Der Rabe nimmt ein Weib (Geschichten vom Raben Tu-lu-kau-guk II.)

Lange Zeit lebte der Rabe allein, aber schließlich hatte er doch genug davon und beschloß ein Weib zu nehmen. Er sah sich also um und bemerkte, daß es schon spät im Herbst war und die Vögel schon in großen Scharen südwärts zogen. Der Rabe flog weg und hielt an auf dem Weg, den die Gänse und anderes Wildgeflügel auf ihrem Zug nach dem Sommers land eingeschlagen hatten. Er beugte sein Gesicht, sah auf die Füße herab und rief aus: "Wer will mich zum Gatten? Ich bin ein schöner Mann!" Ohne ihn zu beachten, flogen die Gänse weiter und der Rabe sah ihnen nach und seufzte. Bald danach flog eine schwarze Brandgans vorbei und der Rabe rief wie vorhin - und mit dem gleichen Erfolg. Er blickte ihr nach und rief: "Ah, was sind das für Leute! Die warten nicht einmal, um mir zuzuhören." Er wartete weiter und eine Ente flog in der Nähe vorbei; als der Rabe sie anrief, sah sie sich ein wenig nach ihm um, flog dann aber weiter. Einen Augenblick schlug sein Herz voll Hoffnung etwas rascher, aber als auch die Ente vorbei war, rief er: "Ah, dann werde also ich näher kommen; vielleicht, daß das nützt." Er blieb gesenkten Hauptes stehen und wartete weiter.

Bald daraufkam eine ganze Schneegänsefamilie, die Eltern, vier Brüder und eine Schwester, und der Rabe rief hinauf: "Wer will mich zum Gatten? Ich bin ein guter Jäger, jung und geschickt." Als er das gesagt, ließen sich die Schneegänse knapp neben ihm herab und er dachte sich: "Jetzt werde ich eine Frau bekommen!" Nun sah er sich um und bemerkte einen schönen, weißen durchlochten Stein. Er hob ihn auf, band ihn an einen Grashalm und hängte ihn um den Hals. Nachdem er das getan, schob er den Schnabel hoch, wie eine Maske, daß er auf den Scheitel des Kopfes rutschte und verwandelte sich so in einen schwarzen jungen Mann, und schritt auf die Gänse zu. Zugleich hatten auch die Gänse ihre Schnäbel hinaufgeschoben und waren in gut aussehende Leute verwandelt worden. Dem Raben gefiel der Blick des Mädchens sehr und er ging auf sie zu, gab ihr den Stein und erwählte sie so zu seiner Frau und sie hängte ihn sich um den Hals. Dann schoben alle ihre Schnäbel herunter, wurden wieder Vögel und flogen nach Süden weiter.

Die Gänse schlugen langsam ihre Flügel und arbeiteten sich gemächlich weiter. Der Rabe aber glitt mit seinen weitausgebreiteten Schwingen schneller als seine Gefährten dahin und die Gänse sahen ihm nach und riefen voll Bewunderung: "Wie leicht und anmutig ist er doch!" Mit der Zeit wurde der Rabe müde und sagte: "Es wäre besser, wir machten zeitlich halt und sähen uns nach einem Schlafplatz um." Die anderen waren damit einverstanden und so machten sie halt und schliefen bald ein.

Am nächsten Morgen waren die Gänse schon früh in Bewegung und wollten aufbrechen, aber der Rabe schlief noch so fest, daß sie ihn aufwecken mußten. Der Gänsevater drängte: "Wir müssen uns beeilen, denn es wird bald schnein. Halten wir uns nicht auf!" Sowie der Rabe erwacht war, drängte er darauf fortzukommen und wie am Tag vorher führte er die anderen und wurde von seinen jungen Kameraden sehr bewundert. Er zog bald über, bald vor seinen Genossen dahin; diese machten anerkennende Bemerkungen, wie: "Ah, sieh, wie leicht und gewandt er ist!" So zog die Schar dahin, bis sie eines Abends an der Meeresküste halt machten; hier taten sie sich an Beeren gütlich, die in Menge herumwuchsen und legten sich dann schlafen.

Am nächsten Morgen schickten sich die Gänse in aller Frühe an, ohne Frühstücksrast, weiterzuziehen. Der Magen des Raben aber schrie nach den guten Beeren, die so zahlreich vorhanden waren, aber die Gänse wollten nicht warten und er wagte es daher nicht, sich dem Aufbruch zu widersetzen. Als sie die Küste verließen, sagte der Gänsevater, daß sie unterwegs nur einmal rasten würden und der nächste Weg werde sie dann an die andere Küste bringen. Dem Raben schien es sehr zweifelhaft, ob er imstande sein werde, die andere Küste zu erreichen, aber er schämte sich das einzugestehen und beschloß, den Versuch zu wagen. So flogen sie alle auf. Die Gänse flogen standhaft darauf los; nach einiger Zeit aber begann der Rabe zurückzubleiben; seine Flügel schmerzten ihn, während die Gänse gemächlich und noch unermüdet weiterflogen. Mühsam flog der Rabe weiter, glitt dann wieder eine Zeitlang mit ausgebreiteten Schwingen, um die müden Flügel auszuruhen, aber vergebens: er blieb immer mehr zurück. Schließlich sahen sich die Gänse um und der Gänsevater sagte: "Ich dachte, er wäre geübt und kräftig, aber er muß doch müd geworden sein; warten wir auf ihn." Dann ließen sich die Gänse ganz nah nebeneinander aufs Wasser nieder und der Rabe, der mühsam herankam, sank auf ihren Rücken herab und schnappte nach Luft. Bald hatte er sich etwas erholt und sagte, indem er dabei die Hand auf die Brust legte: "Ich habe hier eine Pfeilspitze von einem alten Kampf her und die plagt mich sehr. Das ist der Grund, warum ich zurück blieb."

Nachdem sie gerastet hatten, zogen sie weiter, aber die anderen mußten bald wieder auf den Raben warten und er wiederholte wieder die Geschichte von der Pfeilspitze, von der er behauptete, sie hätte sein Herz durchbohrt. Dann nahm er die Hand seiner Frau und legte sie auf seine Brust, damit sie fühle, wie es springe. Sie tat so, konnte aber nur spüren, daß sein Herz wie ein Steinhammer klopfte, aber nicht die mindeste Spur von einer Pfeilspitze; sie sagte aber trotzdem nichts. Sie zogen also weiter und mußten bald wieder auf den Raben warten. Jetzt fingen aber die Brüder schon an über ihn zu sprechen und sagten sich: "Ich glaub an diese Geschichte mit der Pfeilspitze nicht; wie kann er denn mit einer Pfeilspitze im Herz leben?"

Als sie rasteten, sahen sie vor sich in der Ferne die Küste. Der Gänsevater eröffnete nun dem Raben, daß sie, bevor das Land erreicht sei, nicht mehr auf ihn warten würden. Dann erhoben sich alle und flogen los. Der Rabe bewegte seine Flügel nur langsam und selbst das fiel ihm schon schwer. Ausdauernd flogen die Gänse der Küste zu, während der Rabe tiefer und tiefer sank und dem gefürchteten Wasser näher und näher kam. Als er hart an die Wellen kam, rief er nach seiner Frau: "Gib mir den weißen Stein! Gib ihn mir zurück!" Der war nämlich zauberkräftig. So schrie er bis seine Flügel sanken und fiel hilflos ins Wasser als die Gänse gerade das Land erreichten. Er versuchte sich vom Wasser zu erheben, aber sein Gewicht zog ihm die Flügel herunter und er trieb der Küste entlang, vor und zurück. Die Wellen wurden stärker und bald begannen die weißen Kämme über ihn zu gehen; er sank unter und konnte nur mit äußerster Anstrengung seinen Schnabel über die Oberfläche herausstrecken, um zwischen den Wellen nach Luft zu schnappen. Endlich schwemmte ihn eine große Welle ans Land. Als sie dann zurückflutete, grub er seine Krallen in die Strandkiesel und rettete sich nur mit schwerer Mühe davor, wieder ins Meer gespült zu werden. Sobald er konnte, kämpfte er sich an den Strand hinauf - ein übelzugerichteter Patron. Das Wasser lief in Strömen von seinen durchweichten Federn und die Flügel hingen zu Boden. Mehrmals viel er um, bevor er endlich mit weitaufgesperrtem Mund einige Sträucher erreichte, wo er die Maske und sein Rabenkleid ablegte und ein kleiner, dunkler Mann wurde. Dann hob er Gewand und Maske auf, hängte sie an einen Strauch und machte sich aus einigen Holzstücken einen Feuerbohrer; bald hatte er ein Feuer entfacht und trocknete sich davor.

Quelle: Eskimomärchen, übersetzt von Paul Sock, Berlin o. J. [1921], Nr. 37, S. 140.
aus: E. W. Nelson: The Eskimo about Beringstrait (Annual Report of American Ethnology, Vol XVIII/1, Washington 1896/97.