SIEBENZEHN

»Hurra! Die Großmutter will ein Märchen erzählen! Lieschen, komm schnell herein!« rief Hans aus der Haustür in den Garten hinaus.

»Will sie?« tönte es freudig zurück, »gleich bin ich da!« In der Ligusterhecke raschelte es, die dichten Zweige wurden zurückgebogen und in der Öffnung zeigte sich ein lachendes Kindergesicht. »Da bin ich schon!« rief Lieschen und strebte eilig durch die es an den Kleidern und den Füßen festhaltende Hecke, purzelte über einen nicht beachteten niedern Zweig, sprang fröhlich wieder auf und eilte dann lachend ins Haus.

Bald saß die Großmutter auf ihrem gewöhnlichen Platze, Hans hatte einen Stuhl dicht vor sie hingezogen und harrte in erwartungsvoller Spannung. Lieschen stand dicht an seiner Seite, und ihr leuchtender Blick hing an den lieben, milden Zügen der allzeit gütigen Großmutter. Die Mutter aber hantierte geräuschlos in dem Zimmer und sah oft mit stillem Glück auf die schöne, friedliche Gruppe der Lieben.

»Die Zahl siebenzehn«, so begann die Großmutter, »hat in meinem Leben eine ganz besondere Bedeutung gehabt. In meinem Siebenzehnten Lebensjahr lernte ich euren Großvater kennen, gerade siebenzehn Meilen von meinem Elternhause war meine neue Heimat, als ich dem Großvater folgte, siebenzehn glückliche Jahre habe ich an seiner Seite verlebt, und am Siebenzehnten Tag eines Monats war es, an dem er die Augen für immer schloß. Unendliches Glück und viel Leid haben die ungerade Zahl in meinem Leben umwoben und sie mir so teuer gemacht wie keine andere, aber auch mir alles eingeprägt, was irgend mit ihr zusammenhing, manche kleine Begebenheit im Hause oder unter den Nachbarn, manche Geschichte sogar, die ich gelesen hatte und der merkwürdigen Zahl wegen für immer behielt. So ging es mir auch mit der Geschichte, die ich euch heute erzählen will. Sie stand in einem alten Buche, ich weiß nicht, wo es herkam, das ganz in Schweinsleder gebunden und an den Ecken des Deckels mit Silber beschlagen, auch mit einem Bügel zum Schließen versehen war. Das erste, was mir in die Augen fiel, als ich das Buch aufschlug, war die Zahl siebenzehn, und als ich genauer nachsah, merkte ich, daß sie auch den Titel einer Erzählung bildete. 'Die mußt du lesen', dachte ich und machte mich gleich daran. Jetzt paßt auf, was da stand.

Die Geschichte fing gerade so an wie die Märchen.

Es war einmal ein Sultan - wie er hieß, kann ich nicht mehr sagen —, der herrschte über ein mächtiges Reich, welches so groß war, daß er siebenzehn Jahre brauchte, wenn er nur jede der siebenzehn Provinzen des Reiches einmal besuchen wollte. Weil er aber sich um alle seine Untertanen selbst kümmern wollte, ließ er sich die Mühe nicht verdrießen, einmal die siebenzehn Jahre nacheinander zu reisen und in allen Provinzen ein Jahr sich aufzuhalten. Ehe er die Reise antrat, schickte er seine Baumeister voraus, die in jeder Provinz ihm ein prächtiges Schloß bauen mußten, in dem er während seines Besuches wohnen und von dem aus er die Reisen ins Innere unternehmen konnte. So entstanden siebenzehn Schlösser in dem großen Reiche, alle mit unermeßlicher Pracht ausgestattet, denn der Reichtum des Sultans war so unerschöpflich wie das Land, über welches er herrschte.

Siebenzehn Jahre sind aber eine lange Zeit, und als der Sultan von seiner Reise, die er im besten Mannesalter - so alt wie euer Vater - angetreten hatte, zurückkehrte, da merkte er, daß er alt geworden war, und sehnte sich nach Ruhe. So beschloß er, eine zweite Reise nicht zu machen, sondern seine beiden Söhne zu schicken, die inzwischen zu stattlichen Männern herangewachsen waren. Nur eine Befürchtung hegte er. Die beiden Brüder vertrugen sich nicht gut; der ältere war herrschsüchtig und konnte die Reise ausnutzen, sich über den Jüngern Bruder Vorteile zu verschaffen. Das wollte der Sultan nicht, denn er liebte den jüngeren, weich und schwärmerisch gearteten Sohn nicht minder als den stolzen, festen und kampfeslustigen älteren. Er entschloß sich deshalb, die siebenzehn Provinzen und die siebenzehn Schlösser unter seinen Söhnen zu verteilen und so allen Streit auszuschließen. Aber gerade dadurch beschwor er den Streit, den er hatte vermeiden wollen, herauf. Der ältere Sohn erklärte, er wolle genau die halbe Zahl der Schlösser haben, da das aber nicht ginge -denn man könne doch nicht siebenzehn durch zwei teilen -, so beanspruche er als der Erstgeborene das Vorrecht, neun der Schlösser zu erhalten, während der jüngere Bruder sich mit acht begnügen müsse. Der jüngere war auch gern damit einverstanden, nicht so aber der Vater. Er schlug deshalb vor, dem älteren Sohne sollten neun Provinzen und acht Schlösser, dem jüngeren aber neun Schlösser und acht Provinzen zufallen. So glaubte er, ganz gerecht zu teilen. Der Erstgeborene aber beharrte auf seiner Forderung und sagte trotzig, eine Provinz ohne Schloß sei eine Nuß ohne Kern. Jetzt wurde der Sultan zornig, und seine Augen blitzten, als er dem älteren die Versicherung gab: 'Dir soll dein Recht werden, und nicht eins der Schlösser soll dein Bruder mehr haben als du!'

Noch am selben Tag gab der Sultan Befehl, unverzüglich alles zur Reise vorzubereiten; und schon am folgenden Tage brach er mit glänzendem Gefolge auf, um das nächste der siebenzehn Schlösser zu erreichen. Viele Wochen waren sie unterwegs, bis sie am Ziele ankamen. Aber nicht in dem prunkvollen Bauwerk mit seinen herrlichen Hallen nahmen sie Wohnung, sondern in ärmlichen kleinen Bauernhütten, die in der Nähe lagen. Als jedoch die Nacht dunkel heraufgezogen war und das Gefolge und die Brüder sich eben anschickten, die Ruhe zu suchen, erging plötzlich der Befehl des Sultans, Fackeln zu entzünden und ihn in die goldglänzenden Hallen des Schlosses zu geleiten. Verwundert, doch schweigend taten die Männer, wie angeordnet war, und als sie mit den Fackeln - zwei dem Zuge voran, dann der Sultan - dem Palast zuschritten, bot der nächtliche Zug ein ergreifendes Bild. Vor dem Schlosse wurde haltgemacht, und der Sultan ging mit den beiden ersten Fackelträgern ins Innere und herrschte den Männern zu, den glänzenden Tand mit der Glut ihrer Fackeln in Brand zu setzen. Gierig züngelten alsbald die Flammen an den Wänden empor, und kurze Zeit, nachdem der Sultan mit den Männern wieder ins Freie getreten war, brachen die Flammen durch das Dach ins Freie, die Nacht erhellend und das Menschenwerk zerstörend. 'Jetzt wird die Teilung möglich sein !' rief der Sultan seinem älteren Sohne zu. 'Bist du's zufrieden?'«

Die Großmutter hielt inne und nickte den beiden Kindern zu, die ihrer Erzählung mit atemloser Teilnahme gefolgt waren. Hans hüpfte von seinem Stuhl und sagte beteuernd: »Du, Großmutter, das war eine schöne Geschichte!«

Und Lieschen trat an sie heran und streichelte mit warmer Dankbarkeit ihre Hände. »Das war schade«, meinte sie, »durfte er denn das anzünden? So ein garstiger Bruder.« Die Großmutter lächelte freundlich. Plötzlich sagte sie: »Heut ist ja gerade der siebenzehnte, der Tag steht also zu meiner Geschichte und zu meinem Leben in rechter Beziehung, da müssen wir ihn wohl ein wenig feiern. Geh einmal in den Keller, Hansel, wo die Apfel liegen, und hol ein paar herauf.«

Das ließ sich Hans nicht zweimal sagen, mit einem Satz war er an der Tür. »Wie viele?« rief er fragend zurück, »auch — siebenzehn?« fügte er schelmisch hinzu.

Die Großmutter drohte ihm mit dem Finger, nickte aber doch freundlich bejahend mit dem Kopfe. Hans stürmte vorwärts, polterte die Treppe hinunter und riß die Tür zum Keller so hastig und kraftvoll auf, daß sie mit lautem Krach rückwärts gegen die Wand schlug. Es kümmerte ihn nicht; sein Blick suchte die Äpfel, die er auch bald entdeckt hatte. Er zählte. Eins, zwei, drei - fünf; soviel gingen in jede Hosentasche. Fünf und fünf machen zehn, sieben in den Händen, sind zusammen siebenzehn. Das geht gut, dachte er und wollte eben aus dem Keller zurück, als ihm das Teilen einfiel. Die Großmutter aß kein Obst, also waren alle siebenzehn Stück für ihn und Lieschen bestimmt. Hm, wer bekäme da neun? Ein Apfel war ihm entfallen und lag auf dem Boden; Hans hielt die übrigen um so fester und schaute sinnend vor sich hin, bis ein listiges Lächeln über seine Züge huschte und er einem Einfall folgte, der ihn sehr klug dünkte. Er legte die Früchte, welche er in der Hand hielt, sorgfältig in einen großen Krug, hob den ihm entfallenen auf und - biß hinein. Er mußte köstlich schmecken, denn er verzehrte ihn mit größtem Behagen. Dann leerte er den Krug wieder und eilte zurück in die Stube, wo Lieschen ihn bereits sehnsüchtig erwartete.

»Hier, Großmutter!«

Die alte Frau zählte nach - Sechs, acht, elf, vierzehn - sechzehn ... Hans wühlte in den leeren Taschen.

»Nun?« fragte die Großmutter.

Hans war verlegen. Er hatte doch etwas voreilig gehandelt. Er erkannte es jetzt, faßte sich aber ein Herz und meinte: »Großmutter, die siebenzehn Schlösser ließen sich auch nicht teilen - da habe ich den einen Apfel aufgegessen, jetzt kriegt jeder acht!«

»So, so!« entgegnete langsam die Großmutter. »Meinst du? Aber ich will dir etwas sagen: man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, und eine Geschichte muß man zu Ende hören. Die meine war noch nicht zu Ende. Wo war ich doch stehen geblieben? Richtig: 'Jetzt wird die Teilung möglich sein', sagte der Sultan zu seinem älteren Sohn, 'bist du's zufrieden?' Aber er sagte dann noch mehr. 'Ich habe dir gelobt', waren seine Worte, 'dir solle dein Recht werden und dein Bruder solle nicht eines der Schlösser meines Reiches mehr haben als du. Nun wohlan! Du hast dich habsüchtig und trotzig erwiesen gegen deinen Vater, und dein Recht ist deine Strafe! Nicht einen der stolzen Paläste gebe ich dem Jüngsten mehr, das ganze Land ist sein, und du bist sein Vasall!'

Das ist der Schluß. Ist's gut so, Hans?«

Die Großmutter sah ihn merkwürdig eindringlich an und Hans erkannte mit Schrecken, daß seine Sultansweisheit ihm einen argen Streich gespielt.

»Acht Äpfel!« murmelte er und schlich trübselig hinaus.


Quelle: Jugendgrüße, Dresden/Wien, um 1900