THE MAN OF WAR - DER MANN DER KRIEGSMARINE

Fern von allen freundlichen Küsten, mitten im Ozean schwamm ein kleines Boot, worin niemand sich befand als ein alter Mann, dessen Haar sich schon weiß färbte und ein blondgelockter Knabe von höchstens zehn Jahren. In diesem Fahrzeug, das dem gewaltigen Gewässer nur in einer so ruhigen Sommernacht Trotz zu bieten vermochte, befand sich außer den beiden Menschen und den schwachen Rudern nichts als ein kleines Fäßchen mit einem geringen Vorrat an süßem Wasser und einige wenige Zwiebacke. Das Boot gehörte zu einem Schiff, das mitten im Ozean verbrannt und von dem nichts gerettet worden war als dies kleine Fahrzeug, in das sich der Schiffsherr mit seinem Enkel geflüchtet hatte, die allein dem schrecklichen Wasser- und Feuertod glücklich entgangen waren.

Zum dritten Mal ging die Sonne auf. Der alte Mann lag im wachen Traum, den Kopf auf den schmalen Bord gestützt; der Knabe saß aufrecht im Vorderteil und spähte sinnend in die Ferne. Da schwamm ein kleines, in den hellsten Farben glänzendes Ding, gestaltet wie eine aufrecht stehend Muschel, heran, und der Knabe rief laut: „Ach, das ist gar zu niedlich! Großvater, was ist das?"

Der Alte erhob sein Haupt, und kaum hatte er gesehen, wovon die Rede war, sagte er: „Das ist ein man of war. Wenn diese Seetiere sich sehen lassen, gibt es gemeinhin Sturm, und trifft uns der hier, sind wir verloren." Mit diesen Worten sank er in seinen vorigen, halb bewußtlosen Zustand zurück.

Mit dieser Erklärung begnügte sich aber der Knabe keineswegs, sondern lehnte sich über die Bordwand hinaus und streckte verlangend die Hand nach dem man of war aus. Dieser schwamm näher heran und der Knabe geriet in die lebhafteste Verzückung, denn was er jetzt sah, war doch gar zu niedlich. Das Ganze hatte die Form einer ovalen Muschel von lebhafter roter Farbe, die oft von blauen oder weißen Streifen unterbrochen wurde. Die kleinere Hälfte schmückte eine Bedachung so blendend weiß, daß es schien, sie sei aus den glänzendsten Schneeflocken des Nordpols zusammengesetzt, und wie dieser mit tausend blitzenden Sternen besät. In der Mitte erhob sich eine Stange, nicht höher als der schwankende Stengel einer Tulpe, aber glänzend wie das herrlichste gediegenste Gold. Am Hinterteil war ein Steuer sichtbar, dessen Handhabe dem Splitter eines Diamanten ähnelte, denn nichts anderes konnte solchen Glanz um sich her verbreiten. Der kleine John verschlang diese seltsame Erscheinung mit den Augen und ward nicht müde, die Hände vor Verwunderung zusammenzuschlagen. Und wie er immer angestrengter hinblickte, wollte es ihm scheinen, als stände am diamantenen Steuer ein Männlein, über die Maßen winzig, aber sehr manierlich geformt, das ihm freundlich zunickte.

Erschrocken fuhr der Knabe mit dem Kopf zurück, aber bald besiegte die Neugier seine alberne Furcht, und gleich darauf gewahrte er nicht nur das Männlein wieder, sondern er hörte auch, wie dies zu ihm sagte: „Komm herab, lieber Knabe, komm herab, ich habe dir gar Liebliches zu verkünden."

Der kleine John erschrank sehr über diese Einladung und faßte den Entschluß, ihr nicht zu folgen; aber der kleine Mann bat so freundlich, und in Johns Kopf ging alles so durcheinander, daß er das Boot verließ und mit beiden Füßen zugleich in den zierlich gebauten man of war sprang.

Man hätte denken sollen, daß dieser auf der Stelle zusammenbrechen und mit dem armen John in die Tiefe sinken müsse. Das war aber nicht so, sondern der Knabe stand zu seiner eigenen Verwunderung mitten darin und hatte noch Raum genug, um sich hin und her zu bewegen. Der Steuermann dieses etwas ungewöhnlichen Seeschiffes bewillkommnete den Knaben mit höflichen Redensarten und setzte hinzu, daß er alles aufbieten werde, ihm den Aufenthalt in seinem Schiff so angenehm wie nur möglich zu machen. Vor allen Dingen aber bäte er, ihm in die Kajüte zu folgen, denn unerhört sei es, einen so ehrenwerten Gast auf Deck unter gemeinem Pöbel zu lassen.

Jetzt erst bemerkte John, daß das ganze Deck mit kleinen Figuren besät war, die sich noch winziger darstellten wie ihr Herr. Ehe es ihm aber gelang, sie näher zu betrachten, wiederholte sein Wirt die Einladung, ihm in die Kajüte zu folgen, so dringend, daß er sogleich die Treppe hinabstieg.

Wie soll ich es aber wohl anfangen, alles zu beschreiben, was der kleine Mann hier sah? Wenn du, lieber Leser, in der Nähe der Antillen und an Bord eines man of war gewesen bist, so hast du die höchst sonderbare Einrichtung selbst gesehen. War dies aber nicht der Fall, so verrichte ich ein unnützes Werk, denn wie viele Mühe ich mir auch geben würde, dir von allem eine deutliche Vorstellung zu geben, würdest du doch alles für Lug und Trug halten. Darum schweige ich von den Wänden, aus Edelstein geschnitten und mosaikartig zusammengefügt, von den aus kostbaren Metallen verfertigten Möbeln und dem wunderlichen Licht, das sich überall verbreitete, ohne daß die Ursache seines Entstehens klar wurde.

Als nun John alles besehen, sich auf einem goldenen Sessel niedergelassen hatte und von seinem aufmerksamen Wirt mit einem leckeren Mahl bedient worden war, das in zierlichen, aus Perlen geformten Schüsseln aufgetragen wurde, nahm jener ihm gegenüber Platz und erzählte: „Ich bin ein Westindier und Mirus ist mein Name. Du mußt nur nicht glauben, daß wir wirklich solche ungehobelten Völker waren, ehe ihr uns entdecktet, wie eure Reisebeschreiber es euch erzählt haben, sondern wir hatten Bildung und waren kultiviert. Im Innern der Insel blühten unsere Städte, wir waren lebensfrohe Leute, trieben Gärtnerei und Ackerbau und vervollkommneten uns täglich in Künsten und Wissenschaften. Auch eine sehr ansehnliche Flotte führten wir, deren unglücklichen Admiral du hier vor dir siehst, und da wir zugleich eine stattliche Landarmee besaßen, fehlte uns nichts, um uns den zivilisiertesten Völkern Europas an die Seite stellen zu können. Ich sehe dich verwundert darüber, wie wir dies alles besitzen konnten, ohne mit der alten Welt jemals in Berührung gekommen zu sein, aber du wirst es leicht erklärlich finden, wenn ich dir sage, daß wir von einer guten und wohltätigen Fee beschützt wurden, die uns mit diesen Dingen genügend bekannt machte. Sie hatte uns sehr weise Gesetze gegeben und auf das strengste untersagt, uns um das zu kümmern, was außerhalb der Grenzen unseres Reiches vorging, am wenigsten aber mit unserer Flotte aus dem Gesichtskreis des Ufers zu steuern, weil daraus ein sehr großes Unglück entstehen könne.

Da wir von jeher gewohnt waren, die Befehle unserer wohltätigen Gebieterin blindlings zu befolgen, so geschah es auch dabei anfangs sehr gewissenhaft. Aber bald reizte die Neugier unseren Vorwitz. Wir versahen einige unserer Schiffe mit hinlänglichem Proviant und segelten, unsere glücklichen Inseln ganz verlassend, aufs Geratewohl ins Blaue hinein. Da uns unsere gütige Fee vor allen ändern Geschöpfen dieser Erde mit vorzüglichen Augen und noch besseren Fernrohren versehen hatte, erblickten wir bald in weiter Ferne große Schiffe, die in ihrem Bauch wohl tausend der Unseren hätten aufnehmen können. Weil aber unsere Ohren die Augen bei weitem an Schärfe übertreffen, hörten wir, wie die Leute auf jenen Schiffen schrien: ,Nun, Kapitän Columbus! Wo ist das verheißene gelobte Land? Wenn es nicht bald erscheint, müßt Ihr eines schmählichen Todes sterben.'

So riefen sie, und zu gleicher Zeit sahen wir, daß sie drohende Mienen machten, und der bedrängte Kapitän sich nur mit Mühe von ihnen befreite.

Das tat mir leid, und in der ersten Aufwallung befahl ich, alles in die See zu werfen, was wir an grünen Zweigen, Blumen und dergleichen mit uns führten, und zwar in der Absicht, daß jene Fremdlinge es auffischen und sich daran erquicken möchten, bis sie das Land selbst sähen. Als dies geschehen war, eilten wir unverzüglich heimwärts.

Aber, ihr gütigen Götter, was mußten wir erleben, als wir in unserer Heimat anlangten! Mitten über unserem Land schwebte die Fee in ihrem Wolkenwagen, die Bewohner der Ebenen und der Berge standen, an allen Gliedern zitternd, umher, und wir kamen, um das Schlimmste zu hören, was wir je vernommen hatten.

,Mit der Ankunft dieser Fremden endete meine Herrschaft über euch', sprach sie. ,Doch was ihr durch mich geworden seid, Vorteile, die ich euch verschaffte, Künste, die ich euch lehrte, sollen nicht in den Besitz dieser Korsaren gelangen, die sich das Eigentum fremder Völker aneignen und darauf Dankgebete für die glücklich gelungene Eroberung sprechen. Darum, weil ihr den abscheulichen Mirus, der all dies Unglück über euch gebracht hat, mit seiner Flotte seewärts ziehen ließet und noch dazu lachet und jubiliertet, nehme ich alles zurück, was ihr von meiner Güte jemals empfangen habt und möget ihr werden, wofür jene Ankömmlinge euch halten, nämlich ein rohes, unwissendes Volk, das sich ihrem Sklavenjoch willig beugen wird.'

Zornig schwang sie ihren Stab, da versanken die Städte, die Dörfer verschwanden. Unsere Kirchen stürzten ein, unsere Museen und Schauspielhäuser traf der Blitz, und Künste und Wissenschaften feierten ihr eigenes Leichenbegräbnis. Die gesamte Bevölkerung sank in die Erde mit trostlosem Wimmern, bis diese sich über ihren Häuptern schloß und das ganze Land einer ausgestorbenen Wüste glich.

Wer aber beschreibt unser Erstaunen, als plötzlich ein schwarzbraunes Riesenvolk aus den Wäldern hervorbrach und mit lautem Geheul zum Strand eilte, um die Europäer zu begaffen, deren ungeheure Schiffe sich mit reißender Schnelligkeit unseren Gestaden näherten. - Da trat die Fee zu uns an das Ufer mit zornfunkelnden Augen, und du kannst wohl denken, daß uns allen das Herz hörbar klopfte, als sie ihren keineswegs angenehmen Sermon5 mit folgenden Worten schloß: ,Weil euch denn so sehr gelüstet nach der Unendlichkeit des Ozeans, so schwimmt auf seinem Spiegel umher euer Leben lang, aber nicht als glückliche Sieger und Beherrscher der Flut, sondern gejagt und verscheucht von jedem ärmlichen Fischlein, verfolgt von dem Kiel jener Riesenhäuser, die ihr mit euren Blumen und Zweigen hierher locktet, zerdrückt von den Händen mutwilliger Buben. Und für alle diese Schmach bleibe euch keine Freude, als zuweilen verirrte Schiffbrüchige auf den rechten Weg zu leiten. Diese aber müssen euch die vollbrachte Rettung mit Hohn und Undank lohnen.'

Als sie dies im höchsten Zorn gesprochen hatte, schwang sie ihren Stab über uns und verschwand. Unsere Schiffe schrumpften zu der winzigen Gestalt zusammen, wie du jetzt eines vor dir siehst. Zugleich erhob sich ein furchtbarer Sturm, der uns auf die offene See hinausführte, wo wir gleich den Schmerz hatten, daß die Europäer einen der Unseren auffischten, als seltenes Seegewächs.

Viele Male hat es sich begeben, daß wir Schiffbrüchige vor dem Untergang retteten, aber immer sind wir mit Undank belohnt worden, was um so schmerzhafter ist, als wir wissen, daß ein dankbares Gemüt durch Anerkennung dessen, was wir für ihn getan, uns aus dieser schmählichen Knechtschaft befreien und uns zur alten Freiheit zurückführen wird."

So beendete der unglückliche Mirus seine Erzählung, und der kleine John fühlte sich tief ergriffen. Er stand alsobald auf und gelobte, wenn Mirus es wagen wolle, ihn und den Großvater wohlbehalten ans Land zu bringen, ihn durch seine Dankbarkeit gewiß von der Knechtschaft der erzürnten Fee zu befreien.

Der Admiral gab ihm gerührt die Hand: „Ich glaube dir. Wenn es Abend wird, werde ich meine Kabel um Euren Bug schlingen. Jetzt aber verlasse mein Schiff, denn dein Großvater könnte erwachen, und ich traue seiner Dankbarkeit nicht so wie der deinen."

Sogleich verließ der kleine John den man of war und kaum hatte er in seinem Boot wieder Platz genommen, als der Alte wirklich erwachte.

Nun hatte John es freilich dem unglücklichen und würdigen Admiral beim Abschied versprechen müssen, zu schweigen; Kinderherzen wallen jedoch leicht über und er konnte nicht umhin, dem Großvater zu erzählen, was ihm begegnet sei. Dieser aber hörte das nach seiner Meinung höchst dumme Geschwätz nicht zur Hälfte an und sagte sehr böse: „Das fehlte mir noch, in unserer unglücklichen Lage auf solche albernen Träume zu achten; behalte sie für dich!"

Nun schwieg John still, verzehrte mit dem Großvater den Rest des Zwiebacks und des Wassers, hörte, wie der alte Mann bei dem Untergang der Sonne sagte: „Wenn wir morgen in der Frühe kein Land sehen, ist es das beste, wir springen beide über Bord!" - worauf der Alte wieder einschlief. Kaum war dies geschehen, als John deutlich vernahm, wie die flinken Matrosen des Admirals Mirus die Kabel befestigten und das Boot mit sich fortschleppten. Er hörte es mit innigem Vergnügen, bis auch er endlich von den mancherlei Anstrengungen ergriffen einschlummerte. Am ändern Morgen erwachten Großvater und Enkel zu gleicher Zeit und erblickten eine wunderbar schöne, mit hellem Grün bedeckte Küste vor sich. John wollte dem Alten abermals erklären, wer sie hierher gebracht hatte, jener aber fuhr ihn zornig an und sprach: „Schweig von deinen dummen Träumen und danke vielmehr Gott auf deinen Knien, daß er uns so gnädig gerettet hat!" Das tat John freilich, aber er dachte doch insgeheim an seinen Freund Mirus.

Bald erreichten sie das Ufer. Sie kamen unter Menschen und es gab vieles zu hören und zu sehen. Die überstandene Not war verschmerzt und die wunderbare Rettung vergessen. Eines Abends stand John am Ufer. Ein man of war schwamm heran und ließ sich von den Wellen bis in die Nähe des Ufers tragen. John blickte ihn an, aber indem er das seltsame Farbenspiel wiederholt betrachtete, sprach er lächelnd, indem er sich landeinwärts wandte: „Der Großvater hat recht, was man doch für seltsames Zeug träumen kann."

Lautlos schwamm die Muschel auf das Meer hinaus.


Quelle: Heinrich Smidt, Seemanns-Sagen und Schiffer-Märchen, zweite vollständige Ausgabe 1849