht "vergiftet" wurden.
Den Fachleuten zeigte eine gründliche Prüfung des Flugblatts
tatsächlich bald, wie anrüchig es war. Die meisten Nahrungsmittelzusätze,
die in Frankreich verboten waren und deshalb in den Produkten fehlten,
wurden als unschädlich beschrieben. Andererseits werden völlig
harmlose Stoffe als kanzerogene Gifte bezeichnet. Die Liste führt
beispielsweise das E330 als das allergefährlichste an. Was sich nun
aber hinter diesem Code verbirgt, ist nichts weiter als die unschuldige
Zitronensäure, die man naturgemäß in den Orangen und Zitronen
findet und die jeder täglich in großen Mengen zu sich nimmt.
Professor Maurice Tubiana, der Direktor des Institut Gustave-Roussy in
Villejuif und weltbekannte Krebsspezialist, stellte daher fest: "Das
Flugblatt gibt eine ganze Reihe von Stoffen als gefährlich und kanzerogen
an, die äußerst banal sind und gewöhnlich in den alltäglichen
Nahrungsmitteln vorkommen [...]. Alle Wissenschaftler, die das gelesen
haben, haben schallend gelacht, weil es ein solches Sammelsurium von Albernheiten
war."
Als das Flugblatt immer wieder vervielfältigt wurde, berief es sich später ausdrücklich auf das Krankenhaus von Villejuif. In Wahrheit hat das Krankenhaus niemals etwas Derartiges autorisiert: Das Institut Gustave-Roussy in Villejuif hat wiederholt jede Verantwortung für den Inhalt der besorgniserregenden Liste zurückgewiesen. Doch alles war vergebens: 1986 kursierte das Flugblatt trotz der wiederholten Dementis immer noch. Da man allgemein von seiner Echtheit überzeugt ist, verteilt man es in Grundschulen, sozialen Einrichtungen, Krankenhäusern, medizinischen und pharmazeutischen Fakultäten, die besonders empfänglich für den Hinweis auf das berühmte Krankenhaus sind. Einige Zeitungen haben es unverändert und ungeprüft abgedruckt. Was noch viel fataler ist: Ein Mediziner schrieb 1984 ein populärwissenschaftliches Buch über den Krebs und gab die Liste der "kanzerogenen Produkte" wieder, ohne Nachforschungen anzustellen, womit er eine Fehlinformation wissenschaftlich legitimierte und dazu beitrug, daß man an solch harmlosen Produkten wie etwa dem Käse "La Vache-qui-Rit" oder dem Amora-Senf zu zweifeln begann.
DAS KRANKENHAUS VON VILLEJUIF INFORMIERT: Alle folgenden Zusatzstoffe sind gegenwärtig in Frankreich zugelassen, müssen aber angegeben werden. Schränken Sie den Gebrauch dieser Zusätze ein, indem Sie beim Einkauf eine Auswahl der Produkte vornehmen (der Verbraucher beeinflußt die Entscheidungen der Hersteller). DENKEN SIE AN IHRE KINDER Vervielfältigen Sie
dieses Dokument, verteilen Sie es in Ihrer Umgebung. Machen Sie
es durch Aushang bekannt.
DARMKANAL (Störungen):
E221 - E222 - E223 - E224 - E226 Beispiele: |
Quelle: Jean-Noël Kapferer, Gerüchte - Das älteste Massenmedium der Welt, Paris 1987/95, Leipzig 1996, S. 55