Der Rabe und das Murmeltier

Einst flog der Rabe in der Nähe der Küste über ein Felsenriff; einige Seevögel, die auf dem Felsen saßen, sahen ihn und verspotteten ihn mit den Worten: "Oh, du Abfallfresser! Oh, du Aasfresser! Du Schwarzer!" bis der Rabe sich umwandte und im Wegfliegen rief: "Gnak, Gnak, Gnak! Warum verspotten mich die?" Und dann flog er weit weg übers Wasser, bis er drüben zu einem Berg kam, wo er blieb.

Fressendes Murmeltier
Fressendes Murmeltier
Bildarchiv SAGEN.at, Nr. 23360

Er blickte sich um und bemerkte gerade vor sich die Höhle eines Murmeltiers. Der Rabe blieb vor der Höhle auf der Lauer stehen und bald kam das Murmeltier mit etwas Nahrung zurück. Da es den Raben gerade vor seiner Tür stehen sah, forderte es ihn auf, Platz zu machen; der Rabe wollte aber nicht und sagte: "Man schimpft mich Aasfresser und ich werde beweisen, daß ich das nicht bin und jetzt dich fressen." Darauf antwortete das Murmeltier: "Gut; ich habe aber gehört, daß du ein sehr guter Tänzer seist; tanze jetzt, wenn du willst, ich werde dazu singen und dann magst du mich verspeisen. Bevor ich aber sterbe, will ich dich tanzen sehen." Das gefiel dem Raben so sehr, daß er einwilligte zu tanzen und das Murmeltier sang also: "O Rabe, Rabe, Rabe, wie gut du tanzt! O Rabe, Rabe, Rabe, wie gut du tanzt!" Dann hörten sie auf, um auszuruhen und das Murmeltier sagte: "Dein Tanz gefällt mir so gut, ich will noch eins singen, du mach aber deine Augen zu und tanze deinen besten Tanz." Der Rabe schloß seine Augen und hüpfte ungeschickt herum, während das Murmeltier sang: "O Rabe, Rabe, Rabe, was für ein reizender Tänzer bist du! O Rabe, Rabe, Rabe, was für ein reizender Tänzer bist du!" Dann huschte das Murmeltier rasch zwischen den Beinen des Raben durch und war in seiner Höhle geborgen. Sowie das Murmeltier aber in Sicherheit war, steckte es die Nasenspitze heraus und sagte spöttisch lachend: "Chi-kik-kik, Chi-kik-kik, Chi-kik-kik: du bist doch der größte Dummkopf, den ich je gesehen habe; was du für eine komische Figur beim tanzen machst; ich konnte mich kaum halten vor Lachen; schau mich nur an, schau, wie fett ich bin! Möchtest du mich nicht gern auffressen?" und es hänselte den Raben so lang, bis er aus lauter Wut weit wegflog.

Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 39, S. 152.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.