DER FREUNDLICHE HIRT

Es ist schon viele tausend Jahre her, da lebte in Indien der König Akira mit seiner Gemahlin. Sie hatten einen Sohn, der hieß Raman. Als dieser größer wurde, sagte der König eines Abends, als er nicht einschlafen konnte, zur Königin: "Unser Sohn wird immer älter und hat noch nichts gelernt. Es wird Zeit, daß wir ihn unterrichten lassen." Die Königin war sehr eingebildet, und sie erwiderte hochmütig: "Wozu, ein Prinz braucht nichts zu lernen." Da sprach der König: "Was nützt die Zunge, wenn sie stumm ist? Recht viel zu lernen ziemt der Jugend. Was nützt ein Sohn mir, wenn er dumm ist? Der wahre Adel ist die Tugend." "Du beliebst, dich sehr grob auszudrücken", sagte die Königin. Aber der König hörte nicht auf sie und fuhr fort: "Ein freier Mann tut nur, was wahr ist und was recht ist, und so muß jedes Kind erzogen werden, denn wer nicht weiß, was gut ist und was schlecht ist, der ist fürwahr der dümmste Wicht auf Erden."

Jetzt glaubte die Königin, das richtige Widerwort gefunden zu haben, und schnippig fragte sie: "Wer soll ihn denn erziehen? Wir haben keinen Schulmeister." Das stimmt freilich, denn der Beruf des Schulmeisters wurde erst ein paar tausend Jahre später erfunden. Jedoch der König ließ sich nicht ins Bockshorn jagen und antwortete: "Aber es gibt Hirten. Das sind kluge Leute. Wenn einer eine ganze Hammelherde leiten kann, wird er doch wohl auch mit einem einzigen Jungen fertig werden."

Empört fuhr die Königin auf: "Du tust ja gerade so, als ob mein Sohn ein Schaf wäre." "Stimmt", brummte der König ungerührt. "Zur Zeit ist er noch ein kleines Schäfchen. Also werden wir ihn morgen einem Hirten anvertraun, daß er ihn erziehe."

Die Königin setzte sich mit einem Ruck im Bett auf, stemmt die Hände in die Seite und machte ihrem feudalen Herzen in einer gewaltigen Rede Luft. Aber der König hörte gar nicht, was sie sagte; er warf sich befriedigt gähnend auf die andere Seite, zog die Schlafmütze über die Ohren und begann zu schnarchen, als ob er einen Baumstamm durchsägen wollte. Als am nächsten Tag der Hirt, den Akira bestellt hatte, in den Palast kam, beschloss die Königin, den Hirten gründlich hineinzulegen und lächerlich zu machen. Mit sauersüßer Miene fragte sie ihn: "Wenn du so klug bist, wirst du mir sagen können, wie viel Blätter der große Baum da draußen vorm Fenster hat." Der Hirt sagte, ohne sich zu besinnen: "Der Baum hat achttausend siebenhundertdreiundneunzig Blätter." Verblüfft fragte die Königin: "Wie willst du das so genau wissen?" "Zähle doch nach, wenn du es nicht glauben willst", sagte der Hirt lächelnd.

Die Königin schluckte ihren Ärger hinunter und sagte: "Eine zweite Frage: was brennt länger, eine Talgkerze oder eine Wachskerze?" "Beide brennen kürzer", antwortete der Hirt.

Jetzt wurde die Königin wütend und stieß hervor: "Vielleicht kannst du auch Gedanken lesen? Weißt du, was ich denke?"

Der Hirt nickte und sagte in aller Seelenruhe: "Gewiß, du hast gerade zwei Gedanken im Kopf, einen richtigen und einen falschen."

"Und das wäre?" "Erstens denkst du, dieser Hirt ist nicht so dumm, wie er aussieht, und der Gedanke ist richtig. Zweitens denkst du, du seiest klüger als ich, und der Gedanke ist falsch."

Da rauschte die Königin hinaus. Der König aber lachte und sprach: "Des Menschen Geist wird eng und klein, macht er mit dummen sich gemein. Die Toren werden nie gescheit; die klugen aber bringen's weit." Der Hirt entgegnete: "Wenn Eltern ihre Kinder nicht belehren, dann ernten sie im Alter schlechten Lohn. Wer nichts gelernt hat, kommt zu keinen Ehren und erntet von den Menschen Spott und Hohn."

"Sehr richtig," rief der König, "und deshalb sollst du meinen Sohn unterweisen. Komm mal her, Raman!"
Der Junge hatte es ein wenig mit der Angst bekommen und trat nur zögernd näher. Aber der Hirt ermutigte ihn und sagte: "Nicht so schüchtern! Du hast doch Tiere gern, nicht wahr?"

Als Raman nickte, sagte der Hirt: "Na also! dann werde ich dir etwas von den Tieren erzählen"... und er erzählte ihm viele Fabeln...


Quelle: Indische Tierfabeln, Gerhard Kahlo, Leipzig 1952
email Zusendung von Margret Obkircher, 11. Oktober 2001