DIE FROMMEN SCHLÄFER

Paul war ein munterer Bursche und von Jugend auf mit dem Meer vertraut. Wenn es glatt wie ein Spiegel vor ihm lag, schaute er träumend darüber; wenn der Sturm die aufgeregten Wellen peitschte, steuerte er mutig in den Schwall hinein. Von einer langen Reihe von Seefahrern abstammend, hatte er selbst die Matrosenjacke angezogen und war an Bord eines Schiffes gegangen, das nach Indien bestimmt war.

Ehe er sich für lange Zeit von der Heimat trennte, eilte er nach dem Hafendamm, an dessen Ende ein unscheinbares Haus lag. Er klopfte an die Tür, und ihm entgegen trat ein wunderliebliches Mädchen mit blauen Augen und goldenem Ringelhaar. Gladie hieß ihn freundlich willkommen und führte ihn in ein reinliches, mit niederländischer Sorgfalt aufgeputztes Stübchen, wo eine alte Frau am Spinnrad saß.

„Grüß Euch Gott, Mutter Jantzen!" rief Paul und Gladie setzte hinzu: „Mutter! der Paul geht nach Ostindien und will vorher von Euch Abschied nehmen."

Die Alte zog ein schiefes Maul und sagte: „Schon gut. Seid fein ordentlich, betragt Euch wie ein vernünftiger Mensch und haltet Euer Geld zusammen."

„Ihr seid ja verdammt kurz", brummte Paul und Gladie setzte schmeichelnd hinzu: „Aber, Mütterchen, ist denn der Paul nicht einen freundlicheren Abschied wert?"

„So freundlich er will, mit Handschlag und Segen, aber dann soll er machen, daß er an Bord kommt. - Er ist mir ohnedies schon viel zu lange im Wege."

Das letzte murmelte sie vor sich hin.

„Nun gut", sagte Paul. „So will ich denn gehen, aber vorher seid Ihr mir noch etwas schuldig."

„Was?" fuhr die Alte auf. „Ich Euch etwas schuldig? Habe ich jemals einen Stüver von Euch geborgt? Seht doch! Was so ein Bursche sich herausnimmt!"

„Ich habe nicht gesagt, daß Ihr mir Geld schuldig seid; ich bekomme etwas anderes von Euch, Gladies Hand."

„Ei, seht mal! Das ist nicht wahr!"

„Ihr habt meinem armen Vater versprochen, daß Gladies und Paul ein Paar werden sollten. So beruhigt ist er gestorben."

„Das war damals!"

„Es ist heute um kein Haar anders. Wir sind beide arm, und wenn Gott kein Wunder tut, werden wir es wohl zeitlebens bleiben. Das schadet auch nicht, denn wir haben ein frohes Gemüt und Lust zum Arbeiten -"

„Gewöhnlicher Bettelmanns-Sang", unterbrach ihn die Alte.

„Macht ein Ende, Mutter Jantzen!" rief Paul dringender.

„Morgen darf ich nicht mehr an Land. Ruft einige unbescholtene Nachbarn und erklärt uns als Brautleute. Dann reise ich fröhlich ab und wenn ich von Batavia wiederkomme, bauen wir den eigenen Herd. Wind und Flut warten auf keinen Menschen, darum macht schnell!"

Gladie streckte bittend die Hände aus, aber die Alte rief ein barsches „Nein!"

„Das heißt also, Ihr nehmt das meinem Vater gegebene Wort zurück?"

„Kann wohl sein."

„Ich weiß auch, warum. Ihr habt einen reichen Freier zur Hand. Ihr wollt sie dem alten buckligen Vanbeest geben; aber den mag sie nicht und zwingen dürft Ihr sie nicht, dafür bin ich noch da!"

„Was?" kreischte die Alte im Zorn. „Willst mir drohen? Das soll dich teuer zu stehen kommen! Also Gladie soll Mynheer Vanbeest nicht heiraten? Das wollen wir sehen! Geh deiner Wege, oder ich kratze dir die Augen aus!"

Der junge Mann, von Gladies bittenden Blicken besänftigt, faßte sich: „Ihr seid gegen mich, eine arme Waise, die Eurem Schütze anvertraut war, wortbrüchig geworden. Ihr wollt Eure Tochter verkuppeln, und zwei Herzen durch Eure Grausamkeit brechen. Diese dreifache Sünde wird Gott schon an Euch rächen! Wir werden uns wiedersehen, aber wahrlich nicht zu Eurem Heil."

Er stürmte fort. Gladie folgte ihm mit großer Angst: „Beschließe nichts Böses! Laß mir in meiner Einsamkeit den Trost, daß du ein braver Mensch geblieben bist."

Paul zog sie an seine Brust: „Sei ohne Furcht! Aber fort kann ich nicht, ohne mit dir verlobt zu sein. Darum schicke ich noch heute das Handgeld zurück. Ich werde zwar für einen wortbrüchigen Mann gelten, aber du gehst mir über alles."

„Tue, wie du willst, Paul! Laß mich nur nicht die Frau dieses schrecklichen Vanbeest werden, der wie ein Teufel in Menschengestalt aussieht. Und nun geh in Frieden; ich will für uns beten."

Sie kehrte in das Haus zurück, Paul aber rannte weiter und stieß bald darauf mit dem Hafenkommandanten Mynheer Vanbeest zusammen, der darüber sehr ungehalten wurde.

„Entschuldigt, Mynheer!" rief der junge Mann, aber jener hielt ihn fest: „Aha! Seid Ihr es, Meister Paul? Noch an Land und sollt mit Tagesanbruch unter Segel? Dafür werdet Ihr die Katze fühlen, denke ich."

„Laßt mich los, Mynheer!"

„Bei Mutter Jantzen gewesen? Ist der Abschied schwer geworden? Wenn Euch das gelbe Fieber nicht würgt, werdet Ihr bei Eurer Wiederkehr vieles anders finden. Packt Euch an Bord, junger Taugenichts, und dankt es meiner Milde, daß ich Euch nicht als mutmaßlichen Ausreißer auspeitschen und gebunden an Bord bringen lasse."

Er ging höhnisch lachend weiter, und Paul lief in seine Wohnung, schickte mit einem schläfrigen Bootsführer das Handgeld an Bord und harrte nun mit klopfendem Herzen der Ereignisse der nächsten Tage.

Gladie und Paul sahen sich allabendlich. Einst kam sie ihm mit verweinten Augen entgegen: „Übermorgen soll die Hochzeit sein!" schluchzte sie. „Wenn das geschieht, sterbe ich. Darum rette mich, Paul! Ich folge dir, wohin du immer willst."

„Ich will alles tun, was ich vermag. Versuche dir eine Matrosenjacke zu verschaffen und erwarte mich morgen abend an dieser Stelle. Lebe wohl."

Noch war Paul nicht hundert Schritte weit gegangen, als ihm Vanbeest den Weg vertrat und nach der Hafenwache schrie, die den Deserteur binden sollte. Beide rangen miteinander; der Alte schwankte und fiel rücklings von der Hafenmauer. In demselben Augenblick nahten Tritte. Paul entfloh.

Doch ein baumlanger Kerl hielt ihn in seinem Lauf fest:

„Welcher Teufel heißt Euch so laufen? Hatte trotz meiner langen Beine Mühe, mit Euch Schritt zu halten. Habe alles gesehen! Ihr habt den Hafenkommandanten tüchtig gepackt!"

„Schweigt!"

„Warum denn? Hier hört uns ja niemand."

„Ich habe mich nur meiner Haut gewehrt. Er strauchelte und fiel. Das ist nicht meine Schuld."

„Schon gut. Damit habe ich nichts zu schaffen. Ich sah nur, daß Ihr Mut habt, solche Leute kann ich brauchen. Es fehlt noch an Leuten auf meiner Fregatte."

„Ich gehe mit Euch, ganz gleich, was ich bekomme, wenn ich nur bald von Rotterdam weg kann."

„So schnell wie möglich."

„Dann bin ich Euer! Aber eine Bedingung habe ich noch."

„Fordere, mein Junge."

„Ich habe einen jungen Kameraden, der noch nie zur See war und sich von mir nicht trennen will. Wenn Ihr den auch annehmt und ihm eine besondere Hängematte zuweist -."

„Er soll seine eigene Hängematte haben. Aber du mußt dich versteckt halten, damit sie dich nicht finden, ehe du zu mir an Bord kommst. Ich will dich an einen Ort bringen, wo der Teufel selbst dich nicht finden soll."

Nach vielen Umwegen führte ihn der Fremde in ein hell erleuchtetes Haus: „Hier wohne ich. Du wirst hier den größten Teil deiner künftigen Kameraden finden. Bleibe bis morgen nacht hier und komme dann mit deinem Kameraden an Bord. Da ist Geld. Ein Seemann muß an Land großzügig sein!"

Paul trat in einen hellen Saal. Musik brauste ihm entgegen, Tänzer drehten sich im Kreis. An langen Tischen saßen fröhliche Zecher, von üppigen Mädchen bedient. Paul stand wie erstarrt, denn er war nie an einem solchen Ort gewesen. Sein linkisches Betragen fiel allgemein auf und bald sah er sich von zischelnden Weibern umringt.

Plötzlich sprang eines aus der Menge hervor und hängte sich an den Arm des schüchternen Paul. Dieser aber, seiner züchtigen Gladie gedenkend, riß sich los und warf die Zudringliche beiseite, deren Schimpfworte von dem Gelächter der anderen übertönt wurden.

„Recht, Kamerad!" rief ein kleiner, untersetzter Kerl dazwischen. „Mußt dir von diesem Weibsvolk nichts gefallen lassen. Komm du lieber mit mir zu dem flotten Volk dort am Tisch. Wir wollen eins trinken!"

Die Trinker empfingen den sich Sträubenden mit lautem Gebrüll und zwangen ihn, aus einer großen Kanne Branntwein zu trinken. Bald begann er zu taumeln und schalt auf die, die ihn verleitet hatten zu trinken. Man hieb aufeinander ein, bis es blutige Köpfe setzte. Er sank betäubt zu Boden und erwachte erst am hellen Morgen unter den heftigsten Schmerzen. Noch nie hatte er während seines ganzen Lebens so geschwelgt, wie in dieser kurzen Zeit. Hader und Zank hatte er nie gehabt. Zitternd sprang er auf, als ihm der Kapitän mit einem barschen „Wohin?" entgegentrat.

„Hinaus muß ich! Hinaus! Mein Kopf brennt!"

„Das geht nicht! Vor einer Stunde starb Vanbeest, und man ist auf deiner Spur."

„Ich bin schuldlos."

„Das glaubt niemand. Du bleibst hier zur Nacht und gehst dann mit deiner Dirne an Bord!"

„Es hausen fürchterliche Menschen auf Eurem Schiff. Ich will nicht an Bord bei Euch!"

„Dann liefere ich dich aus."

Paul blieb unter den grauenhaftesten Gewissensqualen zurück. Als die Nacht einbrach, führte der Kapitän ihn an den Ort, wo Gladie auf ihn wartete. Das Mädchen warf sich an seine Brust: „Paul, mein Paul! Du bist kein Mörder! Und ich gehe mit dir, wohin du willst!"

Der Kapitän drängte. Die Hafenwache zeigte sich, und mit innerem Widerstreben wurden sie in ein Boot gebracht, das rasch dem Schiff zustrebte.

„Wie heißt Euer Schiff?" fragte Paul mit halblauter Stimme einen Ruderer.

„Der Teufel und seine Großmutter!" antwortete dieser mit schallendem Gelächter, und Fieberschauer ergriff die beiden schuldlosen Kinder, als sie in das Zwischendeck geschickt wurden. Am anderen Morgen befand man sich auf offener See, und als Paul fragte, was er zu tun habe, wurde ihm geantwortet, das werde sich alles finden.

Mit Grauen erkannte Paul, daß er sich an Bord eines Seeräubers befand, der die empörendsten Grausamkeiten beging.

„Ich werde mich blind weinen", schluchzte Gladie, „um nur eure Greueltaten nicht mehr zu sehen."

Paul weigerte sich beharrlich, irgendwo Hand anzulegen. Man lachte über ihn und drohte, ihn totzupeitschen, samt seiner Dirne, wenn er sich nicht bis zum folgenden Morgen besonnen habe.

Aber ehe diese Frist zur Hälfte verstrichen war, erhob sich ein mächtiger Sturm, der von Stunde zu Stunde wuchs. An Bord herrschte eine gräßliche Verwirrung: einer betete, ein anderer fluchte, die meisten tranken sich um ihr Bewußtsein. Paul und Gladie beteten laut um Rettung aus dieser Not.

Vergebens beriet sich der Kapitän mit den erfahrensten Seeleuten. Keiner wußte Hilfe, bis die Reihe an einen langen, hageren Kerl mit struppigem Haar und verworrenem Bart kam, der mit gellendem Gelächter rief: „Ihr müßt alle das Abendmahl nehmen und die Hostie, statt sie hinunterzuschlucken, ins Meer werfen, dann wird der Sturm sogleich beschworen!"

„Du hast gut Rat erteilen, Bursche! Woher nehmen wir das Zeug?"

„Wollt Ihr mir tausend Gulden zahlen, wenn ich den Sturm besänftige?"

„Das gelobe ich dir!"

„So hört! Beim letzten Streif zug an der Küste guckte ich aus Neugier in eine Kirche. Da fand ich zwei große silberne Leuchter, einen vergoldeten Kelch und eine goldene Dose mit Hostien. Ich nahm das alles fein sauber unter meine Jacke, und der Pfaffe, der dazu kam und mich nicht hindern konnte, schwor, die heiligen Gefäße würden mein Verderben sein. Nun bin ich daran, den Pfaffen Lügen zu strafen."

Er stieg hinab. In diesem Augenblick ward der Sturm heftiger, die Wellen wuchsen höher, aber keiner achtete darauf; sie empfingen den aus dem Zwischendeck zurückkehrenden Kameraden mit lautem Jubelgeschrei.

Der Kirchenräuber stellte die geweihten Leuchter auf und dazwischen die ebenfalls geraubte Monstranz. Dann trat er, den mit Branntwein gefüllten Kelch in der einen, die Schachtel mit den Hostien in der anderen Hand, hervor, ließ jeden aus dem heiligen Gefäß trinken und gab jedem eine Hostie. Die rohen Gesellen nahmen, wie ihnen vorhin gesagt worden war, diese wieder aus dem Mund und warfen sie mit lauten Flüchen in die See. Paul und Gladie aber sanken vom Jammer überwältigt in die Knie und beteten eifrig.

Aber in demselben Augenblick, als die Hostien die Fläche des Meeres berührten, erblickte man in den Wolken eine gigantische blutrote Hand, die auf das Schiff deutete. Der Sturm schwieg, die Wellen sanken, kein Hauch bewegte die Luft. Die Menschen waren verstummt und sanken regungslos zu Boden. Es war ein Bild des Todes.

Hundert Jahre waren verstrichen, da trieb ein Schiff ohne Segel und Steuer in den Hafen von Rotterdam. Alle betrachteten es mit neugierigem Staunen, und erst als sich stundenlang kein lebendes Wesen an Bord zeigte, stiegen einige Beherzte hinauf. Sie erschraken heftig, als sie das Deck mit Gebeinen bedeckt fanden und mitten darunter die Monstranz und die heiligen Gefäße. Seitwärts aber erblickten sie zwei jugendlich-schöne Gestalten, die sanft und ruhig zu schlafen schienen. Noch betrachtete man diese mit stiller Verwunderung, als sie erwachten und mit einem seligen Lächeln sich umarmten.

„Wir haben nur geträumt", flüsterte Gladie. „Preis sei Gott!"

Man bestürmte sie mit Fragen. Erstaunen und Grauen erfaßte die Umstehenden bei Pauls Bericht. Keiner wollte Gladies Mutter kennen, niemand von einem Hafenkommandanten Vanbeest etwas wissen. Da entsannen sich einige ältere Männer, daß sie von ihren Großeltern eine ähnliche Geschichte gehört hätten; auch erinnerte man sich, daß einstmals ein berüchtigter Seeräuber sein Schiff ,Der Teufel und seine Großmutter' in den Hafen von Rotterdam unter neutraler Flagge gebracht und Seevolk angeworben habe.

„Das ist über hundert Jahre her!" rief ein alter Hafenknecht. „Und wie mein alter Großvater, der damals lebte, versicherte, lag es auf derselben Stelle, wo jetzt dies Wrack liegt."

Mit scheuer Ehrfurcht sah das Volk auf die beiden jugendlichen Gestalten, die der Herr beschirmt hatte in der Stunde der Not und die er jetzt aus hundertjährigem Schlaf erweckte, damit sie von seiner Größe, Macht und Herrlichkeit ein redendes Zeugnis ablegten. Sie gingen zu der Kirche, die jener Verwegene einst bestahl, setzten die heiligen Gefäße ehrfurchtsvoll auf den Altar und sanken betend nieder. Der Geistliche schloß die wunderbar Erhaltenen in seine Arme.

Die ganze Gemeinde betete mit ihnen; die vollen Töne der Orgel klangen hell und feierlich. Paul und Gladie aber sanken mit dem Ausruf „Vater im Himmel, in Deine Hände befehle ich meinen Geist!" zu Boden.

Erschrocken sprang der Geistliche zu: er hielt zwei Leichen im Arm. Sie waren nun wirklich gestorben. Am Fuß des Altars wurden sie begraben und ihr Grab wird noch heute gezeigt.

Als man aber später nach dem Hafen zurückging, um das gespenstische Schiff näher zu untersuchen, war es verschwunden.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849