Die Geschichte von den drei Brüdern

Vor langer Zeit lebten drei Brüder. Zwei von ihnen waren erwachsen, der dritte war aber noch jung; er hieß Qaudjaqdjug. Die älteren Brüder hatten ihre Heimat verlassen und zogen jahrelang herum, indes der Jüngste mit seiner Mutter in seinem Geburtsort lebte. Da er keinen Vater mehr hatte, wurde der arme Junge von allen Männern des Dorfes mißhandelt und niemand war da, ihn zu beschützen.

Schließlich hatten die älteren Brüder es satt herumzustreifen und kehrten heim; als sie hörten, daß der Knabe von allen Inuits schlecht behandelt worden sei, wurden sie ärgerlich und sannen auf Rache. Zuerst taten sie so als sähen sie nichts, bauten aber ein Boot, in welchem sie entfliehen wollten, sobald sie ihre Pläne ausgeführt hatten. Sie waren geschickte Bootsbauer und vollendeten ihr Werk sehr bald. Als sie das Boot ausprobten, glitt es so rasch wie eine Eiderente fliegt übers Wasser. Sie waren aber noch nicht zufrieden mit ihrem Werk, zerstörten es wieder und bauten ein neues Boot; das war bei der Probe so schnell, wie eine Eisente. Immer noch waren sie unzufrieden, zerstörten auch dieses Boot und bauten ein drittes und das war gut. Nachdem sie das Boot fertiggestellt hatten, lebten sie friedlich mit den anderen Männern. Im Dorf war ein großes Festhaus, das zu allen Festen benutzt wurde. Eines Tages gingen die drei Burschen hin, schlossen es auf, und fingen an drin zu tanzen und zu singen, bis sie erschöpft waren. Da keine Sitzbank in dem Haus war, baten sie ihre Mutter, eine zu bringen und als sie die Türe öffneten, um sie hereinzulassen, entschlüpfte ein Hermelin, der im Haus versteckt gewesen war.

In der Nähe des Festhauses spielten die anderen Inuit des Dorfes. Als sie den Hermelin sahen, der mitten durchs Gedränge lief, bemühten sie sich, ihn zu fangen. Im Eifer der Verfolgung stolperte ein Mann, der das kleine Tier schon fast gefangen hatte, so unglücklich über einen Kieselstein, daß er augenblicklich tot war. Der Hermelin war, besonders ums Maul herum, ganz mit Blut bespritzt; bei der Verwirrung, die nun ausbrach, entwischte er ins Festhaus, wo er sich in seiner früheren Ecke versteckte.

Drinnen hatten die Brüder wieder angefangen zu singen und zu tanzen. Als sie erschöpft waren, riefen sie nach ihrer Mutter, sie sollte etwas zum Essen bringen. Wie sie nun die Tür öffnete, entwischte der Hermelin wieder und rannte zwischen den Inuit, die noch immer draußen spielten, herum.

Als sie ihn bemerkten, glaubten sie jetzt, die Brüder wollten sie dadurch veranlassen, ihn zu verfolgen, um so nacheinander umzukommen. Der ganze Haufen stürmte daher das Festhaus, mit der Absicht die Brüder zu töten. Da die Tür geschlossen war, krochen sie aufs Dach und rissen es auf, aber als sie ihre Speere nahmen, um die drei Männer zu durchbohren, öffneten die die Tür und liefen hinunter an den Strand. Ihr Boot war ganz in der Nähe und zur Abfahrt bereit, während die der anderen Inuit ziemlich weit weg lagen.

Sie schifften sich mit ihrer Mutter ein und als sie ein wenig draußen waren und sahen, daß die anderen Männer ihre Boote noch nicht erreicht hatten, bildeten sie sich ein, daß die nie imstande wären, sie einzuholen, selbst wenn sie mit äußerster Anstrengung ruderten. Sie spielten also nur mit den Rudern am Wasser. Einige junge Frauen und Mädchen waren am Strand und sahen auf die Männer, die sich mit äußerster Kraft anzustrengen schienen. Der älteste Bruder rief den Weibern zu: "Wollt ihr uns helfen? Wir können allein nicht weiter kommen." Zwei Mädchen sagten zu, aber sowie sie ins Boot gekommen waren, fingen die Brüder an so hart zu rudern, als sie nur konnten. Das Boot flog dahin, schneller als eine Ente und die Mädchen schrien vor Angst. Die anderen Inuits beeilten sich, begierig, die Flüchtigen einzuholen und bald waren ihre Boote bemannt.

Die Brüder hatten nicht die mindeste Angst, da ihr Boot ja das bei weitem schnellste war. Als die Verfolger fast außer Sehweite gekommen waren, wurden sie plötzlich von einem hohen, steilen Landrücken aufgehalten, der sich vor dem Boot erhob und ihren Weg versperrte. Sie wurden ganz verwirrt, denn sie mußten ein langes Stück zurück und fürchteten, von den anderen Booten überholt zu werden. Einer der Brüder aber war ein großer Zauberer und rettete sie durch seine Kunst. Er befahl ihnen:

"Macht eure Augen zu und öffnet sie nicht, bevor ich es euch erlaube; dann rudert los!" Sie taten wie er befohlen und als er sie wieder aufschauen hieß, sahen sie, daß sie mitten durchs Land gefahren waren, das sich nun hinter ihnen genau so hoch und furchtbar erhob, wie es ihnen vorhin den Weg versperrt hatte. Es hatte sich geöffnet und sie waren durchgefahren.

Nachdem sie einige Zeit weiter gerudert, sahen sie einen langen schwarzen Strich im Meer. Als sie näher kamen, erkannten sie, daß es eine undurchdringliche Masse von Seegras war; sie war so fest, daß sie aus dem Boot steigen und darauf stehen konnten. Es war ausgeschlossen das Boot durchzubringen, obwohl es schneller als eine Ente war. Der älteste Bruder erinnerte sich aber seiner Zauberkunst und sagte zu seiner Mutter: "Nimm deine Haarenden und peitsche das Seegras." Kaum tat sie so, da versank es auch und gab den Weg frei.

Nachdem sie über dieses Hindernis hinaus waren, wurden sie nicht mehr aufgehalten und vollendeten ihre Reise in Sicherheit. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, gingen sie an Land und errichteten eine Hütte. Die beiden Frauen, die sie ihren Feinden entführt hatten, gaben die Brüder Qaudjaqdjug.

Sie wollten ihn nun ebenso stark machen, wie sie selbst waren. Dazu führten sie ihn zu einem ungeheuren Stein und sagten: "Versuch' diesen Stein zu heben!" Da Qaudjaqdjug das nicht konnte, schlugen sie ihn und sagten: "Versuch' es noch einmal!" Diesmal konnte ihn Qaudjaqdjug ein wenig von der Stelle rücken. Die Brüder waren noch nicht zufrieden und schlugen ihn nochmals. Von den letzten Schlägen wurde er sehr stark, hob den Stein auf und warf ihn über die Hütte.

Die Brüder gaben ihm dann die Rute und sagten ihm, er solle damit die Frauen schlagen, wenn sie ihm ungehorsam wären.

Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 25, S. 90.
aus: F. Boas: Central Eskimo (Annual Report of American Ethnology, Vol VI. Washington 1888).