DIE GLÜCKLICHE PROBE

Wenn beim Untergang der Sonne sich leichte Nebelwölkchen auf den Spiegel des Mittelmeeres lagern, über den der scheidende Tag einen leisen Rosenschimmer haucht, dann sagen die Küstenbewohner der lieblichen Provence: „Seekönig führt den Brautreigen an."

Seekönig ist an der ganzen provençalischen Küste ein zugleich geliebter und gefürchteter Mann. Wenn ein Brautpaar getraut werden soll, dann wirft der Brautvater ein Goldstück ins Meer und sing dazu folgendes Lied:

König im kristallnen Schloß,
Tue auf den Wellenschoß!
Lieblich blinket das rötliche Gold,
Sei der flehenden Liebe hold,
Was wir haben, bringen wir dar,
Freundlich lächle dem jungen Paar.

Wenn aber der Fremde, erstaunt über diesen Brauch, neugierig nach dessen Bedeutung fragt, erzählt man ihm folgende Geschichte: Auf dem Grund des Meeres ist eine Welt, die der unsrigen vollkommen gleicht. Wenn Ihr in die Tiefe taucht, und durch den Kreis gedrungen seid, wo die Fische und Seeungeheuer hausen, dann gelangt Ihr auf den eigentlichen Meeresgrund, der ebenso gestaltet ist wie die Oberläche der Erde, nur daß dort unten alles viel reicher, schöner und mannigfaltiger ist. Ein ganz anderes Licht umstrahlt alle Gegenstände, die Blätter sind Smaragde, die Tautropfen sind mächtige Brillanten.

Hier herrscht Seekönig an der Seite seiner liebevollen Gemahlin. Ihr Besitz ist ihm aufs neue für ein Jahrtausend gesichert. Dieser Ruhe erfreut er sich noch nicht lange; noch vor zwei kurzen Jahrhunderten war er mit dem gänzlichen Verlust seines größten Kleinods bedroht. Seekönigs Geliebte ist eine Staubgeborene; er entbrannte in Liebe für sie, und sie stieg mit ihm in die Tiefe des Meeres hinab.

Die dunklen Mächte der Unterwelt, die dem schwachen Sterblichen keine dauernde Liebe zutrauen, bestimmten, daß Seekönig seine irdische Gattin nach einer bestimmten Zeit verlieren solle, es sei denn, er fände ein Mägdlein, dem Geliebten unerschütterlich treu und jeder Versuchung widerstehend. Die finsteren Richter der Unterwelt glaubten, zweimal könne die schwache Menschheit ein so starkes Wesen nicht hervorbringen, aber sie täuschten sich, denn die Treue der provençalischen Mädchen ist weltbekannt.

In einer heiteren und reizenden Gegend liegt hart am Mittelmeer ein kleines, von wohlhabenden Fischern bewohntes Dorf, réseau béni genannt. Vater Claude war der reichste und angesehenste Mann dieses Ortes, er hatte das beste Haus, einen fruchtreichen Garten und gesegnete Äcker. Vor allem aber hatte er eine hübsche achtzehnjährige Tochter, La belle Thérèse genannt. Keiner, der sie sah, blieb bei ihrem Anblick gleichgültig. Die Zahl ihrer Bewerber stieg mit jedem Monat, denn auch von entfernten Orten kamen sie herbei, und Vater Claude hatte genug zu tun, die vielen Freier mit guter Manier abzuweisen, denn Thérèse hatte ihr Herz längst verschenkt. Es gehörte einem braven, redlichen, aber armen Jungen, der nichts zu einem künftigen Hausstand mitbrachte als seinen guten Willen. Die Liebenden hatten ihr Geheimnis dem Vater Claude offenbart, dieser willigte aus Liebe zu seiner Thérèse ein, und nun sagten die abgewiesenen Freier, Vater Claude habe seine Tochter nicht anders loswerden können, und sie darum diesem Bettelkerl nachgeworfen; jener aber kehrte sich nicht daran und traf ohne Zaudern die umfassendsten Vorbereitungen zu einer glänzenden Hochzeit.

Der festliche Tag wurde anberaumt. Von nah und fern kamen die Gäste herbei, viele mit frohem, viele mit neidischem Herzen, alle aber mit dem festen Vorsatz, tüchtig zu jubilieren. Schon mit Anbruch des Tages war der Platz vor dem Hause des Brautvaters mit tanzenden und singenden Menschen bedeckt, und als die Sonne vollends aus den Wellen stieg, trat Vater Claude mit dem Brautpaar aus dem Haus und ging dicht an das Ufer, um dem Seekönig das übliche Opfer zu bringen. Kaum aber hatte der Vater das Liedlein gesungen und das Goldstück in die salzige Flut geworfen, als die Wogen aufrauschten, und die Brandung hoch emporzischte. Alle staunten über dieses seltsame Ereignis, und noch hatte vor Schreck keiner den Mund öffnen können, als der plötzliche Aufruhr des Elements sich ebenso schnell wieder legte, und ein junger Mann mit heiterem Gesicht unter die Menge trat und ihr einen fröhlichen Tag wünschte. Er war wie ein Bewohner der dortigen Gegend gekleidet und reichte der Braut einen großen Blumenstrauß. Thérèse wunderte sich zwar, daß die Blumen ohne Geruch waren, und daß es unter ihren Blättern hervorblitzte wie Perlen und Edelsteine, doch gebot ihr die Sitte, das dargebotene Geschenk zu behalten, und ihr Vater lud den jungen Mann mit der freundlichsten Miene ein, der Hochzeit beizuwohnen.

Thérèse hatte bis zum Kirchgang genug zu tun, sich mit ihren Freundinnen zu unterhalten. Plötzlich zogen diese sich von ihr zurück und sie befand sich - sie wußte nicht, wie das zugegangen war - auf einer einsamen Stelle am Meeresufer. Der junge Fremde stand vor ihr und sah sie mit einem durchdringenden Blick an. Sie erschrak und wollte fliehen, aber er ergriff ihre Hand, beschwor sie, ihn anzuhören, gestand ihr seine glühende Liebe, flehte sie an, ihm zu folgen und den armen Charles laufenzulassen, der sie nimmer wahrhaft beglücken könne. Sie hörte ihn kaum an, und lief mit lautem Hilfegeschrei davon. Bald fand sie Charles, erzählte ihm, was ihr begegnet sei und dieser eilte nun, um den Zudringlichen zur Rede zu stellen; aber der war schon verschwunden.

Gleich darauf erschien ein junges Mädchen. Sie suchte einen kundigen Schiffer, der ihre Gebieterin an Bord des großen Schiffes brächte, welches das äußerste Vorgebirge umkreuzte. Charles und Thérèse erblickten ein großes Schiff, das sie bis dahin nicht gesehen hatten. Das junge Mädchen aber zog eine mit Gold gefüllte Börse hervor, klingelte damit und sagte lächelnd: „Das ist das Fährgeld."

Als Charles den Klang des Goldes vernahm, drang das Gefühl der Armut so mächtig auf ihn ein, wie noch nie. Die Gelegenheit, eine so große Summe zu verdienen und sie der Braut als Morgengabe zu bringen, hatte einen unwiderstehlichen Reiz für ihn. Er bat Thérèse, ihm die kurze Abwesenheit zu verzeihen, und rannte mit der jungen Fremden auf und davon.

Die verlassene Thérèse konnte ihres Unmuts nicht Herr werden. Sie wollte zum Vater eilen und ihm alles erzählen, als ein unerhörtes Ereignis ihre Schritte fesselte. Sie sah deutlich, wie ein geräumiges Boot um das Vorgebirge fuhr. Charles saß am Steuer, ihm zur Seite ein wunderschönes reichgeschmücktes Frauenzimmer, das den Steuermann mit liebeglühenden Augen anblickte. Beide hielten sich zärtlich umschlungen und sangen ein verführerisches Lied.

Das war zuviel für das arme Mädchen. Helle Tränen stürzten aus ihren Augen, ein bitteres Gefühl erduldeten Unrechts beschlich ihr Herz, als plötzlich die Szene sich abermals änderte. Ein wilder Sturm erhob sich, die Wellen rauschten auf, Blitze zuckten durch die Wolken, der Donner hallte am Ufer wider. Das Boot, worin Charles abgefahren war, trieb zurück. Sie sah ihren Bräutigam, wie er mit einem zerbrochenen Ruder machtlos gegen die aufgeregten Wellen ankämpfte und dem Untergang entgegenging.

Unterdessen war Vater Claude mit sämtlichen Hochzeitsgästen herbeigekommen, um Hilfe zu bringen. Aber umsonst versuchte man, irgendeins der Boote, die am Strand lagen, flottzumachen. In demselben Augenblick trat der junge Unbekannte wieder zu Thérèse, ergriff ihre Hand, und flüsterte ihr zu, gemeinschaftlich mit ihm Charles zu retten. Unbewußt folgte sie, und beide erklommen eine Anhöhe, ohne daß Thérèse auf die Stimme des Vaters hörte, denn sie hatte nur Augen für Charles, der sich offensichtlich in Gefahr befand. Als sie aber die höchste Spitze des Felsenhügels erreicht hatte, schlang der Fremde den Arm um sie, rief mit lauter Stimme: „Sie ist des Seekönigs Braut!" und stürzte sich mit ihr in die Wellen. Ein Schrei des Entsetzens ward ringsum vernommen.

Charles war unterdessen hinabgesunken. Er erwachte in einer Grotte, rieb sich die Augen und sah sich kopfschüttelnd um. Da erschienen mehrere seltsam-phantastisch gekleidete Mädchen. Sie tanzten vor dem jungen Fischer, boten ihm Speisen in silbernen Schalen und Wein in goldenen Bechern an, hießen ihn in dem Reich ihrer Gebieterin willkommen und zogen ihn unter Scherzen und Lachen mit sich fort. Er folgte halb neugierig, halb unwillkürlich, und hatte keine Ahnung davon, daß er sich auf dem Boden des Meeres befand. Unterdessen hatte seine Thérèse schwere Proben zu bestehen.

Seekönig, denn das war der junge Fremde, versuchte alles, um Thérèses Liebe zu ihrem Verlobten zu erschüttern, allein vergebens. Die Sage meldet nicht, was der Seekönig empfand, als er um etwas flehte, dessen Erfüllung ihn namenlos unglücklich gemacht hätte, wohl aber verkündet sie, daß jede Macht der Rede scheiterte an dem festen und treuen Sinn der lieblichen Provençalin.

Jetzt rief Seekönig die magischen Gewalten zu Hilfe. Er winkte mit der Hand und aus der Tiefe stieg die morganische Fee mit allen ihren Nymphen. Hohe Palmenwälder rauschten über ihrem Haupt, unter den blätterreichen Kronen bluten duftende Blumen, die Berge glühten im Rosenlicht, ein breiter Silberstrom rauschte vorüber, an dessen Ufer sich eine mächtige Stadt mit silberglänzenden Mauern und goldstrahlenden Kuppeln ausbreitete. Thérèse stand wie geblendet und überließ dem verführerischen Geist willenlos ihre Hand. Sie schwebte eine Marmortreppe hinan, und ward von einer Schar anmutig gekleideter Mädchen empfangen, die sie unter Spiel und Gesang in einen großen Saal führten, der mit Gold und Edelsteinen besät war, und in dem tausend goldene Armleuchter mit farbigen Kerzen einen solchen Glanz von sich gaben, daß man den Anblick kaum ertragen konnte. Die Dienerinnen schmückten Thérèse mit den kostbarsten Gewändern und geleiteten sie in ein Gemach, das mit allen Reizen der Verführung verschwenderisch ausgestattet war. Hier blieb Thérèse allein, aber betäubt und geblendet durch all den nie geahnten Reichtum versank sie in ein bewußtloses Träumen, so daß sie den Eintritt des Seekönigs nicht gleich bemerkte.

Aber auch aus diesem neuen Kampf ging sie siegreich hervor. Sie entfloh dem Verführer und gelangte in einen weiten Park. Der erglänzte in magischem Licht. Große Blumenterrassen erhoben sich an allen Seiten, buntbeschwingte Vögel flatterten herbei, Quellen plätscherten unter Rosenbüschen dahin, eine unsichtbare, wollustatmende Musik ertönte, Tänzer und Tänzerinnen schwebten die Wege auf und ab.

Betäubt von allem, was mit ihr vorging, sank Thérèse auf eine üppig schwellende Rasenbank und fand Seekönig, seine Bewerbungen erneuernd, sich zur Seite. Thérèsens Phantasie war zu erregt, als daß die Schmeicheleien eines so mächtigen Wesens noch länger in ein lässiges Ohr gefallen wären. Schon wankte sie, ob sie dem beharrlichen Werben nachgeben sollte, da war es ihr, als dringe ein Schrei des Schmerzes an ihr Ohr und dieser Schrei kam von Charles. Zum vollen Bewußtsein erwacht, sprang sie von ihrem Sitz auf, stieß den Verführer von sich und rief, daß sie lieber des bittersten Todes sterben, als von ihrem geliebten Charles lassen wolle.

Da sprang Seekönig voll Ingrimm auf. Er erklärte sie seiner Gnade für unwürdig und verurteilte sie, in der finstersten Höhle, die sich auf dem Meeresgrund befinde, ihre Tage zu verjammern. Er stampfte mit dem Fuß, da waren alle Herrlichkeiten verschwunden, der Abgrund öffnete sich und Thérèse sank in die Tiefe. Sie erwachte in einer grauenerregenden Höhle, neben ihr gähnte sie ein furchtbares Meeresungeheuer an, ein Krokodil öffnete seinen Rachen, um sie zu verschlingen. Von Angst und Entsetzen übermannt, sank sie in die Knie, da trat Seekönig ein und verhöhnte sie in ihrem Schmerz, darum, weil sie ihre Treue einem Manne bewahre, der längst in den Armen einer ändern ihrer spotte. Mit strengen Worten wies sie den Verleumder von sich, der aber streckte höhnisch lachend die Hand aus, die Felsen stürzten ein und in einer Grotte von Gold- und Silbermuscheln, die von magischem Licht erhellt ward, saß Charles an der Seite eines wunderherrlichen Frauenbildes, das sich umsonst bemühte, die Gunst des Jünglings auf sich zu lenken. Kaum aber erblickten sich beide, als sie laut jauchzend sich in die Arme eilten und fest umschlungen hielten. Sie sahen nicht, was um sie vorging, darum bemerkten sie auch nicht, daß sie durch unsichtbare Kräfte von dem Grunde des Meeres hinaufgetragen wurden an das Licht. Unfern des väterlichen Hauses fanden sie sich wieder. Hier herrschte seit dem frühsten Morgen der tiefste Kummer. Angemeldet durch das Jauchzen der Nachbarn traten sie in die väterliche Wohnung und die Verlorengeglaubten wurden mit Liebe und Entzücken empfangen.

Eine freudige Bewegung erhob sich am ganzen Strand. Thérèse und Charles hatten genug zu erzählen, die anderen zu hören. Der Abend brach an, Freudenfeuer leuchteten, man sang und spielte. Da verbreitete sich plötzlich ein roter Schimmer über die Fläche des Meeres, eine Muschelgrotte stieg aus der Tiefe herauf, umgeben von Nixen und Wassergeistern, die Seekönig und seine Gattin umwogten, als sie sich zu dem liebenden Paar wandten, das durch seine Treue das Glück ihrer Liebe neu begründet hatte. Sie umarmten beide mit huldvoller Freundlichkeit und beschenkten sie mit glückbringenden Netzen. Alles Erdenglück war mit Charles und Thérèse, die ein hohes Alter erreichten und eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterließen.

Bald ist ein neues Jahrtausend verflossen, und eine neue Trennung von seiner Gattin steht Seekönig bevor. In welchem Küstenort wird er das treueste Paar finden? Ein Jahrtausend ändert viel, und weltbekannt ist der Wankelmut der jetzigen Mädchen der Provence.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849